Cover
Titel
Thick Space. Approaches to Metropolitanism


Herausgeber
Brantz, Dorothee; Disko, Sasha; Wagner-Kyora, Georg
Reihe
Urban Studies
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Walter Siebel, Institut für Soziologie, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Nach dem „spatial“ und dem „cultural turn“ nun auch ein „metropolitan turn“, der im Jahre 2005 gleich alle drei Berliner Universitäten ergriffen hatte: Sowohl an der Technischen Universität (TU) als auch an der Humboldt-Universität und an der Freien Universität wurden jeweils Zentren für metropolitane Studien gegründet. So ist es denn auch ein Forschungsprogramm namens „History and Culture of the Metropolis in the 20th Century“ des Center for Metropolitan Studies der TU Berlin, auf das das hier zu besprechende Buch zurückgeht. Die Beiträge stammen vor allem von Historikern und Ethnologen, aber auch von Geografen, Politikwissenschaftlern und Planern überwiegend aus Berlin und New York. – Den beiden Städten, auf die sich auch die meisten Beiträge beziehen.

Der Band soll, so das Versprechen der Einleitung, dazu beitragen, „Metropole“ und „metropolitan“ als analytische Begriffe zu schärfen. Entsprechend diskutieren die Herausgeberin und die Herausgeber Dorothea Brantz, Sasha Disko und Georg Wagner-Kyora zunächst den Bedeutungshorizont der beiden Termini. In seiner klassischen Bedeutung als Kolonien gründende „Mutterstadt“ sei es ihre Herrschaftsfunktion, die eine Stadt zur Metropole werden lässt und die im Mittelalter (Bischofssitz) und im Zeitalter des Imperialismus (London als Metropole) wieder auflebt. Aktuell dominiere eine kulturelle Interpretation von „Metropole“ als Ort multipler Identitäten, wobei die Herausgeber auf die damit verbundenen vielfältigen Konflikte hinweisen. „Thick Space“, der zweite titelgebende Begriff wird in Analogie zu Clifford Geerts Konzept „dichter Beschreibung“ als Überlagerung sozialer Prozesse und materieller Systeme im urbanen Raum definiert.

Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert. Der erste präsentiert mehr oder weniger kritische Begriffsgeschichten. Heinz Reif gibt einen Überblick über Verwendungen des Begriffs „Metropole“ und über damit verbundene Forschungsrichtungen. Dabei legt er den Schwerpunkt auf Metropolen als Produzenten von kulturellem Mehrwert und als „laboratories of progress“ (S. 35). Ignacio Farías und Susanne Stemmler arbeiten in einer kritischen Analyse der Karriere des Begriffs dessen Verflechtung mit asymmetrischen Machtbeziehungen zum Beispiel zwischen Zentrum und Peripherie heraus, wenn nicht, wie häufig, einfach „Stadt“ durch das attraktivere Label „Metropole“ ersetzt werde. In Jan Kempers Beitrag ist denn auch nicht von Metropolen die Rede. Er referiert den stadtsoziologischen Dauerstreit über „Stadt“ als unabhängige (Robert Park, postmoderne Ansätze) oder abhängige (Georg Simmel, New Urban Sociology) Variable bzw. als Ort der Differenzierung (Simmel, postmoderne Ansätze) oder als Ort sozialer Integration (Chicago School, Manuel Castells). Richard Rodger untersucht in einer aufwendigen quantitativen Analyse die Häufigkeit, mit der „Metropolis“ und verwandte Wortbildungen seit Beginn des 17. Jahrhunderts in Büchern sowie in der „Times“ verwendet worden sind. Leider verzichtet er dabei auf Interpretationen. Margit Mayer schließlich vergleicht die Verwendung des Wortes im US-amerikanischen Kontext mit dem in der deutschen Diskussion. Dabei verfolgt sie die Absicht, den Begriff für die Stadtforschung so zu schärfen, dass der Unterschied zu den Urban Studies deutlich wird. Ihr Aufsatz erschöpft sich dann aber in einer Aufzählung US-amerikanischer Forschungskonzepte, die in die deutsche Forschung übernommen wurden. Sie erklärt das mit der Konvergenz europäischer und US-amerikanischer Stadtentwicklung. Ob eben dieser Eindruck auch einer kritiklosen Übernahme der Konzepte geschuldet sein könnte, wird nicht angesprochen, obwohl doch der „cultural turn" eben solche Überlegungen nahelegen könnte.

