Täter in nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern

Benz, Angelika; Vulesica, Marija (Hrsg.): Bewachung und Ausführung. Alltag der Täter in nationalsozialistischen Lagern. Berlin 2011 : Metropol Verlag, ISBN 978-3-86331-036-3 208 S. € 19,00

: Die Angehörigen des Kommandanturstabs im KZ Sachsenhausen. Sozialstruktur, Dienstwege und biografische Studien. Berlin 2011 : Metropol Verlag, ISBN 978-3-86331-007-3 284 S. € 22,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karin Orth, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Der von Angelika Benz und Marija Vulesica herausgegebene Band „Bewachung und Ausführung – Alltag der Täter in nationalsozialistischen Lagern“ versammelt die Beiträge einer gleichnamigen Tagung, die im Juli 2010 in Berlin stattfand. Der Anspruch des Buches ist es, so formulieren die beiden Herausgeberinnen im Vorwort, Erkenntnisse zu gewinnen über „die Zusammensetzung, die Aufgaben und den Alltag der Wachmannschaften“ in den nationalsozialistischen Lagern (S. 8). Michael Wildt leitet den Band mit einem Überblick zur „NS-Täterforschung“ ein, Barbara Distel gibt abschließend einen Ausblick über die „Täter in der Erinnerung an das Konzentrationslager Dachau“. Dazwischen stehen zwölf überwiegend von Nachwuchswissenschaftler/inne/n verfasste Beiträge, in denen der zeitliche Schwerpunkt meist auf der zweiten Kriegshälfte liegt. Behandelt werden höchst unterschiedliche Regionen und Orte nationalsozialistischer Vernichtungspolitik: Konzentrationshauptlager, „Zwangsarbeitslager für Juden“ im Distrikt Krakau, das Arbeits-, Transit-, Sammel- und Vernichtungslager Jasenovac in Kroatien, Ghettos, Lager und Erschießungsplätze in Transnistrien, ein Kinderhort im kroatischen Jastrebarsko, die besetzte Sowjetunion, SS-Verwaltungsdienststellen und KZ-Kommandanturen, KZ-Außenlager und -Außenkommandos, die Vernichtungslager Majdanek und Auschwitz.

So unterschiedlich wie der räumliche Zugriff sind auch die thematisierten Akteursgruppen: Es geht um die Wachmannschaften in den KZ-Stammlagern, die Kommandanten der „Zwangsarbeitslager für Juden“, das Ustascha-Personal in Kroatien, um die arbeitsteilige Täterschaft von Mitgliedern der SS-Einsatzgruppe D, der Wehrmacht sowie der Organisation Todt mit Angehörigen der rumänischen Armee, Gendarmerie sowie Polizei beim Judenmord in Transnistrien, um die die Kinder von Jastrebarsko beaufsichtigenden Ordensschwestern, um Hilfskräfte für die deutsche Wehrmacht und Polizei in der besetzten Sowjetunion, um SS-Helferinnen, um Wehrmachtsangehörige bzw. „Volksdeutsche“, die in der letzten Kriegsphase zum Wachdienst in die KZ-Außenlager abgestellt wurden, sowie um die Trawniki-Männer. Betrachtet man die Beteiligung dieser Personengruppen an der NS-Vernichtungspolitik, so zeigt sich eine weite Spanne. Sie reicht vom eigenhändig und auf sadistische Weise verübten Massenmord an Zehntausenden – so das Beispiel von Modest Isopescu, der im Landkreis Golta sein Unwesen trieb (Beitrag von Svetlana Burmistr über den Holocaust in Transnistrien, S. 84) – bis hin zu den SS-Helferinnen, von denen bislang keine individuelle Tatbeteiligung bekannt ist (Beitrag von Jutta Mühlenberg über das SS-Helferinnenkorps im Umfeld der Konzentrations- und Vernichtungslager, S. 120).

