M. Seemann: Kolonialismus in der Heimat

Cover
Titel
Kolonialismus in der Heimat. Kolonialbewegung, Kolonialpolitik und Kolonialkultur in Bayern 1882–1943


Autor(en)
Seemann, Markus
Reihe
Reihe Studien zur Kolonialgeschichte 4
Erschienen
Anzahl Seiten
488 S., 4 Abb.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Becker, Brandeis University

Markus Seemanns Arbeit zu Wirkung und Rezeption des deutschen Kolonialprojektes in Bayern, eine leicht überarbeitete Version seiner an der Universität Augsburg entstandenen Dissertation, versteht sich als Beitrag zu zwei Forschungsfeldern, die relativ selten aufeinander Bezug nehmen: einerseits die jüngere Kolonialgeschichtsschreibung, andererseits die neuere Forschung zum Verhältnis von regionaler und nationaler Identität im Kaiserreich. Das ist eine interessante Kombination, die nicht nur genauer ausloten könnte, in welchem Maße die Phänomene koloniale Expansion und „Weltpolitik“ zur politisch-kulturellen „Nationalisierung“ des föderativen Kaiserreiches beitrugen, sondern vielleicht auch eine Antwort auf die seit einigen Jahren aufgeworfene Frage gibt, wie koloniale Diskurse, Mentalitäten und Praktiken im Kaiserreich (und vielleicht auch darüber hinaus) wirkten und wie weit und wie tief diese in die deutsche Gesellschaft eindrangen.

Seemann geht in seiner Analyse nicht strikt chronologisch, sondern thematisch entlang dreier, etwas unterschiedlich gewichteter Achsen vor: Die erste und längste widmet sich den Organisationen und Aktivisten der Kolonialbewegung, die zweite und kürzeste der Kolonialpolitik des bayerischen Staates, während die dritte Achse den großen Bereich der „Kolonialkultur“ behandelt, unter der Seemann – hier möglicherweise begrifflich etwas vage – alle „kulturelle[n] Manifestationen des Kolonialismus“ versteht (S. 19f.). Mit diesen drei Achsen sind drei unterschiedliche theoretisch-methodologische Zugangsweisen verbunden. Die bayerische Kolonialbewegung wird institutionengeschichtlich, prosopographisch und (kurz )biographisch, die Kolonialpolitik des Hauses Wittelsbach relativ traditionell politikgeschichtlich, die Kolonialkultur hingegen sozial- und kulturhistorisch behandelt.

Im Großen und Ganzen folgte der Kolonialismus in Bayern den gleichen Konjunkturen, die auch reichsweit zu beobachten waren. Organisatorisch konsolidierte sich die Kolonialbewegung in den frühen 1880er-Jahren, als im Gefolge der Reichsgründung und eines sich beschleunigenden internationalen imperialistischen Wettlaufs um die letzten „leeren“ Flecken auf der Weltkarte auch in Deutschland der Ruf nach einem Kolonialreich lauter wurde. Dabei entstanden vor allem in den Städten diverse, teilweise miteinander konkurrierende Vereine von Kolonialinteressenten, die allerdings oft nur geringen Erfolg damit hatten, staatliche Institutionen für ihre Projekte einzuspannen. Dies mag einerseits daran gelegen haben, dass ihre in der Mehrheit bildungsbürgerlichen Führungspersönlichkeiten nicht hinreichend politisch vernetzt waren, andererseits aber auch an dem Umstand, dass diese Bestrebungen meist lokale Angelegenheiten blieben, die sowohl überregional in Bayern als auch mit den Reichszentralen der jeweiligen Verbände in Berlin nur lose verkoppelt waren. Darüber hinaus waren sie selbst vor Ort häufig nicht besonders fest institutionalisiert; Erfolg oder Misserfolg ihrer Aktivitäten hingen stark von dem Engagement und dem Charisma ihres jeweiligen Personals ab.

Dies änderte sich auch nicht, als – nach einer eher lauen Phase von etwa 1890 bis 1904 – das Kolonialreich durch Flotten- und „Weltpolitik“, durch die Aufstände gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Ost- und Südwestafrika und durch die sogenannten „Hottentottenwahlen“ von 1907 im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg wieder häufiger in der öffentlichen Diskussion in Erscheinung trat. Gesellschaftliche und kulturelle Initiativen der verschiedenen kolonialen Interessengruppen erfuhren in diesen Jahren einen deutlichen Aufschwung und leisteten in der Tat einen, wenn auch vergleichsweise kleinen, Beitrag zur „Nationalisierung“ des Kaiserreiches, indem sie eigentlich auf der Reichsebene verankerte Fragen mit regionalen Befindlichkeiten zu verknüpfen und somit überregionale Bezugspunkte in lokalen Alltagswelten zu etablieren suchten. Dies geschah auf durchaus vielfältige Weise. Koloniale Bezugspunkte fanden sich nicht nur in kolonialpolitischen oder landeskundlichen Vorträgen, welche die Kolonialverbände vor Ort organisierten, sondern – und wohl mit größerer Breitenwirkung – in exotisch anmutender Bildsprache und Motiven im Fasching und bei anderen Volksfesten, in ethnographischen Ausstellungen selbst in kleineren Heimatmuseen (bis hin zu einem eigens zu diesem Zweck etablierten Kolonialmuseum in Regensburg), und nicht zuletzt in den Aktivitäten der in Bayern beheimateten Missionsgesellschaften: St. Ottilien auf katholischer, Neuendettelsau und kurzfristig Hersbruck auf protestantischer Seite.

