Z. Pokrovac: Rechtswissenschaft in Osteuropa

Cover
Titel
Rechtswissenschaft in Osteuropa. Studien zum 19. und frühen 20. Jahrhundert


Autor(en)
Pokrovac, Zoran
Reihe
Rechtskulturen des modernen Osteuropas. Traditionen und Transfers 5
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Müller, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Der anzuzeigende, von Zoran Pokrovac herausgegebene Sammelband über Rechtswissenschaft in Osteuropa ist der nunmehr fünfte Band der Reihe „Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers“, die seit 2006 am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main erscheint. 2006 und 2007 erschienen zwei von Tomasz Giaro herausgegebene Sammelbände unter den Titeln „Modernisierung durch Transfer im 19. und 20. Jahrhundert“ sowie „Modernisierung durch Transfer zwischen den Weltkriegen“. Es folgten ebenfalls noch 2007 der von Zoran Pokrovac herausgegebene Band „Juristenausbildung in Osteuropa bis zum Ersten Weltkrieg“ und 2008 die Monographie von Katalin Gönczi über „Die europäischen Fundamente der ungarischen Rechtskultur. Juristischer Wissenstransfer und nationale Rechtswissenschaft in Ungarn zur Zeit der Aufklärung und im Vormärz“. Der Reihe liegt ein breiter Osteuropa-Begriff zugrunde, so dass in den fünf Bänden von Estland bis Griechenland und von Polen bis Russland sämtliche Staaten Nordost-, Ostmittel-, Südost- und Osteuropas im engeren Sinne behandelt werden. Neben der „Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas“ von Herbert Küpper 1 ist die MPI-Reihe zweifellos der umfassendste und systematischste Zugriff auf die Rechtsgeschichte des östlichen Europa. Sie umfasst die klassischen Bereiche des Staats- und Verfassungsrechts sowie des Privatrechts, die Juristenausbildung sowie die (universitäre) Rechtswissenschaft.

Die zum Teil sehr umfänglichen Aufsätze in dem Sammelband von Zoran Pokrovac lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Überblickstexte zur Entwicklung nationaler Rechtswissenschaften und Texte zu individuellen Juristen. So wird in der ersten Gruppe die Ukraine von Volodymyr Oleksijovyč Abaschnik behandelt, Polen von Arkadiusz Bereza, Grzegorz Smyk und Wiesław P. Tekely, Ungarn von Katalin Gönczi, die baltischen Länder von Marju Luts-Sootak, Rumänien von Dan Constantin Mâţă, Russland von Anton Rudokvas und Alexej Kartsov und die Böhmischen Länder von Petra Skřejpková und Jiří Šouša. Zur zweiten Gruppe gehören die Texte von Dalibor Čepula zu Baltazar Bogišić, von József Szabadfalvi zu Bódog Somló sowie von Agnieszka Zięba zu Józefat Zielonacki. Die Texte sind überwiegend ausschließlich an Dogmengeschichte interessiert. Sie informieren den Leser faktenreich und zuverlässig über den jeweiligen Anteil des Naturrechts, der Historischen Schule sowie der Pandektistik in den jeweiligen Rechtswissenschaften, weiterhin über die Kodifikationen. Die übergreifende These des Herausgebers Zoran Pokrovac zur Rolle der Rechtswissenschaft „für die rechtliche Homogenisierung Gesamteuropas“ priorisiert die pandektistische Schule, die „notfalls auch ohne Kodifikation und entgegen dem hergebrachten Recht – langfristig mehr zur Vereinheitlichung ihrer privatrechtlichen Hauptdisziplin in Ost- und Westeuropa beigetragen haben als alle legislativen Programme“ (viii f.).

