: Der Liber Ordinarius des Speyerer Domes aus dem 15. Jahrhundert (Generallandesarchiv Karlsruhe, Abt. 67, Kopialbücher 452). Zum Gottesdienst eines spätmittelalterlichen Domkapitels an der Saliergrablege. Münster 2012 : Aschendorff Verlag, ISBN 978-3-402-11262-5 XX, 184 S. € 29,00

: Liturgie vom Frühen Mittelalter zum Zeitalter der Konfessionalisierung. Studien zur Geschichte des Gottesdienstes. Tübingen 2011 : Mohr Siebeck, ISBN 978-3-16-150941-4 XVII, 430 S. € 99,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tillmann Lohse, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit seiner Aufsatzsammlung „Liturgie vom Frühen Mittelalter zum Zeitalter der Konfessionalisierung“ verfolgt der Tübinger Liturgiewissenschaftler Andreas Odenthal das Ziel, die Spuren, die „gut zwanzig Jahre eigener Forschungstätigkeit hinterlassen“ haben, zu einem „geordneten Ganzen zusammenzufassen“ (S. V). Anders als der Titel vielleicht vermuten lässt, ist dieses Ganze, wie der Autor ausdrücklich betont, keineswegs eine auf Vollständigkeit zielende, organisch oder linear gedachte Entwicklungsgeschichte, sondern ein auf bestimmte Erscheinungsformen des christlichen Gottesdienstes fokussiertes Panorama, dessen Blickwinkel zeitlich vom 7. bis ins 18. Jahrhundert reicht und geographisch im Wesentlichen auf das römisch-deutsche Reich beschränkt bleibt (vgl. S. 19). In insgesamt dreizehn Fallstudien möchte Odenthal auf diese Weise die „rituelle Tradition der Christenheit mit ihren vielen Gefahren [und] Reichtümern“ (S. 13) ausloten, deren Kenntnis nicht zuletzt in der aktuellen, oft emotional und polemisch geführten Debatte über die ‚alte‘ und die ‚neue‘ Liturgie der katholischen Kirche von praktischer Relevanz sei (vgl. S. 3).

In geradezu paradigmatischer Weise wird dieser Anspruch in der Untersuchung über die "Segnung und Auflegung der Asche ‚in capite ieiunii‘" eingelöst, deren Erstdruck 2009 in der Festschrift für Joachim Kardinal Meisner erfolgte. Gestützt auf einen noch unedierten Liber Ordinarius aus dem Kölner Augustinerinnen-Kloster St. Caecilien1, kann Odenthal nämlich nachweisen, dass dort im 15. Jahrhundert die Austeilung der Asche am Beginn der Fastenzeit keineswegs von einem Priester vorgenommen wurde, sondern durch die praelata genannte Äbtissin des Konvents erfolgte. Die 1999 von der deutschen Bischofskonferenz approbierten Regelungen für die Beteiligung von Laien an der Liturgie des Aschermittwochs finden im Mittelalter also durchaus eine – zumindest innerhalb der kölnischen Damenkonvente singulär belegte – Parallele, die freilich von ganz anderen Motiven als den heutigen angetrieben war. Wo gegenwärtig der Priestermangel einerseits und der Andrang der Gläubigen andererseits eine pragmatische Organisation der Austeilung geboten erscheinen lassen, ist der lebensweltliche Hintergrund für die Kompetenzen der praelata von St. Caecilien wohl in den rigorosen Klausurbestimmungen der Ordensschwestern zu erblicken (vgl. S. 143–158).

Bei allem theologischen Impetus des Autors müssen solche, nicht zuletzt aus den Problemlagen der Gegenwart gespeiste Anfragen an die mittelalterliche Überlieferung unbedingt auch das Interesse der Profanhistoriker wecken. Und so wird in Odenthals Aufsatzsammlung unter anderem fündig, wer sich für Bischof Meinwerk von Paderborn als Liturgen, für das gottesdienstliche Leben in den spätmittelalterlichen Pfarrkirchen des Reiches oder den Umgang der reformierten Domkapitel östlich der Elbe mit dem liturgischen Erbe des Mittelalters interessiert (vgl. S. 50–73, 159–206 und 251–364). Die ausgesprochene Quellennähe einerseits und die oft zahlreichen Hinweise auf einschlägige, aber zum Teil abseitig publizierte, ältere Studien machen Odenthals Argumentation dabei auch bei mangelnden Vorkenntnissen stets gut nachvollziehbar und regen zugleich zum eigenständigen Weiterforschen an. Aus diesen Gründen wäre es kaum überraschend, ja sogar wünschenswert, wenn gerade die Bibliotheken der Historischen Seminare und Institute unseres Landes, in denen wohl kaum eine der Abhandlungen im Erstdruck vorhanden sein dürfte, zum Hauptabsatzmarkt für diese gründlich redigierte und mit einem vorzüglichen Personen-, Orts- und Sachregister versehene Aufsatzsammlung avancierten.

