J. Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck

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Titel
Zwangsarbeit im Chemiedreieck. Strafgefangene und Bausoldaten in der Industrie der DDR


Autor(en)
Vesting, Justus
Erschienen
Anzahl Seiten
222 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henrik Eberle, Historisches Büro, Halle (Saale)

Justus Vestings Arbeit zur Zwangsarbeit im Chemiedreieck ist ein Meilenstein der DDR-Forschung. Der hallische Historiker präsentiert die aus Archivalien gewonnenen Befunde sprachlich nüchtern, unvoreingenommen und konkret. Zugleich sortiert er kritisierend die bisherige Forschungsliteratur und entwickelt nachvollziehbare Vorschläge zur Definition von Zwangsarbeit im real existierenden Sozialismus. Als empirische Grundlage nutzt Vesting Akten des Ministeriums für Staatssicherheit, der Strafvollzugseinrichtungen bis etwa 1968 und der diversen Betriebe. Im Mittelpunkt stehen die Strafgefangenen. Zum Vergleich zieht er die ebenfalls im Chemiedreieck eingesetzten Bausoldaten der NVA heran. Am Ende resümiert er, die Zwangsarbeit sei „systemimmanent“ gewesen und habe der Behebung von Schwierigkeiten „an neuralgischen Punkten der Volkswirtschaft“ gedient (S. 187).

Der Erforschung des Schicksals von Strafgefangenen in der DDR sind Grenzen gesetzt. Diese liegen im Persönlichkeitsrecht der Betroffenen einerseits sowie im noch immer unzureichenden Erschließungszustand der Archivalien andererseits. Die Akten der Bezirksbehörden der Volkspolizei zum Beispiel sind erst bis 1968 erschlossen. Vesting kompensiert das durch Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit, wobei sich insbesondere Ermittlungen über Todesfälle als ergiebig erwiesen.

In den 1990er-Jahren kristallisierte sich die Erkenntnis heraus, dass beim Strafvollzug der DDR der Erziehungsaspekt im Sinne des totalitären Ideologieprojekts überwog. Menschen sollten durch Zwang gebrochen und zu funktionierenden „sozialistischen Persönlichkeiten“ zusammengesetzt werden. Im eigentlichen Sinne „gerechnet“ habe sich die Gefangenenarbeit nicht, urteilte zum Beispiel der Autor dieser Rezension 1999.1 Vesting greift hier korrigierend ein. Faktengestützt legt er dar, dass zwingend von einem „heimlichen Primat der Ökonomie“ ausgegangen werden muss. Anschaulich beschreibt er, wie Planvorgaben den Einsatz von Häftlingen unumgänglich machten. Alles andere, so der Erziehungsaspekt und auch der humane Umgang mit den Strafgefangenen sei dem untergeordnet gewesen. Selbst der Aspekt der (politischen) Sicherheit wurde vernachlässigt. Seine Schlussfolgerung ist so radikal wie plausibel: „Systematische Zwangsarbeit“ war in den 1970er- und 1980er-Jahren „wichtiger Bestandteil des Volkswirtschaftsplans“ (S. 190).

Der DDR-Strafvollzug ist in Dekaden zu gliedern. Die 1940er- und 1950er-Jahre waren geprägt von einem Zwangsarbeitssystem russischen Typs, zum Beispiel in der Wismut. Aber auch das Überziehen des Landes mit kleinen Lagern fällt in diese Epoche. Danach kam es zu einer Versachlichung der Rechtsprechung und einer ökonomischen Prüfung des Häftlingseinsatzes. Da die DDR nach dem Mauerbau auch Wert auf ein „sauberes“ Image legte, wurden die Häftlinge in wenigen großen, von der Öffentlichkeit abgeschotteten, Strafvollzugseinrichtungen konzentriert, die zugleich als Fabriken dienten (etwa Cottbus oder Hoheneck).

Im Gegensatz zu den optimistischen Annahmen der ersten Hälfte des Jahrhunderts, dass ein „neuer Mensch“ entstehen würde, ging die SED-Führung in den 1970er-Jahren davon aus, dass es eine konstante Menge von verurteilten Staatsfeinden, Straftätern und sogenannten Asozialen geben würde. Die politische Führung nahm daher, wie Vesting anhand von SED-Akten belegt, eine konstante Menge von verfügbaren Arbeitskräften als gegeben an. Jetzt entstanden, politisch gewollt, Strukturen, die zu einer Verfestigung des symbiotischen Systems von Gefangenenlager (Strafvollzugseinrichtung) und Produktionsbetrieb (hier Chemiekombinat Bitterfeld) führten. Dieses Zwangsarbeitssystem erreichte seinen Höhepunkt zeitgleich mit dem Verfall der DDR-Ökonomie. Der herrschende Arbeitskräftemangel in der DDR verstärkte sich gerade im Chemiedreieck, weil immer mehr Arbeiter vor den Gesundheitsrisiken in den maroden Betrieben zurückschreckten. Anreize in Form von überdurchschnittlicher Bezahlung verpufften, weil es für das Geld kaum mehr etwas zu kaufen gab.

