R. Liedtke: Die Industrielle Revolution

Titel
Die Industrielle Revolution.


Autor(en)
Liedtke, Rainer
Reihe
UTB für Wissenschaft 3350 S
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
204 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Ziegler, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, Ruhr-Universität Bochum

Kann man eine Geschichte der industrialisierten Welt auf 200 Seiten schreiben? Man kann, aber dazu bedarf es eines überzeugenden Konzepts und einer klaren Fokussierung. Um es gleich vorwegzunehmen: mich überzeugt das Konzept dieses Buches nicht. Ich hätte es anders angelegt, was nicht heißt, dass damit andere Rezensenten unbedingt zufriedener wären. Liedtkes Konzept könnte man knapp mit Breite statt Tiefe zusammenfassen. Breite bedeutet, dass sich der Autor entschieden hat, seine Darstellung nicht auf Europa im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, bestenfalls ergänzt um die USA und Japan, zu beschränken, sondern auch den Industrialisierungsweg junger Industrie- bzw. Schwellenländer in Asien und Südamerika zu berücksichtigen. Damit wird gleichzeitig auch der zeitliche Rahmen des Buches auf das 20. Jahrhundert ausgedehnt, wobei sich Liedtke jeweils auf diejenige Phase konzentriert, die er wie die ältere Industrialisierungsgeschichtsschreibung als „Take off“ und „Hochindustrialisierung“ bezeichnet. Lediglich im Falle des Pioniers Großbritannien widmet er sich neben den Voraussetzungen der „Industriellen Revolution“ (Agrarrevolution, Demographie, Wissensrevolution) auch den Rückwirkungen von nachholender Industrialisierung anderer Länder. Während jedoch den Voraussetzungen sinnvollerweise ein ganzes Kapitel eingeräumt wird, muss die „Nachgeschichte“ der „Industriellen Revolution“ mit wenigen Absätzen auskommen. Die in der Thatcher-Ära in Großbritannien heftig geführte Kontroverse um den „relative decline“, den Abstieg von der „Werkstatt der Welt“ zu einer Industrienation unter vielen, bleibt entsprechend ohne erkennbaren Einfluss auf die Darstellung, so dass sich schon die Frage stellt, ob man diesen einen Fall hätte aufgreifen sollen, wenn es in allen anderen Fällen nicht geschieht und selbst für die Darstellung dieses einen Falles kaum genügend Raum zur Verfügung steht. Immerhin, mit diesem Konzept, also der ausführlichen Berücksichtigung Japans, Koreas, Indiens und Brasiliens, unterscheidet sich dieser Band tatsächlich grundlegend von anderen Lehrbüchern zur „Industriellen Revolution“.

Der Aufbau des Buches erfolgt überwiegend entlang jeweils nationalstaatlicher Industrialisierungswege, wobei allerdings den sozialen Konsequenzen und der Rolle des Staates quer zu der nationalstaatlichen Gliederung eigenständige Kapitel gewidmet werden. Insbesondere die gesonderte Betrachtung der Rolle des Staates dürfte ebenso wie die Einbeziehung der genannten Schwellenländer dem Lesebedürfnis des frühen 21. Jahrhunderts Rechnung tragen. Denn nach der Banken- und Finanzmarktkrise des Jahres 2008 wird die Rolle des Staates wieder neu diskutiert; und die Betrachtung historischer Erfahrungen ist in Anbetracht der Unsicherheit über den seit dem Big Bang im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eingeschlagenen Weg der Deregulierung nicht die schlechteste Kaufempfehlung für dieses Buch.

Die Nachteile dieses Konzepts wiegen aber schwer. Denn in Anbetracht der geographischen und zeitlichen Ausdehnung des Begriffs der „Industriellen Revolution“ muss der einzelne Fall sehr knapp abgehandelt werden. So wird die Industrialisierung in Frankreich auf nur etwa drei Seiten, die in den deutschen Staaten auf etwa vier Seiten und die in der Schweiz auf nur etwa zwei Seiten abgehandelt, wobei manche dieser Fallbespiele noch um einen „Exkurs“ gekürzt werden. Dieser Exkurs soll die Möglichkeit bieten, einen bestimmten Aspekt etwas ausführlicher darzustellen. In Anbetracht des ohnehin knappen Raumes für die Länderdarstellungen ist dieses an sich sinnvolle Unterfangen allerdings oftmals kontraproduktiv. Im Falle der Schweiz folgt auf nur einer Seite über die schweizerische Industrialisierung eine Seite „Exkurs“ über den Gotthard-Tunnel, wo der Leser unter anderem erfährt, dass der Bauleiter bei der Besichtigung der Baustelle einem Herzinfarkt erlag. Sinnvoller wäre es da sicherlich gewesen, das Typische an der schweizerischen Industrialisierung, etwa den Nischencharakter für hochwertige und hochpreisige Exportwaren im Rahmen einer internationalen Arbeitsteilung, herauszuarbeiten.

