W. Mühl-Benninghaus: Unterhaltung als Eigensinn

Cover
Titel
Unterhaltung als Eigensinn. Eine ostdeutsche Mediengeschichte


Autor(en)
Mühl-Benninghaus, Wolfgang
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
370 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Meyen, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, Ludwig-Maximilians-Universität München

Das Substantiv im Untertitel täuscht etwas. Eine „Mediengeschichte“ wäre mehr und weniger zugleich: mehr Print (Zeitungen, Zeitschriften und Bücher kommen so gut wie gar nicht vor) und weniger Sonstiges. Jugendklubs zum Beispiel, Arbeiterfestspiele oder Rockkonzerte haben in einer „Mediengeschichte“ eigentlich nichts zu suchen. Sehr ernst zu nehmen ist dagegen das Adjektiv „ostdeutsch“. Das Buch bringt eine Perspektive in den mediengeschichtlichen Diskurs, die die Herkunft seines Autors nicht leugnet und sich schon deshalb von den meisten DDR-Konstruktionen unterscheidet. Wolfgang Mühl-Benninghaus, Jahrgang 1953, hat an der Humboldt-Universität Wirtschaftsgeschichte studiert und vor seiner Habilitation (1988, Medien in der Weimarer Republik) unter anderem ein Jahr als Dolmetscher in der Sowjetunion gearbeitet. Nach fünf Jahren Wende- und Wartezeit (die er als Oberassistent, Dozent und Lehrbeauftragter überbrückte) wurde er 1993 an seiner Heimatuniversität auf eine Professur für Theorie und Geschichte des Films berufen. Das hier zu besprechende Buch ist, wenn man so will, die Summe eines Jahrzehnts aus seinem Forscherleben, das er der Unterhaltung in der DDR gewidmet hat – unter anderem als Projektleiter in der DFG-Forschergruppe „Programmgeschichte DDR-Fernsehen – komparativ“.

Wer die früheren Arbeiten von Mühl-Benninghaus zu diesem Themenfeld kennt1, wird weder von den Stärken seines Opus Magnum überrascht sein noch von dessen Schwächen. Die These des neuen Buches auf den Punkt gebracht: Das Unterhaltungsverständnis der SED-Spitze lässt sich nur erschließen, wenn man ihre Herkunft berücksichtigt und die Erfahrungen, die die Akteure in der Arbeiterkultur gesammelt hatten. Die dort entwickelten Bildungs- und Freizeitideale wiederum unterscheiden sich im Kern nicht von dem, was im bürgerlich-christlichen Lager kultiviert worden ist. Diese These prägt Aufbau und Diktion des gesamten Textes. Nach einer konzeptionellen Skizze, die eigenartigerweise „Vorwort“ heißt, obwohl sie neben dem theoretischen Hintergrund auch ein Plädoyer für die Unterhaltungsforschung liefert, zeichnet Mühl-Benninghaus auf rund 60 Seiten die Debatten nach, die die organisierte Arbeiterbewegung zum Thema Unterhaltung geführt hat. Dieser Blick legt die Wurzeln frei für all das, was später Medienpolitik und Medienkultur in der DDR prägen sollte – etwa das Unverständnis gegenüber moderner Kunst und Kino, Paternalismus oder die Vergötterung der Schrift.

Konkret wird dies dann bei einem chronologischen Gang durch die Jahre von 1945 bis 1989 – unterfüttert mit einem enormen Wissen über die Sendungen von Hörfunk und Fernsehen und immer wieder verknüpft mit dem Blick auf Parallelen in der Bundesrepublik. Dieser Ansatz schützt den Autor vor jeder Art von Verurteilung und erlaubt ihm zugleich, den zentralen Unterschied zwischen beiden deutschen Staaten zu benennen: den Markt, der im Westen letztlich doch immer wieder dazu führte, dass die Nachfrage tatsächlich auf das Angebot durchschlagen konnte. Mühl-Benninghaus gelingt es dabei, auf ideologische Scheuklappen genauso zu verzichten wie auf das Vokabular des Diktaturgedächtnisses. Das Wort "Stasi" zum Beispiel, ohne das der DDR-Diskurs kaum noch denkbar ist, kommt bei ihm nicht ein einziges Mal vor.