Seemann beschreibt all dies sehr detailliert und auf der Grundlage reichhaltiger Quellen aus zahlreichen Archiven und Sammlungen. Trotz dieser beeindruckenden Forschungsleistung stellt sich jedoch die Frage, ob es über 400 Seiten teilweise kleinstteiliger Lokal- und Regionalgeschichte bedarf, um zu dem letztendlich recht banal erscheinenden Schluss zu kommen, dass „die Geschichte des Kolonialismus in Bayern – vielleicht in noch auffälligerem Maße als die deutsche Kolonialgeschichte überhaupt – als eine Geschichte des Scheiterns kolonialer Utopien und Visionen anzusehen“ sei (S. 423). Denn natürlich entpuppte sich das deutsche Kolonialabenteuer – zumindest jenes außerhalb Europas – als eine mehr oder minder große Enttäuschung, auch und gerade für seine (bildungs-)bürgerlichen Befürworter, die, um mit Max Weber zu sprechen, über den Umweg der Kolonien ihre politische Reife nachzuweisen und ihren Anspruch zur Macht durchzusetzen suchten. Das überseeische Kolonialexperiment – und mit ihm die regionalen Versuche, es zu popularisieren – erwies sich als kurzlebig und fiel, wie auch das politisch-soziale Milieu, in dem es operierte, dem Ersten Weltkrieg zum Opfer.

Dass jene „Utopien und Visionen“, die letzten Endes ins Leere liefen, allerdings keine historiographische Sackgasse sind, deutet Seemann an verschiedenen Stellen an. Eine überzeugende Verteidigung des Forschungsprogramms einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten „neuen Kolonialgeschichte“, die man sich von seiner Studie vielleicht erhofft haben könnte, gelingt ihm dennoch (leider) nicht. Dies mag auch mit zwei seiner Entscheidungen zu tun haben, die zwar forschungspraktisch durchaus verständlich, argumentativ und forschungsstrategisch aber eher unglücklich sind. Erstens wäre, um die Breiten- und Tiefenwirkung von Kolonialideologie und -kultur nachzuzeichnen, eine Erweiterung des Untersuchungszeitraums hilfreich gewesen. Anders als im Untertitel suggeriert widmet Seemann nämlich der Zeit nach dem formalen Ende des deutschen Kolonialreichs nur ein äußerst kursorisches, kaum fünfzehn Seiten kurzes Kapitel. Weder „Utopien und Visionen“ noch Utopisten und Visionäre beugen sich schließlich oft der normativen Kraft des Faktischen, und sie verlieren auch nicht unmittelbar an Einfluss (wie beispielsweise die Geschichte des Nationalsozialismus hinlänglich und fatal bewiesen hat – einer etwas anders ausgerichteten „Kolonialphantasie“, wenn man so will, die etwa zu dieser Zeit in Bayern entstand und durchaus vielen Zeitgenossen zumindest anfangs ungleich hanebüchener erschien). Zweitens hätte Seemann die eingangs angedeuteten Zusammenhänge von Kolonialkultur und regionaler und nationaler politischer Kultur und Identitätsbildung mit einer stärker regionalvergleichenden Perspektive vermutlich überzeugender herausarbeiten können. Denn dass „die Kolonialismen in Bayern – bei allen regionalen und lokalen Besonderheiten – durchaus den Anspruch erheben, repräsentativ für das gesamte Deutsche Reich zu sein“ (S. 426) lässt sich ohne einen Blick über den Weißwurstäquator vielleicht behaupten, aber nicht eindeutig belegen.

So bleibt das hier skizzierte Bild vom „Kolonialismus in der Heimat“ im Ergebnis etwas verschwommen und unterbelichtet: eine handwerklich saubere Qualifikationsarbeit, die für Spezialisten durchaus einiges Interessantes bereithält, aber kein großer Wurf, der Debatten über etablierte Interpretationen der bayerischen und deutschen Geschichte um 1900 bedeutende neue Impulse gibt.

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