G. Callesen u.a. (Hrsg.): Adler / Engels Briefwechsel

Titel
Victor Adler / Friedrich Engels, Briefwechsel.


Herausgeber
Callesen, Gerd; Maderthaner, Wolfgang
Erschienen
Berlin 2011: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
XXIII, 267 S.
Preis
€ 99,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Max Bloch, Bonn

Im Jahr 2009 zogen Harry Rowohlt (als Karl Marx) und Gregor Gysi (als Friedrich Engels) mit einem Programm über Lande, in dem sie die deftigsten Passagen des Marx-Engelsschen Briefwechsels einem begierigen Publikum zu Gehör brachten.1 Das war amüsant, brachte vor allem aber die menschliche, auch zynische Seite dieser beiden, über die Jahre versteinerten Vordenker des internationalen Sozialismus zu Bewusstsein. In der Tat ist wohl kaum eine historische Quelle derart dazu angetan, Einblicke in eine historische Persönlichkeit zu gewähren, wie deren Korrespondenz.2 Dies mögen sich auch Wolfgang Maderthaner, Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs und Wissenschaftlicher Leiter des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung (VGA) Wien, und Gerd Callesen, Mitarbeiter an der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), gedacht haben, die mit der vorliegenden, liebevoll gestalteten Edition zwei große Gestalten der internationalen Sozialdemokratie am Ausgang des 19. Jahrhunderts, Friedrich Engels und Victor Adler, in persönlich-freundschaftlichem Austausch zu Wort kommen lassen. Der eigentliche Briefwechsel macht dabei nur etwa die Hälfte der Edition aus, während die zweite Hälfte aus einem Dokumentenanhang besteht, der seinerseits zum Verständnis und zur Verortung der in den Briefen berührten Themengebiete beiträgt.

Nachdem uns Victor Adler durch Wolfgang Maderthaner in einer knappen, auf das Wesentliche verdichteten Lebensskizze als schwärmerischer Idealist, geerdeter Praktiker, deutschgesinnter Jude und bürgerlicher Sozialist, mithin als eine nicht ganz widerspruchsfreie Persönlichkeit vorgestellt worden ist, geht es mit dem Briefwechsel, der mit dem Neujahrstag 1888 beginnt und mit Engels’ Tod 1895 endet, sogleich in medias res. Der Ton, der dabei angeschlagen wird, ist von Adlers Seite her der Ton mitunter anrührender Verehrung für den 32 Jahre Älteren, während Engels die Komplimente des Jüngeren mit Wohlwollen und Ermutigung quittiert, einem Wohlwollen, das Adler „manchmal persönlich drückt, wie ein Unverdientes. Lache nicht! Ich bin durchaus nicht sentimental!!“ (S. 23) Es ist ein Schüler-Lehrer-Verhältnis, das zwischen den beiden bestand, und doch kann nicht gesagt werden, dass es ein einseitiges gewesen wäre. Mehr als einmal bittet Engels den eher säumigen Korrespondenten Adler um Mitteilungen und Briefe, und aus diesen Ermahnungen erhellt, wie wichtig dem „lieben General“ – so wird er von Adler tituliert – der Austausch mit dem jungen, vitalen Führer der österreichischen Sozialdemokratie, den er zu den Hoffnungsträgern der von ihm mitbegründeten Bewegung zählte, war. Hier kommunizieren zwei Männer miteinander, die – in der Politik nicht gang und gäbe – Freundschaft hielten, sich umeinander sorgten, Ernst und Spaß verstanden und die ihrer politischen Glaubensgewissheit eine gehörige Portion Selbstironie beizumischen verstanden.