In den Titeln vieler Beiträge in dem anzuzeigenden Band sowie in den anderen Sammelbänden werden die Begriffe der Reihenbezeichnung „Transfer“ und „Rechtskultur“ wieder aufgenommen. Die damit geweckten Erwartungen auf eine Rechtsgeschichte jenseits der eingefahrenen Bahnen werden aber nur zum Teil eingelöst. Wie diese Transfers vonstatten gingen, von welchen Akteuren in welchen Phasen und mit welchen Motiven sie vorangetrieben, wie die Rechtsinstitute adaptiert und institutionalisiert wurden, und schließlich welche Ergebnisse dies im politischen Prozess und der Rechtswirklichkeit zeitigte, dies wird in dieser traditionellen Rechtsgeschichte in der Regel nicht analysiert. Eine solcherart nominalistische und essentialistische Betrachtung des Transfers bürgerlicher Rechtsinstitute läuft folglich Gefahr, systematisch eine von der historischen und kulturwissenschaftlichen Forschung erschlossene Erkenntnisquelle zu verfehlen, nämlich die Analyse des Transfers verstanden als komplexer Prozess. Dort wird der Transferprozess eines Begriffs, einer Institution usw. in drei bzw. vier Phasen geteilt – dass Kennenlernen des Vorbildes, seine Einfuhr in das eigene Land sowie die eigentliche Implementierung und seine Wirkungsgeschichte. Während die ersten beiden Phasen sich noch als Elitenprojekt beschrieben lassen, sind in der Appropriation wesentlich weitere Kreise der Bevölkerung involviert. Der Rechtshistoriker Peter Häberle hat schon früh darauf hingewiesen, dass die dritte Phase des Rechtstransfers kaum als Totalrezeption, sondern besser als „schöpferische Reproduktion“ 2, als Anverwandlung eines Rechtsinstituts an lokale Bedürfnisse, Macht- sowie soziale und kulturelle Verhältnisse verstanden werden muss. Bei dieser starken Betonung der Handlungsebene müsste in allen Phasen des Rechtstransfers systematisch nach den Interessen der verschiedenen Akteure gefragt werden, sowie nach ihren Ressourcen, diese zu formulieren und zur Geltung zu bringen.

Auch bezüglich der Rechtskultur, wenn man darunter ein Ensemble der auf das Recht bezogenen Wertvorstellungen, Normen, Institutionen, Verfahrensregeln und Verhaltensweisen verstehen will, bleibt das in den Sammelbänden der Reihe vermittelte Bild blass. Die Analysen bewegen sich durchgehend auf der Ebene der Rechtsdogmatik, der verschiedenen Rechtsschulen sowie des Juristenmilieus, während der mitunter weit auseinanderklaffende Graben zwischen Rechtstexten und Rechtswirklichkeit nicht in den Blick gerät. Zudem scheint eine teleologische Wertungsperspektive dergestalt vorzuherrschen, dass es positiv zu bewerten sei, wenn möglichst früh und vollständig die Rezeption westeuropäischer Verfassungen, Bürgerlicher Gesetzbücher und anderer Rechtsinstitute vollzogen wurde. Angesichts der bewegten politischen und Territorialgeschichte Ostmittel- und Südosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert scheint es für die Rechtskultur dieser Staaten und Gesellschaften jedoch sinnvoll zu sein, grundsätzlich vom Vorhandensein von Rechtspluralismus auszugehen. Anders als die Rechtswissenschaft konzeptionalisiert die Rechtsanthropologie das Phänomen, dass innerhalb einer territorialen Entität, innerhalb einer Gesellschaft mehrere, zuweilen einander widersprechende Rechtssysteme, mindestens aber verschiedene Normensysteme koexistieren, nicht als Anomalie, sondern als Normalfall. Für das Südosteuropa des 19. und 20. Jahrhunderts zum Beispiel ist von der Koexistenz alten Gewohnheitsrechts, von byzantinischem und osmanischem Recht sowie von sukzessive aus Westeuropa importiertem Recht auszugehen. Dass das eine System das andere nicht sofort und vollständig verdrängte, wir also die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sehen, scheint allerdings kein südosteuropäisches Spezifikum zu sein, sondern ein regelmäßiges Phänomen des Institutionentransfers. Mit der Gedankenfigur des legal pluralism ließe sich ein Gutteil der Teleologie aus der Transferforschung von Rechtsinstituten und Institutionen herausnehmen und die Entwicklung der Staaten und Gesellschaften Ostmittel- und Südosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert als eine Ausprägung von „multiple modernities“ 3 analysieren.

Anmerkungen:
1 Herbert Küpper, Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas, Frankfurt am Main 2005.
2 Peter Häberle, Europäische Rechtskultur. Versuch einer Annäherung in zwölf Schritten, Frankfurt am Main 1997, S. 180.
3 Shmuel Eisenstadt, Multiple modernities, in Daedalus 129 (2000) 1, S. 1–29.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension