U. Freitag u.a. (Hrsg.): The City in the Ottoman Empire

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Titel
The City in the Ottoman Empire. Migration and the Making of Urban Modernity


Herausgeber
Freitag, Ulrike; Fuhrmann, Malte; Lafi, Nora; Riedler, Florian
Reihe
Routledge Studies on the Middle East
Erschienen
London 2011: Routledge
Anzahl Seiten
269 S.
Preis
£85.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nenad Stefanov, Südosteuropäische Geschichte, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert ist schon seit geraumer Zeit geprägt von einem Zugang, der die klassische Darstellung des „Verfalls“ hinter sich gelassen hat. An die Stelle hergebrachter Erzählungen vom imperialen Untergang und nationalen Aufstieg rücken zunehmend Fragen nach der Stabilisierung und Veränderung von Herrschaft, etwa vermittels der Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie im Vergleich während der Zeit der Reformen1 oder nach Veränderungen von Loyalitäten.2 So zielen auch die HerausgeberInnen dieses Bandes auf eine Geschichte der osmanischen Gesellschaft, die solche Zuschreibungen hinter sich lässt. Die Geschichte der Stadt im Osmanischen Reich eignet sich dazu geradezu paradigmatisch. Vermittels der Analyse von urbanem Wachstum und Migration fokussieren die HerausgeberInnen die Epoche der Reformen, der so genannten Tanzimat (Anordnungen), die insbesondere zwischen 1839 (Hatt-ı Şerif von Gülhane) und 1876 (Verfassung) an Dynamik gewannen. Auf diese Weise vermittelt sich ein plastisches Bild einer Gesellschaft, die in Bewegung gerät, der Möglichkeiten und der Grenzen der Reformen.

Dabei spannt der Band einen weiten Bogen über das gesamte Osmanische Reich, vom heutigen Nordbulgarien, der damaligen „Musterprovinz“ Tuna/Dunav Vilayet, bis hin zu der bedeutenden Hafenstadt Djedda und den Städten an der Golfküste der arabischen Halbinsel. Die einzelnen Case Studies dienen als methodische und interpretative Verbindung zwischen dem jeweils spezifischen sozialen Kontext und dem allgemeinen Prozess der Etablierung neuer staatlicher Institutionen im gesamten Osmanischen Reich. Wie es seitens der HerausgeberInnen heißt, handelt es sich um eine „Journey into Ottoman, circum Ottoman, post-ottoman migrations“ (S. 7). Der Band bietet „a glimpse of a transitional period […] and the dilemmas faced by the Empire and the individuals alike in coping with the governance of the phenomenon of migration“. Darin klingt schon an, dass diese Prozesse auch vor dem Hintergrund gegenwärtiger Migration reflektiert werden.

In einem einleitenden Beitrag entwirft Nora Lafi mögliche Untersuchungsfelder und entwickelt den methodischen und theoretischen Zugang, der dem Band zugrunde liegt. So hebt Lafi hervor, dass der in einzelnen Beiträgen immer wieder aufscheinende Bezug auf ähnliche Prozesse in Europa nicht als Gegenüberstellung gedacht ist. Vielmehr bietet sich nach Lafi dadurch die Möglichkeit verschiedene Perspektiven auf städtische Entwicklung und Migration vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Osmanischen Reich zu diskutieren. Gerade im Hinblick auf die bisherige Darstellung der Tanzimat-Epoche betont Lafi die Notwendigkeit, nicht allein die Perspektive der Reformer als gleichsam selbstverständlichen Ausgangspunkt zu wählen; diese ist mittlerweile etablierter Gegenstand der Forschung zu den Tanzimat-Reformen. Ebenso wichtig ist die Thematisierung der Perspektive der Individuen auf die Reformen, soweit sich diese durch die Quellen erschließen lässt. Diese sollte integraler Bestandteil der Reflektion über die Tanzimat sein, da in dieser Epoche auch die Rolle der Individuen im gesellschaftlichen Alltag bedeutende Veränderungen erlebte.

