L. Raphael: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation

Titel
Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914-1945


Autor(en)
Raphael, Lutz
Reihe
C.H.Beck Geschichte Europas
Erschienen
München 2011: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Benjamin Ziemann, Department of History, University of Sheffield

Im Rahmen der bei C.H.Beck erscheinenden „Geschichte Europas“ legt der in Trier lehrende Historiker Lutz Raphael hier den Band zur Epoche der beiden Weltkriege von 1914 bis 1945 vor. Auf genau 300 Textseiten und mit nur wenigen, in der Regel dem Nachweis von direkten Zitaten dienenden Fußnoten erfordert eine solche Darstellung eine Konzentration auf das Wesentliche und einen klaren Blick bei der Auswahl der leitenden Fragestellungen und vergleichenden Perspektiven. In der Einleitung werden kurz einige der unter Historikern kontrovers diskutierten Prämissen für die Erforschung dieser Epoche angesprochen. Als ein „älteres Narrativ“ wird jene Deutung bezeichnet, welche im hinhaltenden Widerstand „abstiegsbedrohter Gruppen“ die Ursache für die Kriege und Bürgerkriege seit 1914 sah (S. 9). In seiner auf Deutschland bezogenen Variante als Theorem des „Sonderwegs“ bekannt, kommt ihm hier keine Bedeutung zu.

Raphael knüpft dagegen an Interpretationen an, die in der Dynamik der Moderne, im Wechselspiel von ökonomischer Modernisierung, gesteigerter Partizipation und einer permissiven Liberalisierung der Kultur, sowie in den daraus erwachsenden Spannungen und Krisen, den Wandel seit 1914 situieren. All das liefert, wie Raphael sogleich konzediert, keine hinreichende Erklärung für die Gewaltexzesse des Bolschewismus in Russland seit 1917, und die Besonderheit der Situation in der Sowjetunion wird im Folgenden vielfach hervorgehoben. Auch für den Osten Europas bleibt allerdings die Spannung zwischen den immens gesteigerten Zukunftserwartungen und den damit verbundenen sozialen und politischen Ordnungsentwürfen sowie den zu ihrer Umsetzung vorhandenen Mitteln ein wichtiges Faktum. Damit wird die konflikthafte Dynamisierung der Beziehung zwischen der Semantik – jenen Texten und Bildern, welche die Form des Sozialen und Politischen antizipierend vermessen – und der Sozialstruktur der Moderne zur Signatur der Epoche. Dabei lud sich jene mit utopischen Überschüssen auf und machte die zahlreichen sozialen und politischen Konflikte zugleich zu grundsätzlichen Kämpfen um gesellschaftliche Ordnungsmodelle.

Hinzu kommt eine zweite, bereits im Titel des Bandes angesprochene Spannung, die zwischen Nation und Imperium. Im Einklang mit der neueren Forschung betont Raphael, dass erst in der Epoche von 1914 bis 1945, und nicht schon im lange als Zeitalter des Nationalismus apostrophierten 19. Jahrhundert, der wirkliche Durchbruch der Nation „zum primären und sozialen Bezugspunkt“ sozialer und politischer Mobilisierung erfolge (S. 17). Die Hypostasierung der Nation setzte jenes Wechselspiel von „Partizipation und Aggression“ (Dieter Langewiesche) frei, das viele der Konflikte seit 1914 prägte. Zugleich war das Zeitalter der Imperien mit dem Untergang der Reiche der Habsburger, Romanows und Osmanen im Gefolge des Ersten Weltkrieges noch keineswegs an ein Ende gekommen. Auch kleinere Staaten wie Spanien oder Belgien pflegten im Zuge erbitterter Machtstaatskonkurrenz „kompensatorisch“ ihre Kolonialreiche (S. 15). Besonders anschaulich wird diese anhaltende imperiale Dimension der europäischen Geschichte in den Abschnitten zu Vorbereitung und Verlauf des Zweiten Weltkrieges, in dem sich die imperialen Ambitionen der UdSSR und der faschistischen Achsenmächte Italien und Deutschland in ihrer Eroberungs- und Besatzungspolitik manifestierten.

Die Darstellung ist in sieben Kapitel und einen Epilog gegliedert, der aus der Rückschau des Jahres 1947 einige der im ersten Kapitel ausgezogenen Linien über ökonomische und soziale Basisprozesse der Zeit um 1900 wieder aufnimmt und die im Gefolge des Zweiten Weltkrieges erreichte innere Homogenität der Nationalstaaten betont. Das erste Kapitel beschreibt Europa als imperiales Machtzentrum der Welt um 1900, und führt in die verfassungspolitische, soziale und religiöse Diversität innerhalb des Kontinents ein. Das zweite Kapitel befreit den Ersten Weltkrieg aus der Engführung auf die nur für die Westfront passende, vom August 1914 bis November 1918 reichende Chronologie und weitet den Blick auf die beiden Balkankriege und italienischen Angriffe seit 1911, die ihn einleiteten, und die Bürgerkriege in Irland und Osteuropa sowie Vertreibungsaktionen im östlichen Mittelmeer, die ihn erst 1923 tatsächlich zum Ende kommen ließen. Neben der Totalisierung des Krieges wird auch die Radikalisierung des Nationalismus in den verschiedenen „Kriegskulturen“ hervorgehoben.

