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Titel
Die Reformpädagogik. Montessori, Waldorf und andere Lehren


Autor(en)
Böhm, Winfried
Reihe
Beck’sche Reihe 2743
Erschienen
München 2012: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
126 S.
Preis
€ 8,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Michael Knoll, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Das Thema, das sich Winfried Böhm, Emeritus an der Universität Würzburg, zur Bearbeitung vorgenommen hat, ist ein viel beackertes Feld. Von Hermann Nohl über Wolfgang Scheibe und Hermann Röhrs bis zu Ehrenhardt Skiera haben zahlreiche deutsche Historiker Interpretationen über ein „Phänomen“ vorgelegt, das in Deutschland von circa 1890 bis 1933 existierte und weltweit unter Namen wie „progressive education“, „éducation nouvelle“, „escuela moderna“ Bedeutung erlangte. Böhm bemerkt zu Recht, die Reformpädagogik sei wie ein „Vexierbild“, ja sie sei sogar eine „Sphinx, die immer noch manches Rätsel aufgibt“ (S. 7f.). Tatsächlich tut er gut daran, die widersprüchliche Rezeption gleich im ersten Kapitel des schmalen Bändchens vorzustellen.

Nach Ansicht Böhms lassen sich in der (alten) Bundesrepublik bei der historischen Rekonstruktion reformpädagogischer Theorien und Praxismodelle fünf Vorgehensweisen und Einschätzungen identifizieren: „Kanonisieren“ durch die führenden Pädagogen der Nachkriegszeit, „Ignorieren“ durch die Bildungsreformer der 1970er-Jahre, „Polemisieren“ durch Erziehungshistoriker der jüngeren Generation, sei es, dass sie auf die „irrational und lebensphilosophisch geprägten“ Ursprünge der Reformpädagogik und ihre Verbindung mit dem Nationalsozialismus hinweisen (S. 13) (Kunert), die „Pädagogik vom Kinde aus“ nur als Ausfluss einer „infantilen Regression“ betrachten (S. 14) (Prange) oder die „mangelnde Originalität“ und frappierende „Erfolglosigkeit“ ihrer Unternehmungen beanstanden (S. 15) (Oelkers), „Reduzieren“ und „Rehabilitieren“ um die Jahrtausendwende durch Erziehungswissenschaftler, die die Reformpädagogik lediglich als „Mittelglied“ einer Bewegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart (S. 17) (Benner/Kemper) bzw. als eine „ungeheuer erfolgreiche“ „Krisenbewältigungsstrategie“ (S. 19) (Tenorth) verstehen. Darüber hinaus diskutiert Böhm die These von der „Modernisierung durch Antimodernisierung“ (S. 20) (Ullrich) und von der Reformpädagogik als „systematische Perspektive der Erziehungsphilosophie allgemein“ (S. 20) (Koerrenz). Mit Erstaunen registriert er die Wendung, die Oelkers jüngst vollzog, als er zwanzig Jahre nach seiner ungestümen Kritik ein Lehrbuch und eine Detailstudie („Eros und Herrschaft“1) über die zuvor als „reine Fiktion“ bezeichnete Bewegung vorlegte (S. 16). Bedauerlich ist, dass Böhm mit keinem Wort darauf eingeht, wie DDR-Historiker, etwa Robert Alt, Heinrich Deiters und Gerd Hohendorf, die reformpädagogischen Projekte und Experimente rezipiert und beurteilt haben.2

Im 2. Kapitel „Fortschritt als Rückkehr zum Alten“ beschreibt Böhm die Vorläufer und Einflüsse, die die Reformpädagogik prägten. Die Erziehungsvorstellungen von Comenius, Rousseau, Pestalozzi, Fröbel und Herbart kommen ebenso zur Sprache wie die von Condorcet, Lepeletier, Humboldt, Schultze, Diesterweg, Nietzsche und Langbehn. Überdies zieht Böhm (unter Vernachlässigung der Jugendbewegung) bildliche Darstellungen und literarische Werke heran, um die Kritik der Reformpädagogen an den Zuständen in Erziehung und Unterricht ihrer Zeit verständlich zu machen. Mithilfe einer amerikanischen Studie veranschaulicht er die „Paradoxie“, dass der von den Reformpädagogen bekämpfte Herbartianismus einerseits als Instrument „wissenschaftlicher Rationalität“ und „demokratischen“ Fortschritts gefeiert und andererseits als „Maschine“ zur Formung von „Bildungsphilistern“, Duckmäusern und „Untertanen“ verdammt werden konnte (S. 37ff.). Und anhand einer begriffsgeschichtlichen Analyse charakterisiert Böhm die reformpädagogische Bewegung als ein im Grunde rückwärtsgewandtes Unternehmen, das zunächst, diagnostisch, einen katastrophalen „Verfall“ feststellt, um anschließend, therapeutisch, eine schnelle „Verbesserung“ anzukündigen (S. 28), indem es die Missstände mit Rückgriff auf „natürliche“ Verfahren zu beseitigen verspricht. Böhm hebt noch zwei Aspekte hervor, die seines Erachtens üblicherweise vernachlässigt oder missachtet werden: die kritische Einstellung der Reformpädagogen zum Christentum und die ungerechtfertigte Berufung der Reformpädagogen auf Rousseaus pädagogischen „Naturalismus“ und „Optimismus“ (S. 48f.).

