F. Fehlberg: Protestantismus und Nationaler Sozialismus

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Titel
Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann


Autor(en)
Fehlberg, Frank
Reihe
Politik- und Gesellschaftsgeschichte 93
Erschienen
Anzahl Seiten
518 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Hertfelder, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

„Was ist das Nationale? Es ist der Trieb des deutschen Volkes, seinen Einfluß auf der Erdkugel auszudehnen. […] Was ist das Soziale? Es ist der Trieb der arbeitenden Menge, ihren Einfluß innerhalb des Volkes auszudehnen“.1 Mit Programmformeln wie diesen pflegte der Publizist und Politiker Friedrich Naumann (1860–1919) im späten Kaiserreich seine schmale, überwiegend protestantisch-akademische Anhängerschaft zu elektrisieren. Provozieren lassen sich davon bis heute Historiker, die, der endlosen Wegbereiter-Debatten noch immer nicht müde, in Naumann einen der Vorläufer des Nationalsozialismus erblicken – wie zuletzt Götz Aly.2 Dass Aly damit prompt den öffentlichen Widerspruch eines prominenten Liberalen und eines ebenso prominenten Sozialdemokraten auf den Plan rief,3 deutet darauf hin, dass das Wirken des national-sozialen Pfarrers und ideenpolitischen Grenzgängers Naumann auch etwas mit den politischen Traditionslinien zu tun hat, in denen die Bundesrepublik zu stehen scheint.4

Der zweite Streitpunkt der Naumann-Forschung hängt mit der Kontinuitätsfrage eng zusammen und zielt auf die ideenpolitische Einordnung und Bewertung Naumanns im Kontext des späten Kaiserreichs. Sie läuft immer wieder auf die Frage hinaus, ob der Christ und Darwinist, Flottenschwärmer und Demokrat, Prophet des industriellen Fortschritts und bürgerliche Sozialreformer als „Liberaler“ gelten könne und wie sein politisches Wirken im Schnittpunkt der Intellektuellendiskurse der Zeit zu beurteilen sei.

Damit ist drittens die Frage nach der politischen Valenz des zeitgenössischen Kulturprotestantismus und der Spielarten der liberalen Theologie aufgerufen, die trotz ihrer bedeutenden und wortgewaltigen Vertreter seit der Jahrhundertwende im Rückzug begriffen war und nach dem Ersten Weltkrieg von einer nachfolgenden Theologengeneration unter exemplarischem Verweis auf Naumann an den Pranger gestellt wurde.

Frank Fehlberg nimmt in seiner Leipziger Dissertation die letztere Frage zum Ausgangspunkt, indem er anhand der Biographien von Arthur Bonus (1864–1941), Gustav Frenssen (1863–1945), Gottfried Traub (1869–1956), Paul Rohrbach (1869–1956) und schließlich Friedrich Naumann (1860–1919) die lebenspraktischen und intellektuellen Erfahrungshorizonte von fünf Theologen des späten Kaiserreichs nacheinander auslotet und auf deren ideologische Positionen bezieht. Alle fünf waren nach orthodoxen Anfängen gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Bann der liberalen Theologie geraten, hatten heftige Glaubens- und Sinnkrisen durchlebt, sich mit den mächtigen Zeittendenzen des Darwinismus, des Materialismus und des Sozialismus auseinandergesetzt und versucht, die rasante Modernisierungsdynamik ihrer Zeit mit ihrem Glauben in Einklang zu bringen. Nach Konflikten mit der Amtskirche gaben sie den aktiven Pfarrdienst früher oder später auf oder traten ihn, wie der aus dem Baltikum stammende Harnack-Schüler Rohrbach, erst gar nicht an; gleichwohl hatte sich ihre theologisch-religiöse Sozialisation in einem fortwirkenden pastoralen Habitus verfestigt. Hinzu kam schließlich ein synthetischer Denkstil, dem es in neuidealistischer, religiös grundierter Gesamtperspektive um die Vereinigung jener Gegensätze zu tun war, die im Zeitalter der „heroischen Moderne“ (Heinz Dieter Kittsteiner) so hart aufeinandertrafen: Naturwissenschaften und Glaube, Materialismus und Idealismus, Christentum und Sozialismus, Individualismus und Kollektivismus. Schwärmerische Nationalisten waren sie, für diese Generation wenig überraschend, allesamt: Volk und Nation bildeten für sie in unterschiedlicher politischer Aufladung jene Konzepte, in denen sich all die –ismen am besten vermitteln und zugleich mit lebenspraktisch-motivationalem Sinn verbinden ließen.

