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Titel
Verhandelte Demokratisierung. Die Runden Tische der Bezirke 1989/90 in der DDR


Autor(en)
Weil, Francesca
Reihe
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung: Berichte und Studien 60
Erschienen
Göttingen 2011: V&R unipress
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 20,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Ulrich Weiß, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Als überregionale Erscheinung sind die Runden Tische fester Bestandteil der Geschichte der Friedlichen Revolution von 1989/90. Vielen Beobachtern und Analysten gelten sie als „Schulen der Demokratie“ in einer radikalen Umbruchzeit. Während zu den Vorgängen am Zentralen Runden Tisch in Ost-Berlin sowie zur Arbeit einzelner lokaler Tische bereits mehrere Studien vorliegen, wurde dieses Phänomen in landesweit vergleichender Perspektive bislang kaum systematisch untersucht. Mit der vorliegenden Gesamtdarstellung zu den 15 Runden Tischen der Bezirke wird die Lücke von der Historikerin Francesca Weil nun erstmals geschlossen. Sie untersucht die Monate Dezember 1989 bis Juli 1990 und damit eine Sitzungsperiode, die, je nach Bezirk, zwischen neun und 20 Zusammenkünften umfasste. Um der Gefahr einer trockenen Gremiengeschichte zu entgehen – viele Sitzungsprotokolle deuten Konflikte und Auseinandersetzungen innerhalb der Entscheidungsprozesse nur an –, greift Weil zusätzlich auf 37 Zeitzeugeninterviews zurück. Sie bilden neben den Sitzungsakten das Quellengerüst der Studie. Presseartikel oder Beiträge und Kommentare aus oppositionellen Informationsblättern wurden dagegen kaum in die Analyse einbezogen.

Bevor die Verfasserin auf die Verhältnisse in der DDR eingeht, unternimmt sie einen Rekurs auf die historischen Wurzeln der Runden Tische und ihre Verbreitung im zusammenbrechenden Ostblock. Dabei wird einmal mehr deutlich, dass sie ein transnationales Phänomen des Systemwechsels darstellen. Dennoch gab es in keinem anderen Land derart viele Tische zwischen Zentral- und Lokalebene wie in der DDR. Die Bildung des Zentralen Runden Tisches, dem Weil ein eigenes Kapitel widmet, gab zweifellos die Initialzündung für die landesweite Gründungswelle. Als gleichermaßen Ergebnis wie Katalysator der Veränderungen trug er zum gewaltlosen Zusammenbruch der Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) auf zentraler Ebene bei (S. 55). Die Bewertungen des Zentralen Runden Tisches schwanken im Nachhinein zwischen „Kaffeekränzchen“ und „machtlosem Forum“ auf der einen Seite und „Stabilitätsfaktor in der Umbruchphase“ bzw. „Ausdruck zivilgesellschaftlicher Pluralität“ andererseits. Diese Zuschreibungen gleichen den Einschätzungen der lokalen Runden Tische.

Das vierte Kapitel zu den Runden Tischen der Bezirke bildet den Hauptteil der komparatistisch angelegten Untersuchung. Der Vergleich wird anhand folgender Aspekte und Problemstellungen gezogen: Gründung und Initiatoren, Zusammensetzung und Legitimierung, Strukturen und Arbeitsweisen, inhaltliche Schwerpunkte, das Verhältnis zu den staatlichen Entscheidungsinstanzen des Bezirkes sowie das Ende der Runden Tische. Aufschlussreich ist der einleitende Abriss zu den Bezirksinstitutionen bzw. zur Politik von Hans Modrow und Lothar de Maizière gegenüber den Bezirksräten und -tagen sowie deren Umgang mit den Runden Tischen (S. 67ff.). Einmal mehr wird deutlich, dass die unerwartete politische Partizipation der neuen Kräfte – in regionaler Perspektive wurde sie häufig als „Sieg der Straße“ gefeiert – zumindest teilweise auf Initiativen des SED-Reformers Modrow zurückging, der die Bezirksräte zur Zusammenarbeit mit den Bürgerbewegungen bzw. den Runden Tischen drängte (S. 72ff.). Auch an der Professionalisierung der Oppositionsarbeit hatte die Modrow-Regierung ihren Anteil, indem sie den neuen Parteien und Gruppierungen Infrastruktur und Arbeitsmaterial zur Verfügung stellte und berufliche Freistellungen bzw. Lohnausgleichszahlungen für ihre Vertreter veranlasste. Dass Modrow so handelte, um Druck von der Straße zu nehmen und Stabilität zu sichern, ist deutlich nachvollziehbar. Inwiefern er die (Selbst-)Demontage der alten Machtstrukturen auch aus innerer Überzeugung vorantrieb, ist dagegen nur schwerlich aufklärbar. Immerhin zitiert Weil dazu Götz Kreuzer, den letzten (neu gewählten) Bezirksratsvorsitzenden von Rostock, der Modrow eine durchweg positive Grundeinstellung gegenüber den Runden Tischen bescheinigte. Es sei eher Peter Moreth von der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) gewesen, der, so Kreuzer, als „Minister für die Bezirke“ seine Umgangsschwierigkeiten mit den Tischen gehabt hätte (S. 79f.).

