Cover
Titel
Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Becker, Peter
Reihe
1800–2000. Kulturgeschichten der Moderne 1
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Céline Angehrn, Departement Geschichte, Universität Basel

Eine Klientin erhebt ihre Hand in abwehrender Geste. Sie will offenkundig nichts wissen vom Formular, das der vor ihr sitzende Beamte aufmerksam studiert. Peter Becker führt mit einer Analyse der Darstellung, die im Kontext des Erlasses des Speisekammergesetzes im Jahr 1948 entstand, in seinen Sammelband ein. Das Foto eignet sich hervorragend, um zu illustrieren, was sich das vorliegende Buch zum Gegenstand macht. Sein Thema sind zum einen die Gestaltung und die Rahmung von Kommunikation in der Verwaltung durch den normativen und architektonischen Raum (Gesetze und Verordnungen bzw. Verwaltungsarchitektur und Schaltersituation), durch soziale und kulturelle Kontexte sowie durch Technologien wie das Formular und die Büroausstattung. Zum andern stellt der Band die konkreten historischen Kommunikationssituationen mit ihren Praxisformen innerhalb und in Auseinandersetzung mit diesen Settings ins Zentrum.

Mit diesem pointiert kulturgeschichtlichen bzw. kommunikationsgeschichtlichen Fokus setzen der Herausgeber und die Autoren und Autorinnen einen bewussten Kontrapunkt in der Forschungslandschaft der Verwaltungsgeschichte. In Anlehnung an Ethnomethodologie und Mikrosoziologie lenken sie die Aufmerksamkeit auf die in der historischen Forschung bislang wenig beachteten praxeologischen Aspekte der Verwaltungstätigkeit, ohne dabei die Wirkungsmacht der „hard facts“ wie der rechtlichen Rahmensetzung, des politischen Kontexts oder der asymmetrischen Machtverteilung zwischen den Aushandlungspartnern aus dem Blick zu verlieren. Ein derart geöffnetes Spektrum verspricht nicht nur eine differenzierte Analyse der Genese und Ausgestaltung von Bürokratie, Staatsbildung und Herrschaft durch und in der Form von sozialen Praxen, sondern macht auch die zum Teil „widerständige Eigenlogik eingeübter Verfahren“ (S. 18) sichtbar.

Die Beiträge sind in die drei einander überschneidenden und ergänzenden Themenfelder „Strukturierung von Kommunikationsräumen“, „Begegnungs- und Kommunikationsraum Verwaltung“ und „Kommunikationstechnologien“ unterteilt. Die unscharfe Trennlinie zwischen den Kapiteln spiegelt sich in der insgesamt hohen Disparität der Beiträge. Es gelingt den Einzelstudien unterschiedlich gut, über die mikrohistorische Konkretisierung thesenartige Aussagen zum spezifischen Feld oder gar über das Einzelfeld hinausgehende theoretische Reflexionen zu präsentieren. Aus dem ersten Teil ist in dieser Hinsicht der Beitrag von Veronika Duma hervorzuheben, der diesen Anspruch anschaulich einzulösen vermag. Sie zeichnet die kleinteilig Top-down geplante Kommunikationsstrategie zur Einführung des neuen Gemeindegesetzes in Österreich 1849 nach. Diese kalkulierte eine Partizipation von Vertretern auf lokaler Ebene und Informationsmultiplikatoren (mündliche Informanten, Presse) ein und berücksichtigte angenommene Stadt-Land-Differenzen bereits in der Kommunikationsplanung. Einen anderen Akzent setzen Mario Wimmer und Klaus Margreiter mit ihren Beiträgen, die in zwei unterschiedlichen Feldern die Debatten von Personen- bzw. Expertenkreisen über die Gestaltung ihrer Fachsprache untersuchen, wie sie für Professionalisierungsprozesse charakteristisch sind. Während Wimmer für die Berufssprache der deutschen Archivare zwischen 1929 und 1934 die Formel der „kalten Sprache des Lebendigen“ findet, beschreibt Margreiter die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts währende Thematisierung und Problematisierung der Verwaltungssprache vor dem Hintergrund sich wandelnder praxeologischer, sozialer und kultureller Kontexte. Florian Schui wiederum unternimmt den Versuch, den Begriff des Steuerstaats unter Bezugnahme auf die seine Entstehung begleitenden Auseinandersetzungen zu historisieren und zu kontextualisieren. Erst auf der Basis des im Begriff eingeschlossenen problematischen Verhältnisses zwischen Steuern, Demokratie und Kapitalismus könne eine Analyse der historischen Kommunikationsformen im Steueramt fruchtbar gemacht werden, folgert Schui.

