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Titel
Tschernobyl und Frankreich. Die Debatte um die Auswirkungen des Reaktorunfalls im Kontext der französischen Atompolitik und Elitenkultur


Autor(en)
Kalmbach, Karena
Reihe
Zivilisationen & Geschichte 7
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
209 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Veronika Wendland, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg

Ein Vierteljahrhundert nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl gibt es vielversprechende Ansätze, das Ereignis auch in einer transnationalen und transferhistorischen Perspektive zu untersuchen. Wir wissen relativ gut Bescheid über seine Bedeutung für die deutsche und die globale Ökologiebewegung. Neue Erkenntnisse über die politische, ökologische und kulturelle Rolle von Tschernobyl in der späten Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten sind in jüngster Zeit publiziert worden oder stehen kurz vor der Veröffentlichung.1 Karena Kalmbach hat sich dieser Frage für den Fall Frankreichs angenommen und dabei einen klugen Ansatz gewählt. Sie stellt ihre Beschreibung von Reaktionen in Politik, Medien und gesellschaftlichen Diskursen in den Kontext einer landesspezifischen „Atompolitik und Elitenkultur“ und fragt danach, inwieweit Wissenstransfer von einem System ins andere auch zur Transformation von Elitenpositionen und Politiken beiträgt.

Kalmbach gibt einen Abriss der Sonderstellung Frankreichs als Kernenergieland, mit einem nuklearen Anteil an der Stromerzeugung von über 70 Prozent, einem global agierenden Kerntechnik-Konzern und einer im Verhältnis zu anderen westlichen Staaten relativ schwachen Antiatombewegung. Fast alle administrativen und technischen Führungsposten im staatlichen Stromkonzern Electricité de France, beim Reaktorbauer Areva und in den staatlichen Kontroll- und Genehmigungsinstanzen werden mit Elite-Absolventen der traditionsreichen École Polytechnique und der staatlichen Ingenieurskorps besetzt. Persönliche Freundschaften und Verflechtungen zwischen den Akteuren werden oft schon in der Ausbildungszeit angelegt, Korpsgeist und Dienstethos erzeugen eine Elitenformation, welche von Kritikern folgerichtig „nucléocratie“ genannt wird. Tschernobyl traf 1986 diese Nuklear-Kaste auf der Höhe ihrer Macht.

Behörden und Energiewirtschaft, so legt Kalmbach dar, verlegten sich damals auf eine Doppelstrategie, in der man ein landesspezifisches Beharren auf dem Primat des Nationalterritoriums im Zeitalter der globalen Risikogesellschaft zu sehen vermag. Die Argumentationslinien ähnelten in anderen Aspekten aber jenen der gesamten westlichen Staatengemeinschaft und ihrer Atomlobbies. Die eine Komponente dieser Doppelstrategie war das Leugnen von Auswirkungen des europaweiten radioaktiven Fallouts auf Frankreich. Die Wolke, die an der Rheingrenze angehalten habe, wurde fortan zum satirischen Sinnbild dieses Argumentationsmusters. Die zweite Argumentationslinie besagte, dass ein Unfallgeschehen wie in Tschernobyl in den eigenen Kernkraftwerken aufgrund deren technologischer Disposition auszuschließen sei. Diese Doppelstrategie wurde der nucléocratie zum Verhängnis, da in jenem Moment, als messwert-belegte Zweifel am ersten Argument aufkamen, auch die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Sicherheitsaussagen gestellt wurde.