Mit Ausnahme des auch in methodischer Hinsicht lesenswerten Beitrages von Elissa Mailänder über den (Mord-)Alltag im Vernichtungslager Majdanek schreiben die Beiträge eine klassische Strukturgeschichte: Geschildert werden die wesentlichen Etappen der jeweiligen Lagergeschichte bzw. Vernichtungspolitik, die Entwicklung der Häftlingszahlen und Sterblichkeitsraten sowie – soweit aufgrund der Quellenlage überhaupt möglich – Rekrutierung, Sozialstruktur und Aufgaben der betrachteten Akteursgruppe(n). Der „Alltag der Täter“ jedoch, um den es doch laut Titel und Vorwort gehen soll, wird nicht systematisch und schon gar nicht vergleichend untersucht – entweder weil die dafür notwendigen Quellen nicht überliefert oder noch nicht ausgewertet sind, vor allem aber, weil erst einmal die grundlegenden Rahmenbedingungen für das Handeln der Akteure rekonstruiert werden (müssen). So bleiben die für sich genommen interessanten Aufsätze nicht nur ganz an der Strukturgeschichte orientiert, sondern sie stehen auch unverbunden nebeneinander. Ihnen liegt keine gemeinsame Fragestellung, keine auf den Vergleich zielende Konzeption oder Methode zugrunde, die nötig gewesen wären, um die höchst unterschiedlichen Personengruppen in ihren sehr divergenten Handlungskontexten im Hinblick auf ihre alltäglichen sozialen (Mord-)Praktiken analytisch zu fassen. Der Band liefert also eine Sammlung von Einzelaspekten, aber keine vergleichende Untersuchung des „Alltags der Täter“.

Anders als der Sammelband von Benz/Vulesica stellt das Buch von Andrea Riedle keinen Problemaufriss dar, sondern eine geschlossenere und, was den Untersuchungsgegenstand anbelangt, begrenztere Studie. Die von Günter Morsch betreute politikwissenschaftliche Dissertation widmet sich den Mitgliedern des Kommandanturstabes im KZ Sachsenhausen in sozialstruktureller und biografischer Hinsicht. Im ersten Teil des Buches gibt Riedle auf etwa 50 Seiten einen Überblick über die Anlage ihrer Arbeit, die Geschichte sowie die wesentlichen Organisations- und Verwaltungsstrukturen des KZ Sachsenhausen, jeweils rund hundert Seiten entfallen dann auf die Untersuchung von Sozialstruktur und Dienstwegen der Angehörigen des dortigen Kommandanturstabes sowie auf vier biografische Fallstudien. Das Buch schließt mit einer kurzen Zusammenfassung und wird durch einen Anhang, einige Fotos und ein hilfreiches Personenregister ergänzt.

Insgesamt taten im Kommandanturstab des KZ Sachsenhausen zwischen 1930 und 1945 rund 1000 Personen Dienst, und Riedle konnte Material zu 230 SS-Männern zusammentragen und auswerten. Darunter befanden sich 45 SS-Führer und 185 SS-Unterführer bzw. SS-Männer, wobei die Quellenlage insbesondere bei den einfachen Dienstgraden häufig ausgesprochen schlecht ist (S. 68). Die Auswertung der Daten zeigt, dass rund 73 Prozent der SS-Führer zur Front- und Kriegsjugendgeneration und 90 Prozent der SS-Unterführer und SS-Männer zur Kriegsjugend- und Nachkriegsgeneration zählten (S. 72). 57,1 Prozent der untersuchten SS-Männer waren auf dem Land aufgewachsen (S. 94). Anders als dies für die Wachmänner der „frühen Lager“ bekannt ist, stammten sie jedoch nicht aus der unmittelbaren Umgebung des Lagers. Vielmehr entsprach die regionale Verteilung in etwa der der gesamten männlichen Bevölkerung des Deutschen Reiches (zu dem hier auch Österreich und die sudetendeutschen Gebiete gerechnet werden); die SS-Männer kamen also aus allen Landesteilen (S. 90 f.). Die SS-Führung wollte, so folgert Riedle, mit dem Einsatz fern der Heimat erreichen, dass sie „vollständig auf die SS-Gemeinschaft angewiesen waren“ (S. 154). Erst seit 1940 taten vereinzelt auch „volksdeutsche“ SS-Männer im Kommandanturstab Dienst (S. 84 und 90 f.). Gemessen am Beruf des Vaters kamen 51,4 Prozent der SS-Führer und 28,6 Prozent der SS-Unterführer und SS-Männer aus der unteren Mittelschicht (S. 104), und 77,1 Prozent des Samples hatten ausschließlich die Volks- oder Hauptschule (S. 107) besucht. Bei der überwiegenden Mehrzahl handelte es sich also um „ganz normale Männer“, die der Mitte der Gesellschaft entstammten. In anderer Hinsicht unterschieden sie sich jedoch von dieser: So gehörten 85 Prozent des Samples der NSDAP (S. 76) und etwa die Hälfte bereits vor 1933 der SS, SA oder HJ an. Zudem zeigt Riedle, dass viele schon in den späten 1920er-Jahren gewalttätig in politische Auseinandersetzungen verwickelt waren (S. 151). Die meisten Männer engagierten sich also bereits deutlich vor ihrem hauptamtlichen Eintritt in die SS für den Nationalsozialismus und sie verfügten meist schon früh über paramilitärische Erfahrungen. Sie nutzen dann die Chance auf einen schnellen sozialen Aufstieg, den die SS ihnen bot, und einige machten innerhalb der KZ-Kommandanturstäbe Karriere. Die Analyse der Dienst- und Karrierewege zeigt schließlich, dass die untersuchten SS-Männer als KZ-Experten anzusehen sind. Charakteristisch war die hohe Verweildauer im KZ-System, auch wenn Versetzungen zum RSHA, zur Verfügungstruppe und zu den kämpfenden Verbänden der Waffen-SS vorkamen (S. 132 f.). Die soziale Homogenität löste sich erst ab Sommer 1942 mit dem Funktionswandel des KZ-Systems allmählich auf. Im Großen und Ganzen werden also die Befunde bestätigt, die über die Sozialstruktur der „Konzentrationslager-SS“ bereits bekannt sind. Beide Akteursgruppen unterschieden sich, das lässt sich nun sagen, hinsichtlich ihrer Sozialstruktur, ihrer „Karriereverläufe“ und ihres Expertenstatus nicht grundsätzlich. Andrea Riedles Verdienst ist es, dies erstmals und auf breiter empirischer Basis und methodisch überzeugend für das Stabspersonal eines Konzentrationslagers erforscht und nachgewiesen zu haben.

