Ch. Camic u.a. (Hrsg.): Social Knowledge in the Making

Titel
Social Knowledge in the Making.


Herausgeber
Camic, Charles; Gross, Neil; Lamont, Michèle
Erschienen
Chicago, London 2011: University of Chicago Press
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 25,04
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Karin Bürkert, Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen

Der Titel des Sammelbandes der US-amerikanischen Soziolog/innen Charles Camic, Neil Gross und Michèle Lamont provoziert zunächst die Frage nach dem Forschungsgegenstand: Die Herausgeber/innen beziehen sich mit „social knowledge“ weder auf das Wissen, das in sozialen Netzwerken wie Facebook zirkuliert, noch auf implizites Alltagswissen. Die offene und komplexe Definition von „social knowledge“ umfasst vielmehr Praktiken, Verhaltensweisen und Einstellungen einzelner Akteur/innen sowie Eigenschaften und Prozessualitäten („properties and processes“, S. 3) sozialer Gebilde wie Organisationen, Netzwerke und Märkte. Zu den Produzent/innen dieses Wissens zählen die Autor/innen sowohl in wie außerhalb der Universität situierte Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaftler/innen, aber auch Journalist/innen, Jurist/innen, Berater/innen usw. – kurz „creators and distributors of varieties of human knowledge that fall beyond the bounds of the natural sciences“ (S. 3). Das prozessuale „in the making“ greift die praxeologische Analyseperspektive der Science and Technology Studies (STS) auf, die den im Band versammelten 13 Beiträgen gemein ist. Diese Blickrichtung verdeutlicht, dass jedes Wissen auf sozialen Produktionslogiken beruht und insofern nicht „entdeckt“, sondern „gemacht“ wird. Im Gegensatz zu naturwissenschaftlichem und technologischem Wissen ist die Produktion des hier in den Blick genommenen sozialen Wissens nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung, sondern auch in der Wissenschaftsforschung selbst bisher weitgehend „unsichtbar“ geblieben.1 Der vorliegende Band trägt dazu bei, diese Forschungslücke mit theoretisch wie empirisch fundierten Studien zu füllen, die auf Expeditionen in verschiedene Bereiche gegenwärtiger wie historischer Genese und Anwendung von „social knowledge“ mitnehmen. Namhafte Autor/innen verschiedener Disziplinen wie unter anderem Anthony Grafton, Marilyn Strathern und Karin Knorr-Cetina bieten in den drei Teilen „Knowledge Production in the Disciplines“, „Knowledge Evaluation Sites“ und „Social Knowledge beyond the Academy“ vielfältige Einblicke in die Produktion, Bewertung und den Transfer sozialen bzw. gesellschaftlichen Wissens. Um zu veranschaulichen, wie dies geschieht, werden im Folgenden aus jedem Bereich beispielhaft einzelne Studien vorgestellt.

Auch nach dem „practical turn“ in den STS Mitte der 1980er-Jahre sind Praktiken des Sammelns, Aufbewahrens und Ordnens in den Sozial- und Humanwissenschaften bislang nur ansatzweise beleuchtet worden. Im Mittelpunkt des Beitrags der Wissenschaftshistorikerin Rebecca Lemov stehen daher „datenhungrige“ („data-hungry“, S. 123) Wissenschaftler, vor allem der Anthropologe George Peter Murdock (1897–1985), der es sich zur Aufgabe gemacht hat, materielle und immaterielle Güter des Menschen und seiner Umwelt in toto zu archivieren („filing the total human“, S. 119). Die Leser/innen erhalten tiefe Einblicke in die Arbeit Murdocks, dessen evolutionstheoretischer und positivistischer Denk- und Arbeitsstil in Konflikt mit den Arbeitsweisen der Kulturanthropolog/innen um Franz Boas stand. Lemov beschreibt, wie Murdocks Projekt durch das Sammeln von Daten über die menschliche Psyche weiterentwickelt werden sollte und wie der Versuch scheiterte, verschiedene Sammlungen zu einem allumfassenden Archiv menschlichen Lebens zusammenzuführen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Expansion digitaler Sammlungen schreibt Lemov eine lesenswerte Historie anthropologischer Archive und Enzyklopädien in den USA und analysiert dabei die wechselseitige Beeinflussung von Theorieentwicklung und Sammlungspraktiken.