Auch wenn Odenthals "Studien zur Geschichte des Gottesdienstes" insgesamt eine bemerkenswerte Spannweite von Erscheinungsformen christlichen Kultus zwischen Frühmittelalter und Konfessionalisierung behandeln, liegt ein gewisser Schwerpunkt doch auf der Feier des Stundengebets im Wandel der Jahrhunderte. Dies bringt es mit sich, dass im Mittelpunkt vieler Beiträge eine Quellengattung steht, deren interdisziplinäre Erschließung und Auswertung der Autor in den letzten Jahrzehnten wie kein Zweiter vorangetrieben hat: die Libri Ordinarii.2 Bei diesen handelt es sich um liturgische Zeremonialbücher, in denen einst in kalendarischer Ordnung festgehalten wurde, welche Lesungen, Gebete und Gesänge in welcher Reihenfolge von wem vorgetragen werden sollten, wann welche Glocken zu läuten und wie der Kirchenraum zu schmücken war. Wie viele solcher Manuskripte sich aus dem Gebiet der einstigen Germania Sacra bis heute erhalten haben, kann beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht einmal näherungsweise beziffert werden; bezeichnenderweise weist Odenthal immer wieder en passant auf bislang ungedruckte, zum Teil auch unbekannte Exemplare hin.3

Ein solches, in der Aufsatzsammlung von 2011 noch nicht erwähntes Exemplar hat Andreas Odenthal nun gemeinsam mit dem Mittelalter-Historiker Erwin Frauenknecht ediert: die Handschrift Karlsruhe, Generallandesarchiv 67/452 (Mitte 15. Jahrhundert), die sich ihrem Leser auf fol. 1r als "register der glockner wie sie die kirche sollent halten mit becleidung der altare vnd ander dinge durch das gantz jare" vorstellt. In der älteren Literatur firmierte das Manuskript noch als ‚Karsthans‘ oder ‚Sakristeibuch‘ des Speyerer Domkapitels (vgl. S. 6 mit Anm. 23). Odenthal und Frauenknecht bezeichnen das Regelwerk stattdessen als ‚Liber Ordinarius Spirensis (LOSp)‘. Die angegebene Begründung fällt zwar etwas lapidar aus (S. 7: „weil sie [die Quelle] die komplexe Liturgie der Domkirche beschreibt“); sie kann sich aber sehr wohl auf zwei gewichtige Argumente stützen: Einerseits überschreiten nämlich die in der Handschrift gesammelten Vorschriften den genuinen Kompetenzbereich der Glöckner/Sakristane an vielen Stellen ganz eindeutig und andererseits überliefert der mittelhochdeutsche Text an etlichen Stellen offenkundig lateinische Rudimente seiner verlorenen Vorlage (vgl. etwa S. 92 Z. 1f., S. 94 Z. 14–19, S. 96 Z. 24f., S. 101 Z. 14f.). Sollte sich die von Odenthal und Frauenknecht vorgeschlagene Bezeichnung deshalb in der Forschung durchsetzen, wäre sie aber – um Verwirrungen zu vermeiden – unbedingt um die Ordnungszahl ‚II‘ zu ergänzen. Mit dem Codex 1882 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien hat sich nämlich ein Regelwerk des 13. Jahrhunderts erhalten, das ebenfalls mit Fug und Recht als (ein älterer) Liber Ordinarius des Speyerer Domkapitels gelten kann4 und das dementsprechend mit der Sigle ‚LOSp I‘ versehen werden müsste.

Ganz unabhängig von der bis heute nicht befriedigend gelösten Frage nach der typologischen Abgrenzung von Libri Ordinarii und Mesnerbüchern, darf der LOSp II jedoch zweifellos als ein besonders aufschlussreiches „Regiebuch“5 für den Chordienst gelten. Zwar sind die Initien für die Gesänge, Gebete und Lesungen der kanonischen Horen – im Gegensatz etwa zum LOSp I oder anderen Kathedral-Ordinarien – keineswegs vollständig aufgeführt. Dafür wird aber nicht nur die Ausschmückung des Kirchenraums, sondern vor allem auch das (para-)liturgische Personal mit seinen spezifischen Aufgaben in einer beispiellosen Ausführlichkeit erörtert: die Priester, die Sänger, die Halbpfründner, die Stuhlbrüder, die Kämmerer, die Dormenter, die Glöckner, die Brotschüler, die Knechte, aber auch der Erzpriester, der Schulmeister, der Organist, der Küstergehilfe, der Totengräber usw. Wie lebensnah die an sich natürlich normative Quelle konzipiert ist, erkennt man z. B. an der Behandlung der Pausenregelungen, die für die Glöckner galten; etwa wenn es heißt, am Aschermittwoch solle man die erste Komplet läuten "eyn halbe stunde oder eyn wenig me, vnd darnoch hat man eyn spatium" (S. 72). Mit anderen Worten: Es handelt sich um einen Text, der nicht nur für Liturgie-, Bau-, Kunst- und Textilhistoriker von großem Interesse sein muss, sondern der auch spannende Einblicke in die Alltagsgeschichte eines spätmittelalterlichen Domkapitels erlaubt.