Seinen Kritikern macht es der Autor allerdings nicht besonders schwer. Mit den Qualitätsstandards historischer Forschung geht dieses Buch eher schludrig um. Belege fehlen reihenweise oder sind unvollständig. Im Verzeichnis der Archivquellen stehen lediglich Bestandssignaturen. Register fehlen ganz (was besonders zu bedauern ist, da Mühl-Benninghaus viele Personen und konkrete Medienangebote behandelt), Namen sind falsch oder falsch geschrieben (etwa: „Josef Roth“ statt „Herbert Roth“, „Gerhard“ statt „Gerhart Eisler“ oder „Hans“ statt „Hanns Eisler“; S. 141, S. 196, S. 210), und wichtige Literatur fehlt (etwa die Arbeiten von Frank Bösch, Erik Koenen oder Arnulf Kutsch zur Mediennutzung im Arbeitermilieu oder der Sammelband „Vergnügen in der DDR“ von Ulrike Häußer und Marcus Merkel2). Mühl-Benninghaus stützt sich vor allem auf Schriften der Arbeiterführer sowie Presseveröffentlichungen (was an sich kein Problem ist) und versäumt es, seine Quellen systematisch offen zu legen.

Zu solchen handwerklichen Mängeln kommen inhaltliche Auslassungen – eine Angriffsfläche, die sich bei einem Buch mit Thesencharakter und epochenübergreifendem Zeithorizont vermutlich gar nicht vermeiden lässt. Das „Dritte Reich“ zum Beispiel überspringt Mühl-Benninghaus einfach und übersieht so den Blutzoll, den die Arbeiterbewegung in dieser Zeit zu entrichten hatte und der dann in der DDR auch im Unterhaltungsbereich die inhaltlichen und personellen Möglichkeiten erheblich einschränkte. Eine zweite Leerstelle ist die Umfrageforschung, die es in den DDR-Medieneinrichtungen ab den 1950er-Jahren gab (wenn auch zunächst nur punktuell). Hier wurde spätestens Anfang der 1970er-Jahre das methodische Niveau des Westens erreicht und so der Blick der Verantwortlichen auf die Publikumsbedürfnisse entscheidend verändert. So wichtig der Wechsel von Ulbricht zu Honecker für den Wandel der DDR-Unterhaltung gewesen sein mag und so gut diese Erklärung zur These des Buches passt: Auch das Wissen um die Vergeblichkeit aller Beeinflussungsversuche, das sich aus den Umfrage-Ergebnissen speiste, dürfte dabei eine Rolle gespielt haben. Mühl-Benninghaus hat zwar einige der entsprechenden Tabellen abgebildet, kann mit dieser Quelle allerdings nicht wirklich umgehen und weicht mehrmals auf Zuschriften an die Tageszeitung „Junge Welt“ aus, wenn er etwas über Mehrheitsmeinungen in der Bevölkerung sagen möchte (S. 165, S. 220). Schlicht falsch ist die Behauptung, dass die SED „infolge auch von Infratestuntersuchungen davon ausgehen“ konnte, dass viele Westdeutsche auf TV-Sendungen aus dem Osten umgeschaltet hätten (S. 171). Erstens dürfte im Osten Berlins damals niemand diese Umfragen gehabt haben, und zweitens zeigen die Ergebnisse, dass das DDR-Programm in weiten Teilen der Bundesrepublik gar nicht zu empfangen war.3

Solche Detailkritik soll aber den Wert des vorliegenden Buches nicht mindern. Wolfgang Mühl-Benninghaus zeigt, welches Potenzial die Beschäftigung mit der Unterhaltung birgt – ein Gegenstand, den die historische Forschung genau wie die sozialwissenschaftlich ausgerichtete Kommunikationswissenschaft lange vernachlässigt hat. Er bietet ein theoretisches Konzept, mit dem sich Unterhaltungsvorstellungen einordnen lassen (die Milieutheorie verbunden mit dem Generationenbegriff nach Mannheim und Dilthey), wendet dieses Konzept auf die DDR an und liefert so eine überzeugende Erklärung für die Genese der SED-Medien- und Kulturpolitik. Sein vorurteilsfreier Blick erlaubt ihm außerdem, die Besonderheiten der DDR-Unterhaltung (etwa: die Koppelung an den Arbeitsprozess sowie das Auftreten von Uniformträgern) genauso herauszuarbeiten wie gesamtdeutsche Entwicklungen.

Anmerkungen:
1 Um nur zwei wichtige Bücher zu nennen: Wolfgang Mühl-Benninghaus (Hrsg.), Drei Mal auf Anfang. Fernsehunterhaltung in Deutschland, Berlin 2006; ders. (Hrsg.), Zwei Mal zur Wende. Fernsehunterhaltung in Deutschland, Berlin 2008.
2 Siehe dazu die Rezension von Christopher Görlich: Rezension zu: Häußer, Ulrike; Merkel, Marcus (Hrsg.): Vergnügen in der DDR. Berlin 2009, in: H-Soz-u-Kult, 21.07.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-3-048> (30.11.2012).
3 Vgl. Michael Meyen, „Geistige Grenzgänger“: Medien und die deutsche Teilung, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 1 (1999), S. 192–231, hier S. 211ff.

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