Der Briefwechsel behandelt politische, aber auch persönliche Themen. Neben Fragen der Organisation – die österreichische Sozialdemokratie befand sich in ihrer Konstituierungsphase, und Adler stand an ihrer Spitze –, werden die Krankheit Emma Adlers, Victor Adlers Geldnöte, bei denen Engels gerne aushalf, sowie Engels' Altersbeschwerden, die in Victor Adler einen fürsorglichen Konsultanten fanden, ausgiebig besprochen. Dass auch Lästereien gegen Parteifreunde, gegen Georg von Vollmar, Karl Kautsky, Eduard Bernstein, vor allem aber gegen Wilhelm Liebknecht („Der Alte fängt an, direkt eine nuisance – u zwar eine internationale – für die Partei zu werden“) nicht zu kurz kommen, wird einen Kenner dieser Textgattung nicht verwundern. Von großem Interesse ist indes die Einigkeit zwischen Engels und Adler in allen Fragen der Taktik: Während Adler sich vor nichts so sehr fürchtete als „vor einer vorzeitigen Revolution“, die „uns um Jahrzehnte zurückwerfen“ würde (S. 33f.), pocht auch Engels unverdrossen auf den „gesetzlichen Weg“ zur Macht, den Weg der politischen Schulung, der durch die Parlamente führe. Den Generalstreik, der die Partei beschäftigte, lehnten beide entschieden ab, und Engels gratulierte Adler dazu, diese „Phrase“ auf dem Wiener Parteitag von 1894 „in Schlummer gewiegt“ zu haben (S. 69). Gerade als „Taktiker“ der Bewegung war Engels ein Prophet der Machbarkeit, der später von den sozialdemokratischen Reformisten gerne als Kronzeuge angerufen wurde und der schon 1890 gegenüber Adler für das plädierte, was er als Lebensfrage der Bewegung verstand: die „Anwendung der Theorie in corpore vivo“ (S. 7).

Engels letzte Lebensjahre galten vor allem der Redaktionsarbeit am „Kapital“, die er, wie er Adler mitteilte, als beschwerlich empfand, aber noch abzuschließen entschlossen war. Adler selbst nahm „die Lücken, die Wiederholungen, die abgerissenen Gedankenfäden“, die der dritte Band stellenweise aufwies, zwar wahr, artikulierte Engels gegenüber auch seine Kritik, war aber froh und dankbar, den verehrten Lehrer in schöpferischer Arbeit am Werke zu wissen, um dessen körperliches Wohlergehen er sich zusehends sorgte (S. 104f.). Engels’ Lektüreempfehlungen, die ihm das Studium dieser Schrift erleichtern sollten, nahm er jedenfalls dankbar entgegen. Bei alledem kokettierte Engels mit der Rolle des Marxschen Nachlassverwalters und alten Weisen der internationalen Sozialdemokratie, wenn er 1893 konstatierte, dass es wohl „leider mein Schicksal [sei], den Ruhm meines verstorbenen Freundes einzuernten“ (S. 164), und sich auf der anderen Seite gegen so manche „schauerliche Lobhudelei“ vehement verwahrte (S. 14). Adlers letzter Brief an Engels ist der bewegendste von allen: Hier kündigt er – unter einem Vorwand – eine Reise nach London an, um Engels, um dessen nahen Tod er wusste, noch einmal sehen zu können. Engels starb, kurz nachdem Adler seinen Londoner Aufenthalt hatte abbrechen müssen, am 5. August 1895.

Maderthaners und Callesens Edition ist angereichert durch zahlreiche Faksimiles – neben Briefen und Photographien auch eine Weihnachtsgrußkarte von Engels an Victor und Emma Adler in Wien. Der letzte von ihnen abgedruckte Text stammt weder von Engels noch von Adler, sondern von Engelbert Pernerstorfer, Adlers engem Weggefährten, der gleich ihm von der deutschnationalen Bewegung zur Sozialdemokratie gestoßen war. Kurz nach Engels’ Tod lässt Pernerstorfer anlässlich der über den Verstorbenen von der bürgerlichen Presse gegossenen Häme verlauten, dass wohl erst aus Engels Briefen, wenn sie dereinst veröffentlicht sein würden, erhellen werde, „welch liebenswerter“ Mensch Engels doch gewesen sei (S. 233). Maderthaner und Callesen haben uns diesen Menschen, dem – auch das wird in der vorliegenden Edition deutlich – schon zu Lebzeiten übermenschliche Züge angedichtet wurden, in seinem Briefwechsel mit Adler nähergebracht. Es bleibt zu hoffen, dass Schätze wie dieser aus den Archiven des VGA und anderer Institutionen zukünftig vermehrt geborgen und der Öffentlichkeit übergeben werden, und es bleibt ferner zu hoffen, dass dies in ähnlich gediegener, sorgfältiger und einfühlsamer Form geschehe wie in der hier angezeigten Edition.

Anmerkungen:
1 Vgl. die 2009 erschienene Hörbuch-CD „Marx & Engels intim. Harry Rowohlt und Gregor Gysi aus dem unzensierten Briefwechsel“.
2 Dasselbe gilt selbstverständlich auch für die Gattung des Tagebuchs. In diesem Zusammenhang sei besonders verwiesen auf die Tagebücher des Engels-Biographen Gustav Mayer: Gottfried Niedhart (Hrsg.), Gustav Mayer. Als deutsch-jüdischer Historiker in Krieg und Revolution 1914–1920, München 2009.

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