Titel
Gehorsam - Ordnung - Religion. Konfessionelle Heimerziehung 1945 - 1975


Autor(en)
Frings, Bernhard; Kaminsky, Uwe
Erschienen
Münster 2012: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
596 S.
Preis
39,80 €
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Matthias Blum, Seminar für Katholische Theologie, Freie Universität Berlin

Bernhard Frings und Uwe Kaminsky legen mit ihrem Buch eine Reihe von Studien vor, die im Rahmen ihres an den theologischen Fakultäten der Ruhr-Universität Bochum durchgeführten Projektes zur konfessionellen Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Mitte der 1970er-Jahre entstanden sind. Die acht Kapitel umfassende Publikation bietet im Zentrum der Auseinandersetzung ein überaus umfangreiches fünftes Kapitel zu den einzelnen untersuchten Heimen und den jeweiligen Regionen im Rahmen von neun Mikrostudien (S. 171-466). Bernhard Frings und Uwe Kaminsky zeigen zunächst in ihrer einführenden Einleitung den Überblick zur Forschung auf (S. 1-17), um daran anschließend in einem zweiten Kapitel eine differenzierte Heimstatistik zu präsentieren, die über die Berücksichtigung der regionalen Streuung konfessioneller Heime hinaus ebenfalls Gesamtzahlen zu Heimen, Heimplätzen, zu katholischen und evangelischen Einrichtungen in allen Bundesländern bietet (S. 19-42). In ihrem dritten Kapitel präsentieren sie in einem Überblick zur konfessionellen Heimerziehung nicht nur die Traditionen und religiösen Prägungen, sondern auch die Entwicklungen und einschlägigen Debatten derselben (S.43-133), während im vierten Kapitel „die Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Mitarbeitern als Pfadfinder für eine problematische Geschichte“ aufgezeigt werden (S. 135-169). Auf die Darstellung der Vielfalt konfessioneller Heimerziehung anhand ausgewählter Heime im fünften Kapitel folgt im sechsten Kapitel ein, über die Ebene der jeweiligen Heime hinausgehender Einblick in den „Heimalltag“, dessen Facetten systematisch aufgezeigt werden (S. 467-506), bevor Bernhard Frings und Uwe Kaminsky in ihrem siebten Kapitel den „Wandel der Heimerziehung 1968-1975“ erhellen (S. 507-544). Das achte Kapitel rundet mit einer knappen „Zusammenfassung“ den inhaltlichen Teil des Buches ab (S. 545-552). Neben einem Quellen- und Literaturverzeichnis ermöglichen die weiteren Verzeichnisse zu den Personen und Orten sowie den Einrichtungen eine detaillierte und interessegeleitete Suche.

In ihrer statistischen Annäherung, die auch durch einige hilfreiche Tabellen angereichert ist, verweisen Bernhard Frings und Uwe Kaminsky für ihren Untersuchungszeitraum auf die konfessionelle Dominanz auf dem Feld der Heimerziehung. So hätten sich von den weit über 2.000 Einrichtungen vermutlich 70 bis 80 Prozent in konfessioneller Trägerschaft befunden, während kirchlich geprägtes Personal die Erziehungsarbeit bestimmte. (S. 41f.) Als Beispielregionen für ihre Studien wählten sie aufgrund der Dichte konfessioneller Einrichtungen die Bundesländer Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bayern aus. Indem sie zunächst die Entwicklungen innerhalb der konfessionellen Heimerziehung aufzeigen, bieten sie nicht nur einen Einblick in die religiöse Prägung der Heime, in den bekannten Personal- und Ausbildungsmangel sowie die gewohnheitsmäßig praktizierte und legitimierte körperstrafende Disziplinierung der Kinder und Jugendlichen, sondern eröffnen darin ebenfalls einen Verstehenshorizont für die weiteren Ausführungen. Lange Zeit dominierten Gehorsams-, Reinlichkeits- und Sittlichkeitsvorstellungen, denen einerseits eine emotionale Zuwendung fremd und suspekt war und denen andererseits eine rigide Verhaltenskontrolle der vermeintlich defizitären Kinder und Jugendlichen korrespondierte. Vor dem Hintergrund der Professionalisierungsdebatte machen Frings und Kaminsky darauf aufmerksam, dass noch Ende der 1950er-Jahre die postulierte fachliche Spezialisierung der Ausbildung als Konkurrenz zur Diakonenausbildung und darin zum „charismatischen Charakter der männlichen Diakonie“ aufgefasst werden konnte, während man eine Delegitimierung „der traditionellen Diakonissen- und Diakonengemeinschaften in ihrem wissenschaftsfernen Praxiswissen“ befürchtete (S. 82ff.). Hinsichtlich der in Niedersachsen in den 1950er-Jahren praktizierten Strafpraxis der körperlichen Züchtigungen in den Heimen stellen Frings und Kaminsky heraus, dass diese zwar durch amtliche Versuche eingeschränkt werden sollte, aber faktisch dadurch wohl nicht zu beeinflussen war (S. 125-133). Dass zwar besonders schwere Fälle von körperlicher Züchtigung in bayerischen Heimen auch aktenkundig wurden, aber der gewaltsame, auch von kleinen Schlägen bestimmte Alltag erst in den Interviews mit den ehemaligen Heimbewohner/-innen konturiert werden kann, zeigt die Bedeutung der Interviews als Quelle für die Geschichte der Heimerziehung auf (S. 118-124). Frings und Kaminsky haben elf ehemalige Heimkinder der Geburtsjahrgänge 1932 bis 1963 aus aktenmäßig beforschten sowie nicht beforschten Einrichtungen und sechs ehemalige Erziehende der Jahrgänge 1933 bis 1938 aus entsprechenden Einrichtungen interviewt und diese Interviews für ihre Publikation aufgearbeitet (S. 140ff.). Die Befragungen offenbaren einmal mehr, welchen Demütigungen die Heranwachsenden in den Heimen ausgesetzt waren. Exemplarisch sei hier nur auf den Interviewausschnitt zur gynäkologischen Zwangsuntersuchung im Mädchenheim Birkenhof verwiesen (S. 392f.).