Für Bonus, Frenssen, Rohrbach und Traub wurde Friedrich Naumann in seiner national-sozialen Phase zum Katalysator ihrer Politisierung. Nur bei Rohrbach und Traub mündete sie in aktives politischen Engagement: Der politische Weg Rohrbachs, des Propagandisten des „ethischen Imperialismus“, führte im Kaiserreich vom Evangelisch-Sozialen Kongress über die Fortschrittliche Volkspartei in die Kriegspropaganda des Ersten Weltkriegs, in der Weimarer Republik von der DDP bis zur Konservativen Volkspartei; Traub hingegen, Autor der vielgelesenen sozialprotestantischen Schrift „Ethik und Kapitalismus“ (1904), driftete nach Stationen in Naumanns National-sozialem Verein und der Fortschrittlichen Volkspartei noch weiter nach rechts ab und landete bei der Deutschen Vaterlandspartei, dann unter den Protagonisten des Kapp-Putsches. Arthur Bonus predigte nach dem Ausscheiden aus dem Pfarrdienst als freier Publizist und Pädagoge die „Germanisierung des Christentums“, Frenssen hingegen verlieh als erfolgreicher Heimatschriftsteller seinem völkisch durchwirkten, mittlerweile kirchenfernen Christentum in seinem Bestseller-Roman „Hilligenlei“ (1905) dadurch Ausdruck, dass er die biblische Heilanderzählung in die norddeutsche Dorfidylle verlegte – unter Verweis auf namhafte liberale Theologen seiner Zeit. Unter den vier ehemaligen Theologen, die das „Dritte Reich“ erlebten, warf sich nur Frenssen, der in der Weimarer Republik noch Ebert, Noske und Rathenau gelobt hatte, dem Regime in die Arme und wurde hoch dekoriert.

Frank Fehlberg zeichnet die sich wandelnden Nuancierungen in den (mit Ausnahme Naumanns) mehr oder minder völkisch durchwirkten Weltbildern seiner fünf Protagonisten sorgfältig nach und versucht sie auf biographische Erfahrungen, Milieubindungen und insbesondere den Einfluss der liberalen Theologie zurück zu führen. Dass in der liberalen Theologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine Affinität zu völkischen Ideologien angelegt sei, behauptet er nicht, wohl aber sieht er, dies ist seine zentrale These, ein ideenpolitisches Nahverhältnis zum „nationalen Sozialismus“, wie er von Friedrich Naumann ab Mitte der 1890er-Jahre konzipiert und für zahlreiche seiner Anhänger zeitweise zum Faszinosum wurde. Im Streit um Naumann bezieht Fehlberg pointiert Position, indem er den „nationalen Sozialismus“ als die entscheidende Konstante in Naumanns politischem Denken und Handeln ausmacht und sich strikt gegen liberale Deutungen des politisierenden Theologen (etwa bei Peter Theiner und Alastair Thompson) wendet.5 Im „nationalen Sozialismus“ der in die Politik entlaufenen Theologen sieht er eine „durchaus kohärente Gedankenwelt“ (S. 427), deren Kernelemente er in einem zunächst religiös motivierten, praktischen Interesse an sozialen Fragen, einem ausgeprägten Sozialetatismus, der Vision der Versöhnung der gesellschaftlichen Klassen in der nationalen Volksgemeinschaft bzw. „nationalen Demokratie“, einem neuidealistisch überformten (jedenfalls nicht individualistischen) Freiheitsbegriff und einem Rekurs auf religiös-ethische Denkfiguren ausmacht; im „Augusterlebnis“ und der als „Kriegssozialismus“ bezeichneten Organisation der Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg sahen, so Fehlberg, die „nationalen Sozialisten“ ihre politische Vision bestätigt. Der Forschung wirft Fehlberg vor, sie habe den „nationalen Sozialismus“ im späten Kaiserreich kaum ernst genommen.