Das dritte Kapitel gilt der „neuen Erziehung“ außerhalb Deutschlands. Dabei nimmt Böhm andere Länder „selektiv“ in den Blick (S. 54). Während er sich bei Russland und den USA mit Tolstoi, Blonskij, Makarenko und Dewey auf wenige weltweit bekannte Reformer beschränkt, stellt er bei Frankreich, Italien und Spanien eine Vielzahl von Personen vor, die (mit Ausnahme von Maria Montessori) lediglich auf nationaler Ebene eine gewisse Bedeutung erlangen konnten. So kommen unter anderem Andrés Manjón und der spanische Krausismo, Ferdinand Buisson und der französische Positivismus, Rosa und Carolina Agazzi und der italienische Attivismo zur Darstellung, während noch heute und nicht nur hierzulande diskutierte Stars wie William H. Kilpatrick (Projektmethode) und Helen Parkhurst (Daltonplan) unerwähnt bleiben. Im Gegensatz zu Röhrs betont Böhm, dass die neue Erziehung nur oberflächlich betrachtet eine einheitliche internationale Bewegung war und dass sich die deutsche Version von den ausländischen Ansätzen nach Inhalt und Wirkung erheblich unterschied.

Im vierten Kapitel „Grundbegriffe und Optionen“ versucht Böhm, die Besonderheiten der Reformpädagogik in Deutschland herauszustellen. Seiner Ansicht nach orientierten sich die deutschen Reformer, im Gegensatz zu ihren europäischen oder amerikanischen Kollegen, weniger an den Postulaten der Aufklärung als an den Ideen der Romantik. Dabei spielte der „Mythos des göttlichen Kindes“, aber auch die übersteigerte Vorstellung von „Arbeit“, „Kunst“, „Leben“ und „Gemeinschaft“ (statt „Gesellschaft“) eine entscheidende Rolle (S. 75ff.). All diese Gedanken und Begriffe existierten auch in anderen Ländern, konstatiert Böhm, freilich bekamen sie in Deutschland einen „irrationalen“ und „antiwestlichen“ Zug, wenn etwa Berthold Otto von „Ganzheit“, „Gemeinschaft“ und „lebendigem Volksgeist“ sprach. Auffällig ist, dass Böhm den, im internationalen Vergleich, relativ geringen Einfluss ausblendet, den Kinderforschung, experimentelle Pädagogik und pädagogische Psychologie auf die deutschen Reformpädagogen ausübten.3 Auffällig ist weiterhin, dass der Autor seine von Fritz Stern und Herbert Schnädelbach inspirierte These, die deutschen Pädagogen hätten mit ihrer Abneigung gegen Aufklärung, Demokratie und Wissenschaft einen antiwestlichen Sonderweg beschritten, zwar abstrakt entfaltet und für die Bereiche „Gemeinschaft“ und „Leben“ mithilfe von Berthold Otto und, später, von Peter Petersen und Rudolf Steiner belegt, es ihm jedoch nicht gelingt, seine These für die Kategorien „Arbeit“, „Kunst“ und „Mythos des göttlichen Kindes“ durch entsprechende Beispiele und Zitate konkret nachzuweisen.

Im fünften Kapitel stellt Böhm „Pioniere und Konzepte“ vor, die – fünf an der Zahl –„schulbildend“ gewirkt und international Einfluss ausgeübt hätten. Seine Sichtweise ist dabei vornehmlich kritisch. So charakterisiert er Hermann Lietz als Nationalisten und potentiellen Antisemiten, der – wie seine Nachfolger Gustav Wyneken, Paul Geheeb und Kurt Hahn – mit den Landerziehungsheimen zwar ein „elitäres“, aber kein besonders „innovatives“ „pädagogisches Produkt“ auf den Markt brachte (S. 91f.). Auch Peter Petersen und Rudolf Steiner hätten mit Jenaplan und Waldorfschule nicht Unterricht, Bildung und demokratische Erziehung, sondern „Vergeistigung“, Führertum und „irrationale Lebensformen“ in den Mittelpunkt gestellt (S. 95ff.) und insbesondere „der selbständigen Entfaltung und der freien Selbstgestaltung“ des Kindes wenig Raum gelassen (S. 103). Maria Montessori, die nach Böhm „kaum noch als Ausländerin“ wahrgenommen werde (S. 104) und daher, eigenartigerweise, der deutschen Reformpädagogik zugerechnet wird, habe (wie Steiner) ein „kosmisches Lebensgesetz“ entworfen und eine „pädagogische Heilslehre“ verkündet (S. 105), die sich jeglicher systematischen und empirischen Prüfung entziehe und die das Kind mithilfe eines ausgeklügelten „didaktischen Materials“ „wie auf einer Schiene“ seiner Bestimmung zuführe (S. 109). Einzig Paul Oestreich, so Böhm, habe mit seiner Version der Gesamtschule und Produktionsschule versucht, die „undemokratischen Bildungsbarrieren“ des öffentlichen Schulwesens zu beseitigen, die volle „Potentialität des Individuums“ zu entwickeln und die angestrebte „Erziehung zur Brüderlichkeit“ zu realisieren (S.111ff.).