Der zweite Teil führt vier Texte unter der Überschrift „Begegnungs- und Kommunikationsraum Verwaltung“ zusammen. Barbara Lüthi schildert Beschaffenheit und Abläufe des symbolisch und emotional hoch aufgeladenen „Kommunikationsraums Ellis Island“ mit seinen spezifischen kommunikativen und medizinischen Praktiken, Einrichtungen und Technologien. In einem äußerst gelungenen Beitrag analysiert der Sozialwissenschaftler Robert Garot die Daten, die er während eines mehrmonatigen Forschungsaufenthalts als teilnehmender Beobachter im Amt eines sozialpolitischen Wohnungsprogramms in den USA gewann. Er schafft es, bei anhaltend großer Nähe zu Fallbeispielen und Akteuren theoretische Reflexionen zur Anwendung von amtlichen Regeln auf einer allgemeinen Ebene zu formulieren. Garot plädiert dafür, Regeln in Ämtern nicht als Gebote, sondern als Ressourcen zu verstehen, um deren Ausgestaltung stets gerungen wird und deren konkrete Anwendung es zu untersuchen gilt. Andreas Fahrmeir nimmt in vergleichender Perspektive die Schreiben von Gesuchstellern gegenüber hohen Beamten im 19. Jahrhundert in den deutschen Staaten und in England unter die Lupe. Während sich die deutschen Akten durch einen formellen und stark formalisierten Schreibstil auszeichnen, lassen sich in den Schriften aus England Adressierungen an Personen (nicht Behörden) ausmachen. Diese Unterschiede verweisen zwar auf verschiedene Stile der Bürokratie, erlauben aber keine Rückschlüsse darauf, in welchem System es für die „kleinen Leute“ einfacher gewesen sei, ihre Anliegen vorzubringen und durchzusetzen, folgert der Autor. Der Herausgeber Peter Becker schließt den zweiten Teil mit seinem Beitrag zu den Reformen der Verwaltungssprache im Zeitraum zwischen 1750 und 2000 ab. Er zeichnet nicht nur die sich wandelnden Maximen der als angemessen geltenden Verwaltungssprache nach, sondern schickt auch einige allgemeine Überlegungen voraus. So formuliert Becker ein soziologisches Interesse an der Analyse von Sprechakten durch Ämter und Behörden und schlägt dabei drei Untersuchungsachsen vor: erstens eine sprachpragmatische Perspektive (Aushandlungen zwischen ungleichen Aktanten), zweitens eine organisationssoziologische Sichtweise und drittens eine historische Analyse der Position der Verwaltung zwischen Politik und Gesellschaft mithilfe der neuen Netzwerktheorie.

Im letzten Teil zu den „Kommunikationstechnologien“ stehen Hilfsmittel, Medien, Verfahren und Rahmenbedingungen im Zentrum, welche Kommunikationsprozesse in Verwaltungen formen und erleichtern oder in einer bestimmten Gestalt überhaupt erst ermöglichen. Stefan Nellen untersucht so die Funktion von Schreibmaschinen und von Maschinenschrift in der Basler Verwaltung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die das Verwaltungsschriftgut einerseits diversifizierte und damit zugleich das System der Bürokratie umgestaltete. Patrick Joyce beschreibt in seinem Beitrag mit dem Titel „Die Archivierung Indiens“, wie die Aktenführung des britischen Kolonialstaats – die „papiernen Welten“ (S. 302) – als eigenständiger Faktor zur Stabilisierung der kolonialen Herrschaft beitrug. Peter Collin lenkt die Aufmerksamkeit auf das Verwaltungsinnere und erkundet die Organisation der binnenadministrativen Kommunikation der sich ausdifferenzierenden preußischen Verwaltung im 19. Jahrhundert. Dabei arbeitet er die drei zentralen Kommunikationsfunktionen der Kontrolle, der Herstellung von Übereinkunft und Abmilderung von Interessengegensätzen sowie diejenige der Amtshilfeverpflichtungen heraus. Als besonders überzeugend sticht in diesem dritten Teil der Text von Thomas Buchner heraus, in welchem er die sich zwischen 1890 und 1933 etablierenden Arbeitsämter in Deutschland als „Orte der Produktion von Arbeitsmarkt“ beschreibt. In Analogie zu Waren- und Finanzmarkträumen (Börse, Gesindemarkt) trugen die Arbeitsämter dazu bei, den von ihnen verwalteten Gegenstand, nämlich die „Denkfigur“ (S. 307) des Arbeitsmarkts, nicht nur zu ordnen, sondern zu realisieren. Buchner macht deutlich, wie sehr gerade die architektonische Raumgestaltung mit Wartesaal und separierten Eingängen für Arbeitssuchende und Arbeitgeber, Frauen und Männer, Gelernte und Ungelernte gemeinsam mit den zunehmend verfeinerten und standardisierten Erfassungstechnologien zur Schaffung von eigentlichem Arbeitsmarktwissen beitrug.

Neben einem bunten Kaleidoskop an Einzelstudien bietet der vorliegende Sammelband einen Forschungsüberblick für alle, die sich für die Verwaltungsgeschichtsschreibung und insbesondere für Fragen der Kommunikationsgeschichte in der Verwaltung interessieren. Die umfassenden Ausführungen der Einleitung von Peter Becker, die weit über eine Kurzdarstellung der Sammelbandbeiträge hinausgehen, leisten eine solche Zusammenschau. Die Verwaltung entfaltet ihre Wirkung durch Kommunikation, in der Gestalt von Umsetzung und Durchsetzung gesetzlicher Vorgaben oder politischer Entscheide ebenso wie in Form von Vermittlungs- und Aushandlungsleistungen mit verschiedenen Akteuren. Dass unter einer kulturhistorischen Perspektive ein Fokus auf Prozesse und Bedingungen von Kommunikation gewählt wurde, ist daher konsequent und in den Beiträgen zum größten Teil in überzeugender Weise umgesetzt.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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