Da den außereuropäischen Fällen sehr viel mehr Raum zugestanden wird – den USA und Japan widmet der Autor jeweils ein ganzes Kapitel von etwa 20 Seiten –, gleichzeitig aber auch kein Flecken Europas ausgespart bleiben soll, erfolgt die Darstellung, abgesehen von der „First Industrial Nation“ Großbritannien – der ebenfalls ein eigenes Kapitel von etwa 20 Seiten zugestanden wird – wie anhand einer Karteikartensammlung. Die zeitliche Abfolge der jeweiligen „Industriellen Revolution“ spielt in der Binnengliederung offenbar keine Rolle. So folgen auf den ersten kontinentaleuropäischen Fall Belgien zunächst die Niederlande. Dem dadurch notwendigen Zeitsprung nach vorn folgt dann mit Frankreich wieder ein Zeitsprung zurück. Die Schweiz, die man eigentlich weit vorn erwartet hätte, folgt erst als Fall 6 (nach Luxemburg). Mit diesem Karteikastenprinzip geht aber ganz der europäische, das heißt der Nationalstaaten übergreifende Charakter der Industrialisierung des „alten Kontinents“ verloren. So hätte man etwa am Beispiel Belgiens zum einen die Bedeutung des Nationalstaates (politischen System, Handelspolitik, Infrastrukturpolitik, Währungs- und Bankenpolitik), andererseits aber auch die Vernetzung mit den europäischen Nachbarn durch den Verkehr von Waren, Kapital und Know-How deutlich machen können. Auch ein „Exkurs“ hätte sich hier mit der Unternehmerfamilie Cockerill und ihren grenzüberschreitenden Aktivitäten angeboten. Aber leider kommen nicht nur die Cockerills in diesem Band nicht vor, sondern der Autor beschränkt seine zwei Seiten über Belgien auch noch ganz auf die Textilindustrie in Flandern und lässt die Schwerindustrie in Wallonien links liegen.

Ebenso unbefriedigend wie die Darstellung der belgischen Entwicklung ist der Fall „Österreich“. Gerade an diesem Beispiel hätten sich die Probleme einer nationalstaatlichen Betrachtung der Industrialisierung verdeutlichen lassen. Denn das Habsburger Reich zeigt mit seinem enormen Entwicklungsgefälle zwischen den Reichsteilen Böhmen, das bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den führenden Industrieregionen Europas gehörte, und der Krain, die auch beim Auseinanderfallen des Reiches noch kaum von einer „Industriellen Revolution“ erfasst war, wie wichtig gerade bei den großen Nationalsaaten die regionale Perspektive ist. Hier ist im „Österreich“-Kapitel für den Leser mit geringen Vorkenntnissen noch nicht einmal zu erkennen, dass dieses „Österreich“ weite Teile Mittel- und Südosteuropas einschließt. Wenn man „Österreich“ aber nur eine Seite zugesteht, geht das wohl auch nicht anders.

Im Falle „Nordamerikas“ wird diese regionale Differenzierung immerhin ansatzweise eingelöst. Bei „Europa“ ist das zweifellos schwieriger. Aber das rechtfertigt meines Erachtens nicht den Rückfall in eine strikt nationalstaatliche Betrachtung der europäischen Industrialisierung. Gerade weil sich der Autor für eine herausgehobene Bedeutung der Rolle des Staates durch ein eigenes Kapitel entscheidet, hätte er bei der europäischen Industrialisierung bis 1914 den Nationalstaat stärker zurücktreten lassen und seine Einzelfalldarstellung europäischer und zugleich regional differenzierter anlegen können.

Natürlich ist diese Kritik insofern nicht ganz fair, als viele Unzulänglichkeiten der Kürze der Darstellung geschuldet sind, also den Preis für die Würdigung der jüngeren und außereuropäischen Industrie- und Schwellenländer darstellen. Denn die Kapitel über Japan, Korea, Indien und Brasilien nehmen etwa ein Viertel des Buches ein. Es gibt sicherlich Rezensenten, die diese Gewichtung als angemessen empfinden werden, auch um den Preis einer fehlenden Tiefe. Als Wirtschaftshistoriker, dessen Spezialgebiet die europäische Industrialisierung ist, bin ich allerdings enttäuscht. Denn dieses Buch fällt in mancherlei Hinsicht hinter den Forschungsstand zurück. Dass Sidney Pollards „Peaceful Conquest“ aus dem Jahr 19811 in der Literaturliste nicht auftaucht, scheint insofern nicht unbedingt zufällig zu sein.

Anmerkung:
1 Sidney Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760–1970, Oxford 1981.