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Titel
Die undeutschen Deutschen. Eine ideengeschichtliche Archäologie der alten Bundesrepublik 1945-1972


Autor(en)
Kießling, Friedrich
Erschienen
Paderborn 2012: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
461 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Wintgens, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Berlin

In den Trümmern der Nachkriegszeit war nichts selbstverständlich. Überall herrschten Not und Zerstörung, und neben der materiellen Welt war auch die Welt der Ideen in Unordnung. Überzeugungen standen nach 1945 in Frage, kulturelle Traditionen und geistige Werte. Zuallererst galt das für die nationalsozialistische Ideologie, die von weiten Teilen des deutschen Volkes (inklusive der gebildeten Schichten) geglaubt oder mindestens hingenommen worden war und die nun unter Obhut der Alliierten überwunden werden sollte. Die Suche nach geistiger Orientierung betraf außerdem viel von dem, was seit dem späten 18. Jahrhundert (bzw. in Deutschland besonders seit 1871) die Moderne geprägt hatte: Der Nationalstaat in seiner vertrauten Form des Bismarckreichs war machtlos und geteilt. Ob die kapitalistische Wirtschaftsweise geeignet sein würde, die Misere zu überwinden und Handel und Industrie wieder in Gang zu bringen, wurde grundsätzlich diskutiert. Zweifel an Technik und Massengesellschaft, ja an der modernen Welt im Ganzen, waren weit verbreitet. Und über all dem stand die Frage, ob und wie Demokratie in Deutschland möglich sein würde: eine Nachkriegsgesellschaft auf politischer Sinnsuche.

Gegenüber diesen Anfängen ist die Geschichte der Bundesrepublik oft und zu Recht als Erfolg bilanziert worden: außenpolitisch, wirtschaftlich und sozial, in Bezug auf die staatlichen Institutionen der Demokratie sowie schließlich ideell und kulturell. Zur Einordnung genügen hier ein paar Stichworte aus dem Werkzeugkasten der historischen Forschung, wie er von Axel Schildt, Ulrich Herbert, Anselm Doering-Manteuffel und anderen bestückt worden ist: Neuanfang versus Restauration, Ankunft im Westen, Modernisierung im Wiederaufbau, Fundamentalliberalisierung und so weiter. Doch selbst wenn die so skizzierten großen Linien zwischen 1945/49 und 1989/90 bekannt sind, bleiben im Einzelnen der Kultur- und Geistesgeschichte der „alten Bonner Republik“ weiter viele Fragen unbeantwortet. Noch sind nicht alle Fragmente des ideengeschichtlichen Mosaiks ausgegraben und dokumentiert – um den Untertitel von Friedrich Kießlings Buch aufzugreifen. Denn in seiner nun veröffentlichten Habilitationsschrift von 2007 verspricht Kießling eine „ideengeschichtliche Archäologie“ der Bundesrepublik zwischen 1945 und 1972. Die von Foucault geliehene Metapher passt nicht nur gut zu den Trümmern von 1945; sie beschreibt auch den Anspruch des Autors, die „epochenspezifischen Grundstrukturen der Ideengeschichte“ (S. 27) wieder zu entdecken.