In dieser Zeit geriet aber auch der Häftlingseinsatz in die Krise. Die zum Teil durch eigene Skrupel, zum Teil durch ausländischen Druck gefesselte DDR-Justiz erzeugte nicht mehr genügend Häftlinge, um den Arbeitskräftebedarf in den Chemiebetrieben und den Braunkohlenkombinaten zu decken. Daher wurden jetzt verstärkt die sogenannten Bausoldaten als Arbeitskräfte eingesetzt. Immer wieder zog man diese zur Behebung der Probleme von „Schwerpunkten“, so der Akten-Jargon, heran. Sie beseitigten quecksilberverseuchte Böden, reinigten Öltanks und arbeiteten in Bereichen, in denen die Maximalwerte für chemische Belastungen um das Mehrfache überschritten waren. Vesting verglich hier die Erinnerungen von Zeitzeugen an lebensgefährliche oder zumindest krankmachende Zustände mit Stasi-Akten und bestätigte letztlich den Befund. Interessant ist, dass die betroffenen Bausoldaten, die ohnehin in Opposition zum SED-Regime standen, zu diktaturkonformen Mitteln griffen, um ihren Protest zu artikulieren. Nicht wenige verfassten Eingaben an das ZK der SED, um die bestehenden Missstände anzuprangern. Zugleich wandten sie sich an die Bischöfe und beschrieben ihre Situation. Als sich der Bischof der evangelisch-lutherischen Kirchenprovinz Sachsen 1988 an das Staatssekretariat für Kirchenfragen wandte, wandelte sich die Behandlung im Betrieb, die Arbeit blieb jedoch dieselbe. Die Bausoldaten waren immer noch gesundheitsgefährdeten Arbeiten ausgesetzt, wurden aber weniger schikaniert. Prinzipielle Erleichterungen erfolgten nicht.

Vestings Studie regt zu einer genaueren Analyse der Handlungsfähigkeit von Repressionssystemen an. Einerseits konnten weder Häftlinge noch Bausoldaten unbegrenzt ausgebeutet werden, andererseits bestanden die oft verharmlosend bezeichneten „Grenzen der Diktatur“ tatsächlich im Einzelfall nicht.2 Die zahlreichen angeführten Details zu Art und Weise des DDR-Strafvollzugs zeigen vielmehr eine Analogie zu den aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern bekannten Grässlichkeiten. Von den Verantwortlichen wurden Gesundheitsschäden bewusst in Kauf genommen, auch mit Todesfolge. Innerhalb des Kosmos der „Strafvollzugsökonomie“ gab es eine oft brutale Durchsetzung des „reibungslosen“ Produktionsprozesses, der eher Züge der „Ausbeutung“ als der Erziehung trug. Vesting, der zugleich Theologe ist, erkennt hier „Verzweiflung angesichts der Krise“. Die Betriebsdirektoren seien, unter Druck stehend, bereit gewesen, Opfer auf dem „Altar der Ökonomie“ zu bringen (S. 189).

Insgesamt bestätigt die faktengesättigte Studie den inzwischen unbestreitbaren Befund, dass Strafgefangene und auch Bausoldaten eine strategische Arbeitskräftereserve des SED-Regimes waren, die beliebig einsetzbar war. Neu ist aber, wie Vesting aufzeigt, dass der ökonomische Nutzen erheblich war: Allein die im Chemiekombinat Bitterfeld eingesetzten Häftlinge erwirtschaften planmäßig mehr als eine Milliarde DDR-Mark im Jahr.

Vesting öffnet mit seiner Studie ein weites Tableau. So könnte sich die Forschung weiterführenden Längsschnittstudien über Polizierung, Rowdytum und Unterschichten widmen, die durchaus vom 16. bis zum 21. Jahrhundert reichen können. Es bedarf aber auch konkreter Studien, die sich noch detaillierter mit den Schicksalen der wenig prominenten Opfer befassen. Denn Vesting weist nach, dass in den 1980er-Jahren zahllose Kurzstrafen für junge, leistungsfähige Männer ausgesprochen wurden, die zu tausendfacher Zwangsarbeit im Chemiedreieck führten.

Zu Recht legt Vesting Vergleiche mit GULag und nationalsozialistischen Konzentrationslagern nahe; künftige Forschungen sollten Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten. Dazu bedürfte es aber auch einer genaueren Kenntnis der Täter. In dieser Hinsicht ist die Studie unbefriedigend. Aus dem Anhang ist ersichtlich, dass Vesting keine Personalakten von Angehörigen des Strafvollzugs einsehen konnte. So bleibt auch die biografische Skizze des Leiters der Strafvollzugseinrichtung Bitterfeld blass. Die Stasi bemerkte zwar, dass der Offizier Häftlinge zum Bau seines privaten Eigenheims einsetzte, schritt aber nicht ein, weil es sich um einen linientreuen Genossen handelte. Vergleichbare Muster aus Korruption und ideologischer Prägung finden sich im gesamten GULag-System ebenso wie im Nationalsozialismus.

Am Schluss seiner Studie gibt Vesting eine politische Empfehlung. Aus seiner Sicht sollten sich Verantwortliche nun endlich „ernsthaft“ mit Entschädigungsfragen befassen.

Anmerkungen:
1 Henrik Eberle, GULag DDR? Ökonomische Aspekte des Strafvollzugs in den 50er und 60er Jahren, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR – Recht und Justiz als politisches Instrument, Berlin 2000.
2 Vgl. Richard Bessel / Ralph Jessen (Hrsg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996.

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