Im kollektiven Gedächtnis der Franzosen verblieb die „Staatslüge“ über die radioaktive Belastung des Landes, die auch das Vertrauen ins heimische Atomprogramm erschütterte, ohne es jedoch ernsthaft zu gefährden. Erst mit verzögerter Wirkung, nämlich zum 20. Jahrestag des Unfalls, brach die Diskussion erneut auf, wie Kalmbach zeigen kann. Dies ist der eigentlich transferhistorische Teil der Tschernobyl-Geschichte in Frankreich. Eine Anzahl französischer Übersetzungen osteuropäischer Tschernobyl-Literatur führte zu einer intensiven Befassung mit den Opfern der Katastrophe und mit osteuropäischen Kritikern der Atomwirtschaft. Dabei wurde allerdings oft nicht zwischen seriöser Kritik und Phantasterei (vor allem hinsichtlich der Opferzahlen) unterschieden, eine Tatsache, auf welche Kalmbach aufgrund einer streckenweise eher referierenden als analytischen Grundhaltung nicht genauer eingeht. Gleichzeitig wurden seit der Jahrtausendwende in Frankreich auch andere Aspekte der heimischen Atomindustrie öffentlich diskutiert: der irrsinnige Rationalisierungsdruck auf die Kernkraftwerksbelegschaften und die Verlagerung der Gesundheitsrisiken bei der Wartung der Anlagen auf schlecht bezahlte Leih- und Vertragsarbeiter intransparenter Subunternehmen.

Kalmbachs Studie ist diskursanalytisch konzipiert; als solche führt sie eine kommunikationsunfähige Elitenkultur vor, deren Diskurshoheit unter exogenem Druck (Unfall und Wissenstransfer in seinem Gefolge) in einer Glaubwürdigkeitskrise erodiert. Experten und Kernkraftgegner sprechen zwei – offensichtlich inkompatible – Sprachen: auf der einen Seite der Rückgriff auf Spezialstudien, Fachterminologie und Durchschnittswerte, auf der anderen Seite der Blick auf Einzelschicksale, der Versuch der Angstartikulation und der Aufbau einer Gegen-Wissenschaft. Dass diese innerfranzösische Übersetzungsblockade wesentlich zur Genese von Verschwörungstheorien beitrug, hätte genauer herausgearbeitet werden können.

Für eine Untersuchung, die sich mit technisch-ökonomischen Diskursen in einer Industriegesellschaft und technischen Elitenkulturen beschäftigt, ist das Buch recht technikvergessen. So wird ein – in den akribisch referierten Aussagen angelegter – wichtiger Strang der osteuropäisch-französischen Wissenstransfergeschichte kaum analysiert, nämlich die kerntechnischen Argumentationsstrategien und Entwicklungen in Frankreich nach Tschernobyl. Der Umwelthistoriker Joachim Radkau hat in seiner (Früh-)Geschichte der deutschen Atomwirtschaft2 einmal bemerkt, dass Reaktortypen in den Kontroversen verschiedener Interessengruppen zu „Charaktermasken“ wurden – der Ingenieursreaktor, der Physikerreaktor, der Autarkistenreaktor, der Energiewirtschaftsreaktor. Ähnliches kann man über die französischen Elitenreaktionen auf Tschernobyl sagen: Im Zentrum der Angstabwehr-Ideologeme nach Tschernobyl stand nicht nur die Wolke, die sich über dem Rhein anscheinend spurlos aufgelöst hatte, sondern auch der sowjetische Reaktor als Antipode des westlichen recte französischen Kernkraftwerks.

Die diskursive Ökonomie des Sprechens und Verschweigens war hier noch ganz im Gravitationsfeld der politischen Blockkonfrontation gefangen. Kaum gesprochen wurde über westliche Erfahrungen mit tragischen Interaktionen in komplexen, eng gekoppelten Mensch-Maschine-Systemen (Three Mile Island 1979). Auch systemunabhängige Faktoren wurden nicht diskutiert, zum Beispiel der Erfolgsdruck auf das Kernkraftwerkspersonal, welcher in kapitalistischen wie sozialistischen Anlagen den Sicherheitsbelangen abträglich war. Viel gesprochen wurde vom „Tschernobyl-Reaktor“ RBMK, der als angeblicher Bombenplutoniumproduzent, instabiles System und „Trabi ohne Bremsen“ (S. 89, 164) die Charaktermaske des nuklearen Schmuddelkinds abgab. Geschwiegen wurde wiederum von der Konvergenz der (post-) sowjetischen und westlichen Reaktortechnik, die schon vor Tschernobyl angelegt war und durch den Unfall, nach der Auflösung der Sowjetunion auch durch Wissens- und Technologietransfers beschleunigt wurde.