Der untersuchte Zeitraum umfasst immerhin mehr als 25 Jahre, in denen viel gedacht, gedruckt und gesendet worden ist und in denen sich zugleich viel verändert hat: Debatten und Themen in Hülle und Fülle. Natürlich kann man selbst auf mehr als 400 Seiten keine Gesamtgeistesgeschichte von soviel Bundesrepublik schreiben. Das wäre angesichts der zahllosen Stimmen und Quellen unmöglich, wegen des ideen- und kulturgeschichtlichen Forschungsstands vielleicht auch noch zu früh. Stattdessen untersucht Kießling vier Gruppen bzw. „intellektuelle Räume“ (S. 19), die er im Umfeld kulturell-politischer Zeitschriften verortet: Da ist zum einen die „Wandlung“ und der Kreis um Karl Jaspers und Dolf Sternberger, die Kießling als liberal einordnet. Hinzu kommen der „Ruf“ von Hans Werner Richter und Alfred Andersch (sozialistisch), die „Frankfurter Hefte“ mit Walter Dirks und Eugen Kogon (christlich bzw. linkskatholisch) sowie schließlich der von Joachim Moras und Hans Paeschke herausgegebene „Merkur“ (konservativ). Im Kern ist Kießlings Buch also eine Geschichte dieser vier Zeitschriften – wobei der „Ruf“ und die „Wandlung“ bereits 1949, also gleich zu Beginn der Bonner Republik, wieder eingestellt worden sind. Ihre weitere Geschichte verfolgt Kießling vor allem anhand der Biographien Richters und Sternbergers. Für diesen Behelf spricht, dass Sternbergers Plädoyer für den Verfassungspatriotismus vom Ende der 1970er-Jahre auf einem Essay beruht, den er 1947 über den „Begriff des Vaterlands“ für die „Wandlung“ geschrieben hatte: „Legt man beide Texte nebeneinander, stellt man fest, dass einer der Grundtexte der späten Bundesrepublik mit einem zentralen Artikel Sternbergers aus der unmittelbaren Nachkriegszeit übereinstimmt.“ (S. 404) Dagegen spricht, dass die vier Kießling’schen „Räume“ ohnedies schon recht eng sind – zu eng, um daran die geistige Architektur der frühen Bundesrepublik insgesamt zu beschreiben. Wo bleiben, nur als Beispiele, die „Gegenwart“ für die 1950er-, das „Kursbuch“ für die 1960er-Jahre – oder die Kulturprogramme im Rundfunk? Vom Fernsehen und den übrigen Massenmedien ganz zu schweigen...

Apropos Architektur: Sie sei, schreibt Kießling, in der Wiederaufbaurepublik ein zentraler Schauplatz der geistigen Orientierung gewesen, und folgerichtig zeigt der Buchumschlag eine Fotografie des (west)deutschen Pavillons bei der Brüsseler Weltausstellung von 1958. Ebenso wichtig seien die Malerei und insbesondere die Literatur gewesen: „Sieht man die Rezensionsseiten der Nachkriegszeit durch, ergibt sich allenthalben der Eindruck, dass im Medium der literarischen Neuerscheinungen nach einem gültigen Ausdruck für die Kriegs- und Nachkriegserfahrungen gesucht wurde“, heißt es beispielsweise auf S. 107, und tatsächlich erführe man gern mehr über diese politischen und ideengeschichtlichen Aspekte des Architektur-, Kunst- oder Literaturdiskurses – mehr, als Kießlings Buch bietet. Denn nicht nur die Weite der Medienlandschaft lässt er weitgehend außen vor, auch die Themenschätze von Hoch- und Alltagskultur bleiben inhaltlich unerschlossen. Der Brüsseler Pavillon hatte übrigens demonstrativ die Aufschrift „Deutschland“, um den Alleinvertretungsanspruch der Bonner Republik symbolisch in die Welt zu tragen. Kießling konzentriert sich jedoch ganz auf Westdeutschland – obwohl seine Studie wesentlich von Ideenwelten aus der Zeit vor 1949 handelt. Die DDR und der ganze Komplex der Systemkonfrontation sind trotzdem wenig mehr als Fußnoten.

