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Titel
Die Dauer der Stiftung. Eine diachronisch vergleichende Geschichte des weltlichen Kollegiatstifts St. Simon und Judas in Goslar


Autor(en)
Lohse, Tillmann
Reihe
Stiftungsgeschichten 7
Erschienen
Berlin 2011: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
€ 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Rabeler, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Die Dissertation Tillmann Lohses, entstanden unter der Ägide Michael Borgoltes an der Berliner Humboldt-Universität, will keine Gesamtdarstellung des Stifts St. Simon und Judas in Goslar bieten. Dessen Geschichte wird vielmehr zum Exemplum, an dem Lohse ein allgemein als wesentlich geltendes Merkmal von Stiftungen zu ergründen sucht: ihre Dauer in der Zeit, verstanden freilich nicht als objektiv gegebene Eigenschaft einer Institution, sondern als eine von den mit einer Stiftung verbundenen Akteuren immer wieder vorgenommene Zuschreibung: „Die Dauer der Stiftung soll [...] als ein Denkmodell [verstanden werden], dessen sich Menschen in der Vergangenheit (und Gegenwart) bedien(t)en, um ihrem ganz eigenen, bewusst (de-)stabilisierenden Handeln in Bezug auf ein konkretes Stiftungsgefüge Sinn zu verleihen“ (S. 19). Lohse knüpft damit vielfältig an die bisherigen stiftungsgeschichtlichen Forschungen Michael Borgoltes und seiner Schüler (etwa Wolfgang Eric Wagners oder Benjamin Schellers) an – dies gilt für die sozialen Funktionen von Stiftungen, für das Verhältnis von Stiftung und Genossenschaft, für die Stiftungswirklichkeiten, auch in ihrem historischen Wandel –, doch gelingen ihm dabei ganz eigene Akzentsetzungen.

Der Frage nach der Konzeptionalisierung, Perspektivierung und Instrumentalisierung der Stiftungsdauer geht Lohse im diachronen Vergleich nach, und zu diesem Zweck schlägt er einen weiten Bogen von der Fundation des Goslarer Stifts durch Kaiser Heinrich III. in den 1040er-Jahren bis ins 20. Jahrhundert. Auf eine chronologisch wie sachthematisch gleichmäßige Behandlung verzichtet er bewusst, um stattdessen den Umgang mit der Stiftung in sechs „Momentaufnahmen“ festzuhalten (S. 43–185). Ausgangspunkt ist jeweils eine bestimmte ereignisgeschichtliche Situation: die Ausstellung der ersten Urkunde zur ergänzenden Dotation des noch jungen Stifts durch Heinrich III. (1047), die mit einem Diplom Friedrichs I. vollzogene Trennung der Propstei- und Präbendengüter (1163), die Feier des Totengedächtnisses Heinrichs III. im 15. Jahrhundert (am Beispiel des Jahres 1469), die Bestätigung der Privilegien des Stifts durch Ferdinand III. (1647), die Grundlegung des zukünftigen Stiftungsfonds durch den preußischen Verwaltungsbeamten Christian Wilhelm von Dohm infolge der Säkularisation (1803/04), die Goslarer Feierlichkeiten zum 900. Todestag Heinrichs III. (1956). Hinsichtlich der Dauer der Stiftung in ihren akteursspezifischen Perspektiven handelt es sich durchweg um besonders aussagekräftige Episoden, die Lohse stets in einen breiteren Kontext einordnet: So musste Heinrich III. an der Sicherung der ökonomischen Überlebensfähigkeit der von ihm fundierten geistlichen Gemeinschaft gelegen sein. Gut ein Jahrhundert später erlebte diese eine schwere Krise, hervorgerufen offenbar durch Zerwürfnisse innerhalb des Kapitels, die allein durch die teilweise Auflösung der gemeinschaftlichen Lebensform beigelegt werden konnten. Hatten Funktionen und memoriale Praxis der Kommunität schon zu dieser Zeit durch zahlreiche „angelagerte“ Stiftungen (S. 91) Wandlungen erfahren, so hatten sich bis zum 15. Jahrhundert auch die Formen des Stiftergedächtnisses selbst verändert, beispielsweise durch die seit 1298 jährlich stattfindende Heiltumsweisung und überhaupt durch die Einbeziehung von Laien. Die kaiserliche Privilegienbestätigung von 1647 stand zwar in einer langen Reihe derartiger Urkunden seit dem 13. Jahrhundert, muss aber zugleich vor dem Hintergrund der Konfessionalisierung – von der Reformationszeit bis zu den kurzfristigen Verwerfungen infolge des Restitutionsedikts – gesehen werden. Die Säkularisation bedeutete im frühen 19. Jahrhundert nicht nur die schrittweise Auflösung der Kommunität, sondern auch die weitgehende Umwidmung der Erträge des Stiftungsvermögens, die fortan größtenteils dem Goslarer Schulwesen zugutekommen sollten. 1956 ging es schließlich um die Reaktivierung eines säkularen Gedenkens an Heinrich III. unter aktuellen politischen Vorzeichen.