Die Gesellschaft der Tanzimat-Zeit, Vorstellungen und Handlungsformen lassen sich gerade vermittels der Thematisierung von Migration erschließen, da beispielsweise die Formen, in denen Neuankömmlinge integriert wurden, viel über das Selbstverständnis gesellschaftlicher Gruppen verraten können. Oder etwa wie vermittels der Regelungen zur Bewegungsfreiheit auch die Präsenz des Staates in den einzelnen Regionen, bzw. Städten erschlossen werden kann, die nach den Vorstellungen der Tanzimat-Protagonisten deren Macht im Lokalen neuartig und nachhaltig verankern sollte. Damit verbindet sich ebenso die Analyse von Veränderungen und Persistenz lokaler Herrschaft und die Frage, inwieweit die Reformen zur Öffnung der lokalen Gesellschaften beitragen. Schließlich schlägt Lafi eine Typologie der verschiedenen Formen von Migration und Migranten vor, etwa im Hinblick auf Nomaden, Marginalisierte und „displaced persons“, gleichwohl einschränkend, dass solche Typologien immer auch von dem Blick der Beamten geprägt waren, die solche Zuschreibungen entwickelten.

Im Anschluss analysiert Tetsuya Sahara die Veränderungen in den Städten des Osmanischen Reiches zur Zeit der Tanzimat. Dabei konzentriert er sich auf das erwähnte „Muster-Vilayet“ Tuna/Dunav, in dem die Einrichtung neuer herrschaftlicher Institutionen im Hinblick auf deren Anwendung im gesamten Reich ab 1864 erprobt werden sollte. So erschließen sich vermittels der Darstellung der Beziehung zwischen Stadt und Migration notwendig Strukturen der Veränderung von Herrschaft und Erweiterung von Partizipation in den Städten. Die Veränderung der städtischen Bevölkerungsstruktur im 19. Jahrhundert, insbesondere die von einer Zunahme der christlichen Bevölkerung, vor allem aus dem Umland, werden von Sahara ursächlich mit den Reformen der Tanzimat in Beziehung gesetzt. Basierend auf einer detaillierten Beschreibung der neuer Formen der Partizipation, angefangen von neuen Stadträten, in denen nun auch die christliche Bevölkerung vertreten war, über eine neue regionale Gerichtsbarkeit, die Errichtung von Schulen, Krankenhäusern, Manufakturen und insbesondere eines neuen Kommunikationsnetzes zwischen den Städten, das von dem Gouverneur und energischen Reformer Midhat Paşa vorangetrieben wurde, stellt Sahara die These auf, nicht das Zentrum, sondern die Provinz sei das Modell für die Reformen, die von dort ihre Strahlkraft bezogen. Schließlich wirkten Sahara zufolge die Reformen von Ruscuk (heute: Russe), dem Zentrum des Tuna-Vilayets, aus, nicht von Istanbul.

Insgesamt ermöglicht der Zugang über das Thema Migration, gesellschaftliche Konflikte jenseits nationaler Zuschreibungen zu analysieren. Wie Auseinandersetzungen um Partizipation und Zugehörigkeit ausgetragen werden, ohne allein nationale Raster über diese Entwicklungen zu legen, zeigt der Beitrag von Florian Riedler über die Arbeitsmigration von Armeniern nach Istanbul in den 1890er-Jahren. Religiöse und nationale Zuordnungen entwickelten sich damit in Konstellationen der Stadtgesellschaft, sind diesen nicht abstrakt übergeordnet. Riedler zeigt anschaulich wie sich schlagartig die Bedingungen von Migration und Aufenthalt in der osmanischen Metropole durch die Auslösung von Gewalt verändern. Bombenattentate armenischer Terroristen initiierten eine Dynamik, in der ausschließlich konfessionelle und ethnische Zugehörigkeiten wichtig wurden und das feingesponnene Gewebe städtischer Netzwerke jenseits dieser Kategorien empfindlich verletzen. Riedler kann aber auch zeigen, dass sich solche Gewalt nicht entscheidend durchsetzt, höchstens punktuell ein Ventil für Konkurrenzen der einzelnen Gewerke sein konnte, deren Arbeiter aus verschiedenen Regionen des Osmanischen Reiches stammten.

Hier – wie auch in dem Beitrag von Pascale Ghazaleh zu Kairo unter der Herrschaft Mohammad Alis – wird die Bedeutung regionaler Zugehörigkeit als ein entscheidendes Kriterium für die gelingende oder ausbleibende Integration in die Stadtgesellschaft deutlich. In ihrer Fallstudie über konkurrierende Händlernetzwerke aus Nordafrika und Syrien veranschaulicht Ghazaleh, dass es weniger konfessionelle Kriterien, als vielmehr regionale Herkunft und Vernetzung sind, die über Integration und Aufstieg in der Stadtgesellschaft entschieden. Diesen Zugang wählen mehrere der hier versammelten Fallstudien, die die Dimension des Regionalen stärker gewichten als religiöse oder ethnische „Herkunft“. Nelida Fucaro veranschaulicht umgekehrt anhand der „Pearltowns“ an der arabischen Küste des Persischen Golfes das Bestreben der Migranten möglichst schnell Teil der Stadtgesellschaft zu werden, indem diese von einer „Rückkehr“ in die „alte Heimat“ sprachen.