Wie wertvoll der LOSp II als historische Quelle ist, war unter Lokalhistorikern natürlich seit Langem bekannt. Doch im Laufe des 20. Jahrhunderts scheiterten nicht weniger als drei Editionsversuche aus heute nur noch vage zu ermittelnden Gründen (vgl. S. 13–15). Umso verdienstvoller ist es, dass Odenthal und Frauenknecht nicht allein den vollständigen Wortlaut des bislang nur punktuell zitierten "register der glockner" im Druck zugänglich gemacht, sondern durch die penible Erfassung der Streichungen, Interlinearglossen und Marginalien auch die textuelle Beweglichkeit des LOSp II offengelegt haben.6 Schade nur, dass der Edition keinerlei Abbildungen der Handschrift beigegeben sind. Sie hätten wohl die Fluidität des Textbestands im Laufe der Jahrhunderte deutlicher als jede Fußnotenansammlung veranschaulicht, vor allem aber auch die enorme Leistung der Editoren beim Entziffern und Zuweisen der zahllosen, bis ins 17. Jahrhundert reichenden Korrekturen und Nachträge eindrucksvoll vor Augen geführt.

Als sehr nützlich erweisen sich dagegen die beiden im Anhang nachgedruckten Aufriss- und Grundrisspläne von Clemens Kosch, die den Bauzustand und die liturgische Nutzung des Speyerer Domes in der Mitte des 13. Jahrhunderts rekonstruieren. Sie erleichtern das Verständnis der Quelle ganz enorm und flankieren auch vortrefflich die einleitenden Überlegungen zur Sakraltopographie des Speyerer Domes, in denen Odenthal versucht, aus dem rekonstruierten Patrozinienschema der Haupt- und Nebenaltäre eine theologische Grundkonzeption des von Konrad II. initiierten Kirchenbaus zu destillieren, die aufs engste mit dem salischen Herrscherhaus, seinem König- und Kaisertum und seiner Grablege verknüpft gewesen sei.7

Die beiden Herausgeber haben ihre Edition mit dem Wunsch verbunden, die Erforschung des Speyerer Domes möge durch die Bereitstellung einer zentralen Quelle einen „kräftigen Anschub“ (S. V) erhalten. Für die Erfüllung dieser Hoffnung haben sie nicht zuletzt durch drei ausführliche Register, die mit ihren bei Bedarf beigegebenen Worterläuterungen zugleich die Funktion eines Glossars erfüllen, die besten Voraussetzungen geschaffen.

Anmerkungen:
1 Eine Edition der Handschrift (Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Codex 94 in scrinio) wird vorbereitet durch Herrn Dipl.-Theol. Tobias Kanngießer (Bonn).
2 Vgl. Andreas Odenthal / Albert Gerhards (Hrsg.), Märtyrergrab, Kirchenraum, Gottesdienst I: Interdisziplinäre Studien zur ehemaligen Stiftskirche St. Gereon in Köln, Siegburg 2005; Dies. (Hrsg.), Märtyrergrab, Kirchenraum, Gottesdienst II: Interdisziplinäre Studien zum Bonner Cassiusstift, Siegburg 2008.
3 Vgl. S. 71f. mit Anm. 99; S. 75, Anm. 3; S. 78 mit Anm. 22; S. 103 mit Anm. 2; S. 145 mit Anm. 10; S. 284 mit Anm. 8 und 10; S. 286 mit Anm. 25; S. 343, Anm. 33.
4 Vgl. Alois Lamott, Codex Vindobonensis 1882. Ein Liber Ordinarius des Speyerer Domes aus dem 13. Jahrhundert, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 13 (1961), S. 27–48. Nach Odenthal / Frauenknecht (S. 13, Anm. 68) handelt es sich bei dieser Handschrift um einen Ordinarius der Diözese (und nicht der Kathedrale) Speyer. Das Verhältnis der beiden Regelwerke zueinander wäre indes noch eingehender zu prüfen.
5 Diese treffende Charakterisierung der Libri Ordinarii geht zurück auf Balthasar Fischer, Die jährliche Schiffsprozession des mittelalterlichen Trierer Dom- und Stiftsklerus auf der Obermosel, in: Trierisches Jahrbuch 5 (1954), S. 6–12, hier S. 6.
6 Zu dieser methodischen Herausforderung siehe Tillmann Lohse, Der Liber Ordinarius als ‚unfester Text‘. Drei editorische Maximen, in: Helmut Flachenecker / Janusz Tandecki (Hrsg.), Editionswissenschaftliches Kolloquium 2011. Quellen kirchlicher Provenienz – Neue Editionsvorhaben und aktuelle EDV-Projekte, Toruń 2011, S. 125–144.
7 Vgl. S. 16–36. Ausführlicher dazu bereits: Andreas Odenthal, Gottesdienst, Sakraltopographie und Saliermemorie. Zum Liber Ordinarius des Speyerer Domes aus dem 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 122 (2011), S. 20–51.

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