Frank Fehlbergs Verdienst besteht darin, dass er die Prominenz, die der Begriff des „nationalen Sozialismus“ um 1900 in sozialprotestantischen Kreisen erlangt hat, herausarbeitet und die eigentümlichen ideologischen Amalgamierungen, die in diesen Begriff eingegangen sind, ebenso vor Augen führt wie die habituellen, liberal-theologischen Prägungen seiner Protagonisten. Indem Fehlberg die christlich-ethische Motivation in Naumanns „nationalem Sozialismus“ betont, bestätigt er die These, die bereits Theodor Heuss in seiner monumentalen Naumann-Biographie vertreten hatte.6 Wenn er indessen den „nationalen Sozialismus“ als das konstante Kernanliegen der Politik Naumanns zu identifizieren meint, nimmt er diesen Begriff essentialistisch beim Wort und unterschätzt die strategische Absicht solcher temporären Begriffsbildungen im zeitgenössischen Kampf um die Deutungshoheit über den Sozialismus-Begriff. Nach dem Scheitern seines „National-sozialen Vereins“ 1903 reformulierte Naumann sein Programm und pflegte es mit Begriffen wie „Demokratie“ und „neuer Liberalismus“ zu kennzeichnen, die es im Zeitalter der industriellen Massengesellschaft neu zu denken galt. Fehlberg konstatiert diese Entwicklung, hält sie aber für alten Wein in neuen Schläuchen und spricht von bloßen „Begriffsverschiebungen“. Damit verkennt er die liberalen Impulse in Naumanns Politik im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, etwa sein Insistieren auf der Fortentwicklung staatsbürgerlicher Rechte, sein Bekenntnis zum Industriekapitalismus, sein Abrücken von Überlegungen zu einer staatlichen Beteiligung an Großunternehmen, sein Eintreten für Freihandel, seine Initiativen zur Demokratisierung des preußischen Wahlrechts und zur Parlamentarisierung des Reichs: Dies alles lässt sich mit dem Begriff des „nationalen Sozialismus“, selbst wenn man ihn dehnt, nur schwer vereinbaren.

Frank Fehlberg stellt seine Protagonisten Bonus, Frenssen, Traub, Rohrbach und Naumann in fünf unvermittelt hintereinander geschalteten biographischen Skizzen („Gedankenbiographien“) vor, in denen er zuerst die äußeren Lebensstationen skizziert, dann einen werkbiographischen Überblick folgen lässt. Dieses provozierend simple Schema begründet er ausgerechnet unter Rückgriff auf die von Gilles Deleuze und Felix Guattari entwickelte, der Botanik entlehnte Metapher vom „Rhizom“, jenes wuchernden Geflechts von kontingenten Verbindungen, mit dessen Hilfe die dezentrierte Netzwerkstruktur des Wissens paradigmatisch erfasst werden soll. Statt sich indessen vom Stammbaumdenken, gegen das sich das Konzept des „Rhizoms“ wendet, zu lösen, lässt Fehlberg den „nationalen Sozialismus“ seiner fünf Protagonisten – nunmehr mit Thomas Luckmann – aus einem gemeinsamen biographisch-religiösen Erfahrungshintergrund hervorgehen, den er in der liberalen Theologie, dem Konflikt mit der Amtskirche und persönlichen Entwurzelungserfahrungen ausmacht. Schlüssig erscheint das nicht, zumal Fehlberg auf die eingangs kurz vorgestellte „Rhizomatik“ erst gegen Ende des Buches in Gestalt einer Schlagwortmatrix zurück kommt, die den Leser mangels einer Erläuterung eher ratlos zurücklässt. Statt sich auf diese eigenwillige methodische Volte einzulassen, hätte es nahe gelegen, den religiös-sozial aufgeladenen Nationalismus um 1900, der gerne mit einem ethischen Überschuss operierte, mit dem begrifflichen Instrumentarium der Analyse intellektueller Konstellationen, wie sie etwa Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger erprobt haben, zu Leibe zu rücken.7

Anmerkungen:
1 Friedrich Naumann, National-Sozialer Katechismus, in: Ders., Werke. Fünfter Band: Schriften zur Tagespolitik, hg. v. Theodor Schieder u. Alfred Milatz, Köln 1964, S. 199–233, hier S. 201.
2 Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933, Frankfurt am Main 2011, S. 136–142.
3 Wolfgang Gerhardt, Kein Wegbereiter des Nationalsozialismus, in: Berliner Zeitung v. 05.02.2011; Erhard Eppler, Der linke Liberale, in: Frankfurter Rundschau v. 16.02.2011.
4 Thomas Hertfelder, Friedrich Naumann, Theodor Heuss und der Gründungskonsens der Bundesrepublik, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 23 (2011), S. 113–146.
5 Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983; Alasdair Thompson, Left Liberals, the State and Popular Politics in Wilhelmine Germany, Oxford 2000.
6 Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, Stuttgart 1937.
7 Vgl. etwa Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004; Gangolf Hübinger, Religion und politische Streitkultur im „Jahrhundert der Intellektuellen“, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Intellektuellen-Götter. Das religiöse Laboratorium der klassischen Moderne, München 2009, S. 101–120.