Überdies wurde von der Atomindustrie wenig Aufhebens davon gemacht, dass die Lehren aus Tschernobyl eben doch technologisch verwertet wurden – anders als es das beständig wiederholte Argument von der Nichtrelevanz des Unfalls für westliche Anlagen vermuten lässt. Das französisch-deutsche, heute nur mehr französische Projekt des „Europäischen Druckwasserreaktors“ EPR (European Pressurized Water Reactor), der einmal der kerntechnische Airbus werden sollte, ist Ergebnis eines fundamentalen Umdenkens nach Tschernobyl. Bei seiner Auslegung wird die Möglichkeit einer Kernschmelze gleich mitberücksichtigt, während man sie vorher in Risikostudien kleinrechnete. Allerdings sind die französischen Reaktorbauer hier in einer argumentativen Zwickmühle, denn wenn sie dieses Sicherheitsargument zu sehr propagieren, säen sie gleichzeitig Sicherheitszweifel an den Altanlagen.

Auf diesem Feld hätte die Untersuchung also jenseits der Beschreibung der medial ausgetauschten Argumente mehr Einordnungsleistung erbringen können. Auch etliche Ungenauigkeiten und Fehler gehen wohl aufs Konto der bei HistorikerInnen leider weitverbreiteten technikhistorischen Abstinenz. Kalmbach diskutiert obskure Theorien zum Unfallhergang in Tschernobyl als gleichrangig zur einschlägigen Literatur (S. 18f.). Leistungsreaktoren vom „Tschernobyl-Typ“ wurden nicht, wie behauptet, als militärisch-zivile Mehrzweckanlagen genutzt (S. 17), auch wenn der modulare Aufbau des RBMK eine solche Nutzung theoretisch erlaubt. Schnelle (das heißt mit „schnellen“, energiereichen Neutronen arbeitende) Brutreaktoren wie der französische Superphénix erbrüten kein Uran (S. 43), sondern Plutonium-239 aus dem in der Natur vorkommenden Uran-238 – diese Neuproduktion spaltbaren Materials während des Reaktorbetriebs war ja gerade der vermeintliche Hauptvorteil des „surgénérateur“. Schließlich werden beim Betrieb gleich welchen Leistungsreaktors nicht die Brennelemente zur Regulierung der Leistung verfahren, sondern die Regelstäbe (S. 20).

Diesen Kritikpunkten zum Trotz ist das Buch eine anregende Lektüre, die Lust darauf macht, die weiteren Diskussionen zu verfolgen. Die Kernenergiekontroverse in Frankreich hat nach dem Unfall in Fukushima Daiichi einen ganz neuen Impuls bekommen, weil nun nicht mehr der sowjetische „Trabi“, sondern ein als gleichrangig angesehenes technologisch-industrielles System betroffen ist. Bei bislang treuen Verbündeten der Atomwirtschaft, so in der Sozialistischen Partei des neuen Staatspräsidenten Hollande, machen sich Zweifel an „tout nucléaire“ breit. Erwartbar, oder schon erfolgt, sind erhebliche Anstrengungen seitens der Nukleokratie zur diskursiven Trennung des französischen Kernkraftwerks vom japanischen.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Publikationen im Kontext der Projektgruppe „Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl“ am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, URL: <http://www.after-chernobyl.de/index.php?option=com_content&view=article&id=46&Itemid=27&lang=ded=27&lang=de> (25.05.2012).
2 Joachim Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbek 1983.

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