Ziel des zweiten Teils der Studie ist es, ausgehend von der sozialstrukturellen Analyse die Biografien einzelner Personen qualitativ zu untersuchen. Im Fokus stehen dabei die mittleren und unteren SS-Ränge, da über diese Dienstgrade bislang wenig bekannt ist und weil diese Männer, die unmittelbar mit den Häftlingen in Berührung kamen, wesentlich über deren Überleben entschieden. Aus dem Sample der 230 SS-Männer wurden vier ausgewählt, um an ihnen repräsentative „Tätertypen“ zu veranschaulichen (S. 161): Der Rapport- und Arbeitsdienstführer Gustav Sorge steht für den Typus des Exzesstäters mit fachlicher Qualifikation, der Blockführer Wilhelm Schubert für den stupiden Exzesstäter, der Leiter des Standesamtes und Krematoriums Alfred Klein für den Initiativtäter mit bürokratischen Aufgaben und der Blockführer Johann Sosnowski für den Befehlstäter ohne weltanschauliche „Festigkeit“ (S. 161). Riedle stützt sich auf eine Vielzahl von Quellen und rekonstruiert die Lebensläufe detailliert. Allerdings bleiben eine qualitative Untersuchung und die Deutung der zusammengetragenen Fakten weitgehend aus. Riedle setzt sich nicht mit denjenigen Theorien auseinander, welche die „NS-Täterforschung“ nun schon länger diskutiert – etwa mit Michel Foucaults „Analytik der Macht“, mit Alf Lüdtkes Überlegungen zur „sozialen Praxis“ und zum „Eigen-Sinn“, mit Thomas Kühnes Thesen über die Bedeutung von „Kameradschaft“ und Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus oder mit Harald Welzers „Referenzrahmenanalyse“. So geraten die zuletzt von Elissa Mailänder Koslov in ihrer Dissertation1 so eindrucksvoll am Beispiel des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek beschriebenen „Mikrodynamiken von Gewalt“, die komplexen normativen, institutionellen, sozialen und situativen Dynamiken vor Ort und innerhalb der Akteursgruppe(n), nicht in den Blick. Die Aussagekraft der „biografischen Studien“ bleibt begrenzt, da diese nicht über die reine Rekonstruktion und Darstellung von beruflichen Werdegängen hinausgehen. Ein wenig mehr methodische, theoretische oder konzeptionelle Inspiration hätte man diesem Teil der Untersuchung schon gewünscht.

Anmerkung:
1 Elissa Mailänder Koslov, Gewalt im Dienstalltag. Aufseherinnen im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek, Hamburg 2009.

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