Den neun Mikrostudien zu konfessionellen Einrichtungen der Erziehungsfürsorge und Jugendhilfe ist eine Skizzierung der jeweiligen regionalen Kontexte vorangestellt. Bereits die Titel der einzelnen Unterkapitel/ Studien spiegeln exemplarisch die Vielfalt und charakteristischen Spezifika der jeweiligen Erziehungseinrichtungen wider: „Das Kinderheim Henneckenrode (Niedersachsen) – Vom Waisenhaus zum Kinderheim“ (S. 220ff.), „Die Düsselthaler Anstalten (Rheinland) – Professionalisierung, religiöse Erziehung und Disziplin“ (S. 242ff.), „Die Johannesburg (Niedersachsen) – Ausbildungsmöglichkeiten und ‚Heimparlament‘“ (S. 280ff.), „Die Jugendheimstätte Fassoldshof (Bayern) – Mitarbeiterproblem und Strafen“ (S. 303ff.), Die Kaiserswerther Mädchenheime (Rheinland) – Mitarbeitermangel als Modernisierungshemmnis“ (S. 334ff.), „Die Heime der Schwestern vom Guten Hirten (Nordrhein-Westfalen, Bayern) – Erziehungskonzept und Umsetzung“ (S. 354ff.), „Der Birkenhof in Hannover (Niedersachsen) – Heimerzieherinnenschule und psychiatrische Professionalisierung“ (S. 380ff.), „Die Herzogsägmühler Heime (Bayern) – Bewahrung und Arbeit“ (S. 414ff.) sowie „Das Josefshaus, die Marienburg, das Martinistift (Westfalen) – Trägerverantwortung und Modernisierung“ (S. 435ff.). Um den Heimalltag realitätsnah zu erhellen, bieten Frings und Kaminsky einrichtungsübergreifende Ausführungen zum Tagesablauf, zur religiösen Erziehung, zur Freizeit, zu Freundschaften und Bezugspersonen, zur Arbeit und Bildung, zu Strafen und Demütigungen sowie zur sexuellen Gewalt (S. 467ff.). Dabei stellen sie heraus, dass auch vor dem Hintergrund der vielfach negativ konstatierten Erfahrungen das Vorhandensein einer Bezugsperson für die Minderjährigen von großer Bedeutung war, während wirkliche Freundschaften unter den Minderjährigen in den Heimen eher selten gewesen sein dürften. In der Retrospektive erhellen die Studien und Interviews auch, dass das fundamentale Bedürfnis nach wertschätzender Zuwendung oftmals nur dann berücksichtigt wurde, wenn die Heimbewohner/-innen entsprechende Vorleistungen erbrachten und eine große Anpassungsbereitschaft zeigten. Dass in demselben Heim mitunter unterschiedliche Erziehungsstile – und darin auch positive – gepflegt wurden, unterstreicht jedoch nicht nur die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der Heimgeschichte, sondern verdeutlicht vor allen Dingen auch die Notwendigkeit einer fachspezifischen Professionalisierung, die eine kind- und jugendgemäße Erziehung gerade nicht mehr von der Zufälligkeit einer positiven Erzieherpersönlichkeit abhängig machen wollte.

Bernhard Frings und Uwe Kaminsky gelingt ein historischer Rückblick auf eine überaus vielschichtige Thematik, der die Transformationen der Kirchen und ihrer Einrichtungen ebenso berücksichtigt wie eine differenzierte Betrachtung der Heime. Das Buch überzeugt nicht nur durch seine klare Gliederung, sondern auch durch seine inhaltliche Stringenz sowie eine pointierte Präsentation der Ergebnisse. Es dürfte ein Standardwerk zur konfessionellen Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland für den besagten Untersuchungszeitraum werden. Da eine flächendeckende Untersuchung sämtlicher Heime in konfessioneller Trägerschaft im Rahmen des Projektes nicht zu leisten war, besteht noch weiterer Untersuchungs- und Forschungsbedarf im Rahmen von Mikro- und Regionalstudien, zu der die vorliegende Publikation nur ermutigen kann. Zu eruieren wäre insbesondere das spezifisch evangelische oder katholische bzw. christliche Profil der Einrichtungen in ihrer stattgefundenen Praxis. Die Frage, wie sich das spezifische Profil einer konfessionellen Einrichtung in der Alltags- und Erziehungspraxis widerspiegelte und niederschlug, könnte dann nicht nur an die ehemaligen Heimbewohner/-innen und Mitarbeiter/-innen gerichtet, sondern ebenfalls vor dem Hintergrund der Wahrnehmung der ehemaligen Mitarbeiter/-innen der aufsichtführenden Behörden erhoben werden.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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