Der folgende Abschnitt beschreibt die seit 1918 einsetzenden Reformprogramme und partizipatorischen Umbauten in den alten und neuen Nationalstaaten Europas und die zunehmende Fragmentierung politischer Interessenvertretung als generelle Trends. In einem wichtigen Abschnitt (S. 122-130) diskutiert Raphael „Stabilitätszonen der Demokratie“. Implizit wendet er sich dabei gegen eine unter anderem von Theodor Schieder vertretene These, nach der sich die Instabilität der politischen Regime in der Zwischenkriegszeit vornehmlich mit der von Westen nach Osten zunehmenden territorialen Uneindeutigkeit der Nationalstaaten erklären lässt, die politische Integration behinderte. Dem stehen allerdings die in die Diktatur abgleitenden iberischen Nationen entgegen, während Finnland, Irland und die Tschechoslowakei Beispiele für erfolgreiche parlamentarische Verfassungsordnungen in von Konflikten über Grenzziehungen geschüttelten Staaten sind. Letztlich gibt es, so die überzeugende These Raphaels, „kein Modell“ das „alle Fälle von Erfolg oder Scheitern der Demokratien“ in der Zwischenkriegszeit erklären kann. Vielmehr gelte es die Geltung „situativer Faktoren“ zu berücksichtigen (S. 124).

Das vierte Kapitel behandelt die Umbrüche in der Lebensweise, Kultur und Produktion der 1920er-Jahre, den Amerikanismus, Fordismus, die Rationalisierung der Kultur und die ordnenden Sozialutopien des social engineering und der Eugeniker und Rassenhygieniker. Der folgende Abschnitt analysiert knapp aber kompetent die globale Krise des Kapitalismus seit 1929 als „Wetterscheide“ für Wirtschaft, Gesellschaft und Wirtschaftspolitik. Lutz Raphael betont die Relevanz dieser Entwicklung für die Krise der politischen Systeme: von den 13 europäischen Staaten, die bis 1939 zu einer Form autoritärer Herrschaft übergingen, hatten dies bis 1929 nur Spanien, Italien, Litauen und Portugal getan (S. 184). Auch bei der Diskussion der Hintergründe für den „Aufstieg der Diktaturen“ im sechsten Kapitel betont der Autor neben der Vorbildwirkung des faschistischen Italien die Bedeutung situativer Faktoren. Zugleich betont er die große Differenz zwischen den radikalen Neuordnungsvisionen der drei totalitären Diktaturen in Italien, Deutschland und der UdSSR und den vielen „autoritären Regimes“ in Süd- und Osteuropa, die auf der Basis eines militanten Nationalismus eine prekäre soziale und nationale Ordnung verteidigten, aber ihre Bevölkerung nur kontrollieren, nicht jedoch umfassend mobilisieren wollten (S. 222). Das siebte Kapitel beschreibt imperiale Expansion, Besatzungsherrschaft und Völkermord im Kontext des Zweiten Weltkrieges sowie die Befreiung Europas aus dem Joch der nationalsozialistischen Herrschaft.

Fazit: Mit diesem Band liegt eine überaus überzeugend argumentierende, im Detail wie in den großen Linien zuverlässig informierende Deutung der europäischen Geschichte von 1914 bis 1945 vor, die ohne jede Einschränkung für den Gebrauch in Lehre und Unterricht sowie für den interessierten Laien zu empfehlen ist. Die sehr gut lesbare Darstellung besticht durch eine einleuchtende didaktische Reduktion auf die wichtigsten Themen. Zugleich wird der oft anzutreffende Fehler vermieden, Europa unter Vernachlässigung der ost- und südeuropäischen Peripherie zu verstehen und sich auf Frankreich, Großbritannien und Deutschland zu konzentrieren. Gerade in den Kapiteln über die Diktaturen und den Zweiten Weltkrieg werden Italien und die Sowjetunion ausführlich behandelt, und auch die Türkei wird wiederholt in sinnfälliger Weise einbezogen. Bemerkens- und lobenswert ist nicht zuletzt, dass auch in einer so stark auf die inhärenten Krisen der Moderne abgestellten Deutung die Bedeutung agrarischer Sozialgruppen und von Bauernparteien für jene Länder in Nord-, Ostmittel- und Südeuropa kompetente Behandlung findet, in denen diese bis in die 1930er-Jahre hinein eine wichtige Rolle spielten.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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