Im zweiten Abschnitt wird – teilweise mit Bezug auf Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Ansatz – die materielle Stadt insbesondere hinsichtlich ihrer technischen Infrastrukturen in ihrer Bedeutung für die Formierung städtischer Identitäten thematisiert. Thomas Bender diskutiert das analytische Potenzial von Latours Begriffen an den Beispielen Geschichte, Raum und Infrastruktur. Stefan Höhne fragt danach, inwieweit städtische Infrastrukturen urbane Praktiken geprägt haben, wobei in der Freude über die Entdeckung eines bislang vernachlässigten Forschungsfelds den Infrastrukturen geradezu demiurgische Qualitäten zugesprochen werden: „They shape our habits and economics of work and leisure, our perceptions and bodies, and our affects and desire. They shape the way we realize friendships and family and the way we realize love relations and sexuality.“ (S. 149) Ehe man technischen Infrastrukturen derart weitreichende Kausalitäten zuschreibt, sollte doch die Reichweite anderer soziologischer Erklärungen (Norbert Elias, Peter Gleichmann) geklärt sein. Harold L. Platt referiert die Geschichte der Stadtplanung im zwanzigsten Jahrhundert, als deren zentrales Konzept er die „organische Stadt“ identifiziert. Dabei entdeckt er weitreichende Übereinstimmungen hinter so gegensätzlichen städtebaulichen Entwürfen wie Ebenezer Howards „Garden City“ und Le Corbusiers „Radiant City“ und neueren ökologisch inspirierten Entwürfen. Sonja Dümpelmann untersucht den Zusammenhang zwischen städtischen Entwicklungen und dem Wandel der Grünflächen. Beide Artikel geben einen hervorragenden Überblick über Konzepte des Städtebaus wie der Grünplanung.

Im dritten Abschnitt stehen kulturelle Aspekte im Mittelpunkt. Wolfgang Kaschuba beschreibt die Konstruktion der modernen Stadt in Fotografie und Literatur am Beispiel Berlins nach der Jahrhundertwende. Laura Frahm versucht Ähnliches in der Analyse von Stadtfilmen. Despina Stratigakos zeichnet die Wege nach, auf denen Frauen Ende des 19. Jahrhunderts begannen, auch außerhalb des engen Kreises der Privatsphäre sichtbar wirksam zu werden. Kristina Graaff erkennt in der von Schwarzen verfassten Straßenliteratur Belege für die von Loïc Wacquant diagnostizierte Symbiose von hoch segregierten Nachbarschaften armer Schwarzer und dem US-amerikanischen Gefängnissystem. Alexa Färber erprobt an der Untersuchung einer sehr spezifischen Landschaft des Konsums – dem Rauchen von Wasserpfeifen – die Eignung von dichten versus dünnen analytischen Zugriffen und plädiert für eine Kombination von beidem. Tim Opitz schließlich analysiert die Berliner Siegessäule und die Festlichkeiten zu ihrer Einweihung als erste Manifestation Berlins als einer Metropole.

Der Band hinterlässt beim Leser einen zwiespältigen Eindruck. Für sich genommen lohnen fast alle Beiträge die Lektüre. Aber auf die Frage, was denn nun eine Metropole als eine besondere Formation von Stadt von normalen Großstädten und was Metropolenforschung als eine besondere Form der Forschung von normaler Stadtforschung unterscheidet, wird keine überzeugende Antwort gegeben. Es sei, so Margit Mayer in diesem Band, das ausdrückliche Ziel des Forschungsprogramms des Center for Metropolitan Studies, die Differenzen zwischen gewöhnlichen Großstädten und Metropolen herauszuarbeiten. Der größere Teil der hier abgedruckten Artikel aber könnte genauso gut unter Urban Studies respektive Stadtforschung ressortieren. In mehreren Beiträgen ist überhaupt nicht die Rede von „Metropole“, und jene, die das Wort benutzen, könnten ebenso gut von „City“ oder „Großstadt“ schreiben. Der Band hätte durch etwas intensivere Arbeit seitens der Herausgeber gewinnen können. So vermisst man ein einheitliches Literaturverzeichnis. Auch würde der Leser gerne auf einige Wiederholungen verzichten: Die Etymologie von „Metropole“ und Darstellungen der Chicagoer Schule zum Beispiel finden sich in mehreren Beiträgen. Vor allem aber hätten die Herausgeber darauf insistieren müssen, dass die einzelnen Artikel zur analytischen Klärung der Begriffe „Metropole“ und „metropolitan“ beitragen. Nach der Lektüre dieses Bandes weiß man, dass Städte groß, dicht und heterogen sind, und Metropolen halt besonders groß, besonders dicht und besonders heterogen, aber welche qualitativen Unterschiede damit verbunden sein könnten, erfährt man nicht.

„Metropole“ und „metropolitan“ sind beliebte Schmuckworte des Stadtmarketings, nicht zuletzt, weil gerade ein verwaschener aber positiv aufgeladener Begriff sich dafür hervorragend eignet. „Urban researchers in Germany have not disregarded this fact and a number of academic programs of urban studies are being launched, renamed, and promoted under the label of ‚metropolitan studies’.“ (Farias/Stemmler, S. 50) Und wenn „Metropole“ in der überwiegenden Zahl der hier präsentierten Artikel nicht mehr im Kontext von Machtbeziehungen definiert wird, sondern in Kategorien kultureller Differenz, so könnte das den unfreundlichen Verdacht nahelegen, das sei so, weil nur so Berlin den Anspruch erheben kann, im Kreis der Metropolen mitgezählt zu werden.

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