Diesem ersten Teil, der die exemplarische Analyse von Ereignissen, Personen und Strukturen mit einem – im besten Sinn! – erzählerischen Zugriff verbindet, folgt eine systematische Zusammenführung (S. 187–214). Zum einen macht Lohse ein breites „Repertoire möglicher Umgangsformen mit dem Problem der ‚Stiftungsdauer‘“ aus, das er sechs „Idealtypen“ zuordnet, nämlich je drei „Prozeduren der Verstetigung“ und der „Entstetigung“ (S. 189). Unter ersteren fasst er die Forderung nach Dauerhaftigkeit einer Stiftung (Postulieren), die immer wieder notwendige Aneignung und Vergegenwärtigung des Stifterwillens (Rekapitulieren) und die Umsetzung stiftungsrelevanter Verfahren in symbolische Handlungsabläufe (Ritualisieren). Momente der Entstetigung sieht er in Änderungen der Stiftungskonzeption (Modifizieren), in unbeabsichtigten oder bewussten Verstößen gegen den Stifterwillen (Ignorieren) und in dessen gänzlicher Ablehnung (Negieren). Zum anderen beschreibt Lohse „Arrangements von Beständigkeit“ (S. 201), die er an Zweck, Vermögen, Verwaltung und Vollzug als Grundkomponenten einer Stiftung festmacht: Diese Elemente seien je für sich durch „eine ganz eigene Geschichte von Verstetigung und Entstetigung, Beständigkeit und Unbeständigkeit“ geprägt (S. 201), zugleich aber bestünden zwischen ihnen Wechselbeziehungen, und in ihrer jeweiligen Zusammensetzung wirkten sich diese Komponenten unterschiedlich intensiv auf die Dauer einer Stiftung aus.

Der langfristige Rückgang des Stiftungsvermögens, die tiefgreifenden Änderungen in der Stiftungsverwaltung und im Stiftungsvollzug, wie sie sich insbesondere für das 12. und das 16. Jahrhundert aufzeigen lassen, endlich die vollständige Umformung des Stiftungszwecks im 19. Jahrhundert: all dies künde in Goslar – so Lohse resümierend – aus „der Perspektive des Stifters [...] vom sukzessiven Zusammenbruch seiner Stiftungskonstruktion. Aus der Perspektive des Historikers lässt sich jedoch bei genauerem Hinsehen keine dieser Zäsuren für ein endgültiges Eingehen der Stiftung in Anspruch nehmen.“ Denn immer wieder seien „neue Regelungen [entworfen worden], die nun ihrerseits unbegrenzte und unveränderte Gültigkeit, also Dauer, beanspruchten“, auch wenn sie nicht mehr mit den Absichten und Anordnungen Heinrichs III. kongruent waren (S. 211). Dieses Verhältnis von Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Spannungsfeld von Interessen, Strategien, Handlungen und Verfahren – oder in den Worten Lohses: dieses „Wechselspiel von Verstetigung und Entstetigung, das immer neue Gemengelagen von Beständigkeit und Unbeständigkeit hervorbringt“ – sei nur zu analysieren, wenn der Blick auf die „Sicht der historischen Akteure“ gelenkt werde und damit auf die „sinnstiftende Kraft, die den jeweils bemühten Imaginationen und Prozeduren von Kontinuation und Iteration innewohnt“ (S. 212).

Der abschließende dritte Teil (S. 215–497), der die darstellenden Abschnitte an Umfang deutlich übertrifft, enthält (Neu-)Editionen mehrerer Quellen zur Geschichte des Stifts St. Simon und Judas: des Urbars von circa 1191/94, der Stifts-Chronik, des Ordinarius von 1435 und auszugsweise des Breviers von 1522. Dass es sich dabei nicht allein um einen bloßen Anhang handelt, sondern um einen genuinen Bestandteil der Arbeit mit hohem eigenen Gewicht, zeigt bereits die Erschließungstiefe der gebotenen Editionen. An den Anfang einer jeden ist eine Einleitung gestellt, die über die Textgeschichte, die Überlieferungsträger sowie nach Bedarf über die historische und gattungsspezifische Einordnung umfassend informiert. Hinzu treten kommentierende Anmerkungsapparate und getrennte Indices zu jedem Quellentext. So sind hier – wie in der gesamten Arbeit – bis ins Detail hinein Sorgfalt und Akribie des Autors zu spüren.

Obwohl Tillmann Lohse keine Gesamtdarstellung des Stifts St. Simon und Judas vorlegen wollte, gelingen ihm dennoch – dies zum Ersten – immer wieder erhellende Einsichten in die Stiftsgeschichte, insbesondere des späten Mittelalters und der Neuzeit. Nicht zuletzt erweisen seine Ausführungen, dass sich gerade die Neuzeitforschung verstärkt des Phänomens der Stiftungen und der gestifteten Gemeinschaften annehmen sollte. Lohse liefert – dies zum Zweiten – einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der spezifischen Dynamik vormoderner Stiftungen. Diese ergab sich nicht allein daraus, dass sich die Rahmenbedingungen und die Einflüsse der sozialen Umwelten änderten. Vielmehr unterlagen die Perspektiven, welche die wechselnden Akteure an Stiftungen anlegten, spezifischen Wandlungsprozessen. Diese gilt es durchaus auch in engeren chronologischen Horizonten, als es Lohse tut, zu untersuchen. Und schließlich – dies zum Dritten – bietet Lohse ein begriffliches Instrumentarium dieser stiftungsgeschichtlichen Dynamik an. Dabei ist nicht alles gänzlich neu (das vermerkt auch Lohse selbst, S. 214), doch gerade die Betonung des komplexen Ineinandergreifens unterschiedlicher Stiftungskomponenten verdient Beachtung. „Inwieweit sich der anhand der Stiftung St. Simon und Judas in Goslar erarbeitete Entwurf einer Typologie der ‚Umgangsformen‘ mit den Problem[en] der ‚Stiftungsdauer‘ generalisieren und ausbauen lässt, wird die Forschung zukünftig an anderen Fallbeispielen überprüfen müssen“ (S. 214). Dazu sei nachdrücklich aufgefordert.