Das kurze Schlusskapitel behandelt „die Grenzen der Reformpädagogik“. Böhm referiert die zeitgenössische Kritik und konstatiert mit Theodor Litt, dass sich „pädagogische Grundprobleme“ wie „Führen oder Wachsenlassen“ nur dialektisch auflösen ließen, andernfalls käme, wie in der traditionellen Pädagogik, das „Eigenrecht“ des Kindes oder, wie in der Reformpädagogik, der „objektive Bildungsgehalt“ zu kurz (S. 117). Bei zu starker Orientierung am Kinde könne es daher passieren, dass die „alte“ Buch- und Lernschule wieder Anklang finde und, paradoxerweise, zur Alternative der „neuen“ Lebens- und Gemeinschaftsschule avanciere.

Insgesamt bietet Böhm eine informative und oftmals anregende Einführung in die Geschichte der Reformpädagogik, die Studenten, Lehrern und Erziehern, aber auch jedem pädagogisch interessierten Leser auf knappem Raum einen soliden Überblick über das gegenwärtig heiß diskutierte Thema verschafft. Dennoch sind außer den bereits angesprochenen Auffälligkeiten noch drei Punkte zu erwähnen, die berücksichtigt werden sollten: (1.) Böhm verkennt die Wirklichkeit, wenn er die Reformer des Auslands (mit Ausnahme der eingemeindeten Montessori) praktisch unkritisiert lässt, obwohl auch deren Konzepte problematische Züge aufweisen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wie Kerschensteiner kann man auch Dewey als rückwärtsgewandten (nämlich agrarisch orientierten) Pädagogen bezeichnen, dessen „wissenschaftliche“ Methode weniger an Newton, Darwin oder Einstein, sondern eher an Tom Sawyer erinnert.4 (2.) Böhm blendet die Tatsache aus, dass die Reformpädagogen ihr Augenmerk fast ausschließlich auf die Entwicklung des Kindes richteten und dabei die Interessen und Bedürfnisse des pubertierenden Jugendlichen weitgehend vernachlässigten.5 Als rühmliche Ausnahme wären Kerschensteiners Berufsschule und Hahns „internationale Erziehungsrepublik“ mit den Outward-Bound Schools, United World Colleges und International Youth Awards in Betracht gekommen. (3.) Böhm könnte den Informationsgehalt seiner im Ganzen schlüssigen Arbeit weiter erhöhen, wenn er wichtige Aspekte wie Koedukation und Mädchenbildung, Sexualerziehung und Schülermitbestimmung sowie die Verbreitung reformpädagogischer Ideen im Ausland und im deutschen Staatsschulwesen zumindest kurz umreißen würde.6

Anmerkungen:
1 Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim 2011.
2 Siehe etwa Andreas Pehnke, Zur Reformpädagogik-Rezeption in der SBZ (1945–49), der DDR (1949–90) und den neuen deutschen Bundesländern (seit 1990), in: Petra Korte (Hrsg.), Kontinuität, Krise und Zukunft der Bildung. Analysen und Perspektiven, Münster 2004, S. 313–326.
3 Siehe etwa Marc Depaepe, Zum Wohl des Kindes? Pädologie, pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik in Europa und den USA, 1890–1940, Weinheim 1993.
4 Siehe etwa Solon T. Kimball / James E. McClellan, Education and the New America, New York 1962.
5 Siehe Rudolf Künzli, Einsichten am Rande? Das Interesse der pädagogischen Reflexion an den Alternativen, in: Bildung und Erziehung 40 (1987), S. 453–465.
6 Siehe etwa Inge Hansen-Schaberg, Koedukation und Reformpädagogik, Untersuchung zur Unterrichts- und Erziehungsrealität in Berliner Versuchsschulen der Weimarer Republik, Berlin 1999, Markus Krebs, Georg Kerschensteiner im internationalen pädagogischen Diskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bad Heilbrunn 2004, Michael Knoll (Hrsg.), Kurt Hahn, Reform mit Augenmaß, Ausgewählte Schriften eines Politikers und Pädagogen, Stuttgart 1998, Ullrich Amlung u.a. (Hrsg.), „Die alte Schule überwinden“. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1993.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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