Zwar ist es nicht zwingend, dass diese Themen vorkommen müssen. Im Gegenteil: Aus praktischen Gründen ist eine Ordnung des Stoffes und/oder eine Konzentration auf besondere Themen unverzichtbar. Das Problem liegt vielmehr in der Auswahl, die Überraschungen vermissen lässt. So entscheidet sich Kießling für drei „Schlüsseldebatten“ (S. 129), und folglich geht es ihm darum, was in den erwähnten Zeitschriften erstens über Staat und Demokratie, zweitens über die Moderne und drittens über den Raum bzw. Deutschlands Rolle in der Welt geschrieben wurde; thematisch eng damit verbunden ist der Umgang mit dem Nationalsozialismus. Beim Lesen allerdings führt die Differenz zwischen dem Anspruch – angekündigt als „Vorschlag, wie man die Ideengeschichte der alten Bundesrepublik bis zu den Anfängen der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts auf den Begriff bringen könnte“ (S. 27) – und der empirischen Wirklichkeit – drei relativ vertraute „Schlüsseldebatten“ in vier „intellektuellen Räumen“ – zu genau der Enttäuschung, die Jens Hacke in einem harten Verriss ausgedrückt hat: Kießling habe sich „ein großes Thema, einen kleinen Quellenkorpus, aber leider keine Methode gewählt“.1

Ein weiterer Nachteil hängt mit dem relativ langen Untersuchungszeitraum zusammen, der sich als schwer handhabbar erweist. Anstatt sich im Detail auf einzelne Debatten, deren Protagonisten und Netzwerke, ihre Interessen und geistigen Widersprüche einzulassen, um dabei Unbekanntes zu entdecken, achtet Kießling auf die Zusammenhänge und Kontinuitäten seiner Großthemen – wodurch die Analyse sehr allgemein wird. Wenn er schreibt, dass die Diskurse der frühen Bundesrepublik vom Kalten Krieg, von der Last der NS-Vergangenheit und vom „Wirtschaftswunder“ bestimmt worden seien, ist dagegen gar nichts zu sagen – außer, dass das altbekannt ist.

Besonders intensiv erörtert Kießling Periodisierungs- und Kalenderfragen. An den Diskursen zwischen 1945 und 1972 interessiert ihn vor allem das Verhältnis von Kontinuität und Wandel, mit einer Betonung der Kontinuität. Dabei sieht er mehrere „Zeitschichten, [...] die sich überlagern, ergänzen oder auch miteinander korrespondieren“ (S. 406). Der Autor argumentiert gegen die verbreitete These von den „langen 60er Jahren“, in denen sich die westdeutsche Gesellschaft entscheidend verändert habe. Stattdessen schlägt er vor, „das Transformationsparadigma zu ergänzen“ und „neben dem Wandel [...] den Ort der Kontinuität in der Ideengeschichte der Bonner Republik genauer zu fassen“ (S. 13). Zwar beschreibt er so das dialektische Phänomen, dass inmitten des ideellen Wandels der Bezug auf Bekanntes, auf die gewohnte Tradition, den Übergang erleichtert habe. Allerdings gibt Kießling diesen typisch abstrakten Historikerfragen zuviel Platz. Zusammen mit dem langen Untersuchungszeitraum resultiert daraus eine Betrachtungshöhe, von der aus der Leser nicht viel sieht. Aufschlussreich und bereichernd wird die Lektüre indes dort, wo sie konkret ist, wo der Historiker seine Vogelperspektive verlässt und sich die Einzelfälle anschaut. Vor allem über die bislang unerforschte Geschichte des „Merkur“ und dessen „Austauschdiskurse“, die Kießling besonders am Herzen liegen, fördert die Studie Interessantes zu Tage: „Verfolgt man den ‚Merkur’, dann gelang es ihm in den 50er Jahren, ganz verschiedene Positionen zu vereinen. [...] Er bietet somit mehr als andere Zeitschriften ein breites Panorama der Ideengeschichte der alten Bundesrepublik.“ (S. 248) Friedrich Kießlings Buch enthält solche Erkenntnisse; insgesamt gibt es davon allerdings zu wenige.

Anmerkung:
1 Jens Hacke, Die Suche nach den großen Worten, in: Süddeutsche Zeitung, 11.7.2012, S. 14.

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