In einem weiteren Überblicks-Beitrag analysiert Christoph Herzog die Formen der Steuerung der Migration, der Bewegung der Untertanen im Osmanischen Reich. In dieser beeindruckenden Übersicht über die Kontrollformen von Bewegungsfreiheit arbeitet Herzog insbesondere mit einem Vergleich mit der Donaumonarchie das Regime „interner Pässe“ (Teskere) heraus, das bis 1879 in Verwendung blieb. Diese waren für jeden Reisenden obligatorisch, doch dienten sie auch dazu, eigenständige Migration etwa der Landbevölkerung von ihren Timaren (Landgütern) zu verhindern. Ebenso sollte der Zuzug nach Istanbul mit solchen internen Teskere in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begrenzt werden. Während der Tanzimat erfolgte die Standardisierung der Teskere. Im Ganzen war bis zu den 1830er-Jahren die „situational, unsystematic and potentially contradictory passport legislation“ des Habsburger Reiches vergleichbar mit jenem im Osmanischen Reich (S. 130). Mit der Epoche der Tanzimat sieht Herzog eine zunehmende Verschiebung von Steuerung zu Repression („from Prevention to Repression“, S. 131), die sich insbesondere gegen Vagabunden und Bettler richtete. Damit eröffnet sich zugleich ein neues Forschungsfeld. Auf der Grundlage seiner Quellenstudien zur Gesetzgebung und Verfügungen zur Bewegungsfreiheit stellt Herzog abschließend die Frage nach der Wirkungsmacht dieser Maßnahme auf die spätosmanische Gesellschaft.

Während der Großteil der Beiträge Migration innerhalb des Osmanischen Reiches untersucht unternimmt Malte Fuhrmann eine faszinierende Erkundung der Motive und des Selbstverständnisses von Migranten aus West- und Zentraleuropa in das Osmanische Reich. Mit viel Umsicht gelingt Fuhrmann die Darstellung des heute exotisch anmutenden Unternehmens der Auswanderung ins Osmanische Reich, das aus der Perspektive der Auswanderer eine rationale Option war. Fuhrmann vermag dabei die Oszillationen zwischen Annäherung, Schüben essentialisierender Distanzierung, nachträglicher Exotisierung in den Memoiren der Auswanderer – etwa der Gastwirtin aus Zentraleuropa, dem Nachfahren deutscher protestantischer Missionare – derart plastisch nachzuzeichnen, dass jenes Spannungsverhältnis zwischen Erfahrung von Differenz und deren Reflektion seitens Migranten erahnbar wird.

Dass die Beiträge heterogen sind, bringt das Thema mit sich, ist doch gerade Migration und Stadt von Projektionen, Zuschreibungen, Verflechtung wie auch Abwehr geprägt. Dabei erschließt sich allerdings manches Mal die Bedeutung eines Beitrages im Kontext des Sammelbandes nicht unmittelbar, wie jener zur Integration von Migranten in das urbane Geflecht Marseilles in der frühen Neuzeit. Auch der Beitrag zu Athen in den ersten Jahren der Unabhängigkeit, in das nun Handwerker aus allen Teilen (eines prospektiven) Griechenlands strömen, erinnert in seiner Metaphorik, in der die zukünftige Hauptstadt buchstäblich von Griechen aus allen Teilen des Landes „gebaut“ wird, eher an klassische nationale Meistererzählungen.

Insgesamt wird aber ein Themenspektrum entwickelt, dass gerade im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit einzelnen Regionen des Osmanischen Reiches den Blick über den jeweiligen regionalen Tellerrand fördert und die Bandbreite an Formen von Migration und Integration in die Stadtgesellschaft in den verschiedenen Gebieten anschaulich vermittelt. Zugleich bietet der Band ein wichtiges Fundament für eine theoriegeleitete Auseinandersetzung mit Migration und Urbanität in der Epoche der Reformen im Osmanischen Reich.

Anmerkungen:
1 Vgl. Maurus Reinkowski, Die Dinge der Ordnung. Eine vergleichende Untersuchung über die osmanische Reformpolitik im 19. Jahrhundert, München 2005.
2 Vgl. Hannes Grandits / Nathalie Clayer / Robert Pichler (Hrsg.), Conflicting Loyalities in the Balkans. The Great Powers, the Ottoman Empire and Nation Building, London 2011.

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