In der spannenden Geschichte, die Neil Gross und Chrystal Fleming in ihrem Beitrag erzählen, erkennen sich vermutlich viele Wissenschaftler/innen wieder. Auf der Basis von Interviews haben sie Wissenspraktiken im Zusammenhang mit Konferenzen und Tagungen erhoben. Die Leser/innen begleiten einen Politikphilosophen bei der Vorbereitung seines Papers für eine interdisziplinäre Konferenz. Sie erfahren, dass auf Konferenzen nicht etwa nur bestehendes Wissen vorgetragen wird, sondern diese oft erst den Anlass zum Ausformulieren zentraler Fragestellungen und Ergebnisse liefern („binding oneself to the mast“, S. 168). Die ritualisierten Abläufe und rhetorischen Strategien, mit denen Wissen während des Vortrags und der anschließenden Diskussion verhandelt wird, wurden von Gross und Fleming zwar leider nicht untersucht, dafür aber das Vorbereiten und Erstellen des Papers zu Hause, im Flugzeug und in der Nacht vor dem Vortrag im Hotel. Die Autor/innen zeigen eindrücklich, mit welchen subjektiven Erwartungen, unter welchen Bedingungen und mittels welcher sozialen Austauschmechanismen hier Wissen erzeugt wird.

Der zweite Teil des Buches beinhaltet drei Aufsätze, die sich mit der Evaluation sozialen Wissens befassen. In einem davon wirft Marylin Strathern einen kritischen Blick darauf, wie antizipierte Bewertungskriterien die Konzeption von Forschungsanträgen strukturieren. Interdisziplinarität und Kollaboration würden von Organisationen der Wissenschaftsförderung zunehmend gefordert und zu akademischen Werten per se stilisiert, die mit Erwartungen an anwendungsorientiertes Wissen einhergehen. Wie kollaborative Zusammenarbeit im Einzelnen aussehe und mit welchen Mitteln Wissenschaft und Gesellschaft zusammengebracht werden könnten, bleibe im Antrag aber meist unklar. Auch Strathern baut ihre Analyse auf einem empirischen Szenario auf. Der „Genetics Knowledge Park“, ein von 2002 bis 2007 vom britischen Staat gefördertes Projekt, sollte genetische Forschung, medizinische Anwendung, ethische Reflexion und sozialwissenschaftliche Expertise verbinden. Ein im Antrag formuliertes Ziel war außerdem, die gemeinsam formulierten Erkenntnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Strathern stellt die im Antrag formulierten „spekulativen Synergien“ (S. 268ff.) der alltäglichen Arbeitspraxis gegenüber und zieht ein ernüchterndes Resümee: Im Effekt haben die Erwartungen der Geldgeber und des Managements an interdisziplinäre Zusammenarbeit ebendiese verhindert. Sie untersucht dabei auch, warum gerade der Beitrag der Sozialwissenschafter/innen diese Erwartungen enttäuschte, und liefert damit einen instruktiven Beitrag zur Analyse sozialwissenschaftlicher Wissenskultur.

Im dritten Abschnitt des Bandes widmen sich weitere fünf Beiträge der Herstellung und Anwendung sozialen Wissens jenseits der Universität. Das bemerkenswerteste Merkmal der Moderne sei unsere Abhängigkeit von Entscheidungsträgern „to know what is good for us“ (S. 307), so die Professorin für STS Sheila Jasanoff in ihrem Beitrag über die Praktiken der Objektivierung und Stabilisierung regulativen Wissens. Vor allem globales Wissen zeichne sich durch eine große Instabilität und einen hohen Anteil impliziter Praktiken aus, durch die Glaubwürdigkeit mittels Objektivität generiert werde. Diese herzustellen beruhe auf harter Arbeit, die kulturell situiert, umstritten und an verschiedenen Orten und auf verschiedenen Ebenen stattfinde (vgl. S. 308). Diese Beobachtung macht Jasanoff an drei ausdifferenzierten Analysebeispielen fest: einem Vergleich nationaler politischer Kultur, an verschiedenen Verwaltungspraktiken, wie beispielsweise der gerichtlichen Überprüfung administrativer Entscheidungen, und an der Konstruktion von Objektivität am Beispiel der World Trade Organization (WTO). Sie deckt durch ihre ethnografisch wie soziologisch informierte Untersuchung die Schutzmechanismen auf, durch die die WTO ihre Wissenshoheit bei der Risikoeinschätzung neuer Technologien unhinterfragbar zu machen versteht.

Auch Finanzmarktanalysten und -berater produzieren soziales Wissen. Wie aktuell zu sehen ist, beeinflusst beispielsweise die Expertise von Rating Agenturen das Verhalten, das Handeln und die Beziehungen zwischen nationalen Institutionen und Repräsentant/innen. Was bedeutet „analysieren“ in dieser informationsbasierten und anwendungsorientierten Wissenschaft? Karin Knorr-Cetina geht in einer analytisch dichten Studie den epistemischen Eigenschaften („epistemic features“, S. 408) der Finanzmarktanalyse auf den Grund. Sie legt diese anhand von drei Konzepten dar, die sich unter den Schlagworten Informationsfluss, affektives vs. rationales Handeln und Stellvertretungscharakter der Analyse zusammenfassen lassen. Mittels historischer und kontemporärer empirischer Daten verdeutlicht Knorr-Cetina, dass die (digital bereitgestellten) Informationen wie zum Beispiel der „Consumer Confidence Index“ (S. 410), mit denen die Analysten arbeiten, einem ständigen Verfall unterliegen und diskutiert die epistemischen Konsequenzen dieser Zeitlichkeit. Weiter untersucht sie, wie sich die aus der existenziellen Involviertheit aller Beteiligten hervorgehende emotionale Energie der Finanzmärkte (vgl. S. 422) auf das Handeln der nur scheinbar außenstehenden Analysten auswirkt. Ausführlich beschreibt Knorr-Cetina verschiedene Informationstypen, auf denen das analytische Wissen der Finanzberater basiert. Gefragt sind neben Statistiken auch ethnografische und prognostische Daten, auf die sich die Experten verlassen müssen. Im Ergebnis, so die Autorin, konsumieren die Analysten Informationen und verzichten damit auf die Möglichkeit, eigene Fragen zu generieren.

Das breite, wenn auch nicht ganz eindeutig definierte, Verständnis der Herausgeber/innen von „social knowledge“ und die interdisziplinäre Ausrichtung des Bandes machen die präsentierten Forschungen hochgradig anschlussfähig. Dabei verhindert der konsequent verfolgte praxisorientierte Zugang eine Beliebigkeit der Zusammenstellung. Die abwechslungsreiche Auswahl von Analysen wissensgenerierender Praktiken von der Bibliotheksrecherche bis zum Marktdesign sind so für den wachsenden Forschungsbereich der reflexiven Wissensanthropologie genauso interessant wie beispielsweise für die Wirtschaftsanthropologie, die Organisations- oder die politische Alltagskulturforschung.

Anmerkung:
1 Ulrike Felt, Die „unsichtbaren“ Sozialwissenschaften: Zur Problematik der Positionierung sozialwissenschaftlichen Wissens im öffentlichen Raum, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Sonderband 5 (2000), S. 177–212.

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