Die Runden Tische der Bezirke arbeiteten, wie Weil herausstellt, weitgehend eigenständig und autonom (S. 136). Die Aufgaben der Tische umfassten sechs zentrale Bereiche: die Vorbereitungen zu den ersten freien Volkskammer- und Kommunalwahlen, die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die kommende Länderbildung, Fragen zu Bildung und Umweltschutz sowie der Umgang mit den westdeutschen Hilfsleistungen (S. 136ff.). Die meisten Tische konzentrierten sich personell und thematisch allerdings stark auf die Bezirksstadt, sodass in der Regel die tatsächliche territoriale Repräsentanz hinter dem nominellen Anspruch zurückblieb. Ein weiteres „Demokratie-Manko“ bildeten die zahlreichen Teilnehmer- und Gruppenwechsel an den Tischen, was zum Beispiel in Potsdam dazu führte, dass neue Vertreter oftmals nicht wussten, wie und woran ihre Vorgänger gearbeitet hatten bzw. arbeiteten (S. 109).

Auf der Bezirksebene waren es dann weniger die Bürgerrechtsgruppen als vielmehr die Rücktrittswelle verunsicherter Funktionäre und „Volksvertreter“ sowie die Zuspitzung der ökonomischen Lage, die die bestehenden Macht- und Personalstrukturen erschütterten und gleichzeitig die Wichtigkeit der Runden Tische erhöhten. Nach den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 und den anschließenden Kommunalwahlen am 06. Mai erlitten die Runden Tische jedoch einen massiven Bedeutungsverlust. Einerseits betrachteten zahlreiche Tisch-Vertreter ihre „Mission“ als erfüllt, andererseits zeigte der neue Regierungschef der Christlich Demokratischen Union (CDU) in Ostdeutschland, de Maizière, kaum Interesse an einer Weiterführung dieser Institution aus der Revolutionszeit. Stattdessen besann er sich wieder auf die alten administrativen Strukturen und konzentrierte sich auf deren Übernahme, Modifizierung oder Auflösung im Länderbildungsprozess.

Unter dem Strich ähneln sich viele Geschichten der Runden Tische stark. Das überrascht nicht, denn Rahmenbedingungen und Zielstellung glichen einander. Regionale Sonderwege waren kaum zu verzeichnen. Es sind daher Unterschiede im Detail, die regionale Varianzen erkennen lassen. So gab es vor allem beim Umgang der Tische mit der Staatssicherheitsproblematik Besonderheiten. Der Neubrandenburger Bevölkerung wurde beispielsweise bereits unmittelbar nach der ersten Sitzung des dortigen Runden Tisches via Zeitungsaufruf die Möglichkeit angeboten, MfS-Akteneinsicht zu nehmen. Gleichzeitig wurden durch eine spezielle Arbeitsgemeinschaft Informationen zu Arbeit und Organisation der Staatssicherheit gesammelt und zu einem Endbericht verarbeitet, der in den Augen des damaligen Vertreters der evangelischen Kirche einem ersten Sachbuch zum DDR-Geheimdienst nahe kam (S. 153). In Leipzig erhielt das Bürgerkomitee zur MfS-Auflösung vom dortigen Runden Tisch quasi das (kommunalpolitische) Mandat zur Sicherung der Akten, zur Auflösung des Geheimdienstes und zur Aufdeckung der MfS-Strukturen. Auf dieser Legitimationsgrundlage agierte das Bürgerkomitee dann auch gegenüber dem alten Machtapparat und entwickelte sich dabei zu einem der agilsten und nachhaltigsten Revolutionskomitees im Land (S. 150ff.).

Einige Ergebnisse Weils lockern gängige Wissensmuster auf. Beispielsweise waren im Bezirksvergleich die Initiatoren der Runden Tische mehrheitlich keine Kirchenvertreter oder Bürgerrechtler, sondern Funktionäre der Blockparteien sowie Räte der Bezirke (S. 98). Auch war der viel besprochene Kampf um das Erreichen der Stimmenparität kein Vorgang, der alle Tische beschäftigte. Vor allem in den nördlichen Bezirken fehlte es deutlich an neuen Kräften, um solch eine Gleichheit überhaupt herstellen zu können. Die qualitativ und quantitativ heterogenen Zusammensetzungen der Tische erwiesen sich wiederum für ihre Vertreter nur selten als problematischer Umstand im eigenen Selbstverständnis, da sie die Tische mehrheitlich als Verständigungs- und nicht als Leitungsgremium begriffen (S. 113).

Eine Entwicklungsgeschichte ganzer Bezirke oder Regionen stellt die vorliegende Studie nicht dar – für eine tatsächliche Regionalgeschichte der Runden Tische wäre die Vielzahl der Runden Tische der Kreise, Städte und Gemeinden viel stärker einzubeziehen gewesen. Weil bemerkt in diesem Zusammenhang richtig, dass die öffentliche Beteiligung und das aktive Begleiten der Tische auf der Stadtebene weitaus höher und intensiver war bzw. die Beschlüsse dort konkreter und zugleich kontroverser diskutiert und gefasst wurden (S. 229f.). Vielmehr offenbart sich die Geschichte der Bezirkstische hier vor allem als Teil der Zerfallsgeschichte regionaler staatlicher Mittelinstanzen. Die Tische trugen als Institutionen der Revolutionsbewegung und Kontrollorgane von Bezirkstag und Rat des Bezirkes dazu bei, Doppelherrschaftsstrukturen zu etablieren und den alten Herrschaftsapparat auf der Hochebene der Kommunalpolitik zu paralysieren. Vor dem Hintergrund noch zahlreicher offener Forschungsfragen in diesem Themenbereich liefert uns diese Arbeit dazu eine Reihe wichtiger Anregungen und Erkenntnisse.

Darüber hinaus beeindruckt die Arbeit vor allem in ihrer Syntheseleistung und der darin vorgenommenen Einbettung des Phänomens in die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Instruktiv ist dabei der Vergleich zwischen den Runden Tischen und den Arbeiter- und Soldatenräten von 1918/19, der neben den zu erwartenden Unterschieden auch eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten zutage treten lässt (S. 216ff.). So sahen es beide inmitten des revolutionären Geschehens als ihre wesentliche Aufgabe an, die bestehenden administrativen Strukturen vor einem totalen Zerfall zu retten, nicht jedoch ihren Zusammenbruch zu forcieren. Beide Institutionen waren formal anerkannt und mehr oder weniger schnell respektiert; beiden ging es um Kontrolle staatlicher Entscheidungsorgane, beide verstanden sich als Motoren und Instrument für eine Demokratisierung der Verwaltung und ihrer Entscheidungsfindungen, aber auch für eine Demokratisierung der politischen Verhältnisse generell. Auch ihr Ende wies Parallelen auf. So führten beide bereits nach wenigen Monaten nur noch ein „Schattendasein“ bzw. standen vor ihrer Auflösung. Dagegen bestand ein gleichermaßen markanter Zug wie auch wesentlicher Unterschied zu den Räten in der völligen Autonomie der jeweiligen einzelnen Runden Tische bzw. in der Koordinations- und Kommunikationslosigkeit untereinander. Einen gewissen Mythos erlangten die Runden Tische erst Jahre nach ihrem Ende, der sich vor allem in der Schule-der-Demokratie-Formel manifestierte. Der Räte-Gedanke dagegen entwickelte bereits während seiner Existenzzeit eine mythische Kraft.

Stellenweise hätte man sich von Francesca Weil mehr Mut zur Kategorien- und Thesenbildung gewünscht. So lässt die diesbezügliche Zurückhaltung mitunter der Eindruck eines gewissen Nebeneinanders der Befunde und Beschreibungen bzw. einer deskriptiven Dominanz und Nüchternheit entstehen. Doch diese Einschränkungen schmälern den Wert der Studie nur geringfügig.

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