Cover
Titel
Arendt-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung


Herausgeber
Heuer, Wolfgang; Heiter, Bernd; Rosenmüller, Stefanie
Erschienen
Stuttgart 2011: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
X, 407 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elisabeth Gallas, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, Universität Leipzig

Auf den ersten Blick mag der Versuch, Hannah Arendts vielschichtiges und disparates Werk in die formalisierte Struktur eines Handbuchs zu überführen, als fehlgeleitet erscheinen. Zu sehr droht die Gefahr, mit der Systematik des Nachschlagewerks wesentliche Elemente ihres Denkens zu verfehlen, das von Offenheit, Dialogizität, Interdisziplinarität und der Suche nach historischem Urteil und Verstehen geprägt war. Doch den Herausgebern des „Arendt-Handbuchs“ gelingt der Spagat zwischen einer eng gesteckten Struktur der Darstellung und der Vermittlung der dynamischen Denk- und Schreibhaltung Arendts eindrucksvoll. Überzeugend ist nicht nur die gewählte Gliederung in Teile zum Leben, zu Werken, Konstellationen (hier sind wichtige Vordenker und intellektuelle Bezugspersonen Arendts beschrieben), zu Begriffen und Konzepten, zur Rezeption sowie einen guten Anhang mit biographischen und bibliographischen Details. Das Buch gewinnt außerdem durch eine Vielfalt internationaler Beiträgerinnen und Beiträger.

Nach einer eher kurz gehaltenen Beschreibung der zentralen Lebensstationen durch die wichtigste Biographin Arendts, Elisabeth Young-Bruehl, widmet sich das zweite Kapitel chronologisch Arendts „Werken und Werkgruppen“. Hierbei werden Arendts publizierte Texte in Gruppen vorgestellt und nach verschiedenen zeitlichen, räumlichen und thematischen Aspekten geordnet. Als produktiv erweist sich dabei der Anspruch, der Zweisprachigkeit Arendts Ausdruck zu verleihen. Ihre „transatlantische Erfahrung“ (S. VII) zeigt sich in einer Fülle englischer und deutscher Textfassungen, die häufig nicht eins zu eins übersetzt wurden. Besser als in zahlreichen Abhandlungen zuvor wird im Handbuch auf die verschiedenen Begrifflichkeiten und ihre Bedeutungen in den unterschiedlichen Sprachen hingewiesen sowie auf die essentiellen Unterschiede zwischen verschiedenen Ausgaben der Werke Arendts; dadurch werden lineare Rezeptionslinien verworfen. Zudem enthalten die einzelnen Darstellungen zu ihren Werken gute bibliographische Apparate, die die aktuelle Forschung integrieren und Übersichtlichkeit in die umfangreiche Sekundärliteratur bringen. Neben den Schriften Arendts werden zu den Werken mit Recht auch die zahlreichen, für die Entschlüsselung ihres intellektuellen Profils wesentlichen Briefwechsel gezählt.

Als Beispiel der gut geführten Struktur des Bandes in diesem ersten Teil mag der Komplex von Arendts Schriften der 1940er-Jahre dienen, die im Opus Magnum „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) mündeten. Die unter dem Titel „Europa, Palästina und Amerika“ besprochenen Artikel, in denen sich Arendt während und nach dem Zweiten Weltkrieg mit den politischen und historischen Dimensionen der jüdischen Existenzfrage befasste, werden hier nicht nur detailliert vorgestellt; berücksichtigt werden damit auch die verschiedenen Themen, die Arendt zu dieser für sie existentiellen Zeit beschäftigten (etwa Zionismus, Holocaust, Rechtsfragen, das Böse und der Totalitarismus als politische Form). Die Artikel werden außerdem mit Arendts Totalitarismusbuch in Verbindung gebracht, was ein ganzes Feld ihrer Denkentwicklung markiert. Der Eintrag zum Buch selbst führt die markanten Fragen ihrer Auseinandersetzung mit dem politischen Phänomen des Totalitarismus vor und kommt dabei zu dem Fazit, dass zwei Zukunftsperspektiven Arendts hier von besonderer Relevanz seien: ihr berühmt gewordenes Diktum vom universellen „Recht, Recht zu haben“ (S. 41) und ihr Prinzip der „Natalität“ („die augustinisch-christliche Hoffnung, auch noch ‚aus diesem Ende’ des 20. Jahrhunderts, das mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eingetreten ist, ‚einen neuen Anfang entstehen zu lassen’“, ebd.). Diese Perspektive verknüpft der Autor Hauke Brunkhorst mit Arendts Konzept von politischer Macht, aber auch Macht des Handelns, das sie in späteren Werken wie „Vita Activa“ (1958) oder „Über die Revolution“ (1963) diskutierte. Somit werden interessante Verbindungslinien zwischen Arendts Texten kenntlich.

Im schon genannten Teil zu Arendts Briefwechseln birgt die von den Herausgebern gewählte Konzentration auf veröffentlichte Korrespondenz eine Verengung, die sich auch auf den nächsten großen Teil unter dem Titel „Konstellationen“ auswirkt. Eine sehr wichtige Freundin Hannah Arendts, Hilde Fränkel, mit der sie zum Beispiel während ihrer ersten Deutschlandreise nach dem Zweiten Weltkrieg korrespondierte und der sie ihre Eindrücke vom Nachkriegsdeutschland schilderte, findet deshalb nur ganz knappe Erwähnung (S. 178). Ihr erster Mann Günther Stern (später Anders) hat hier ebenfalls keinen eigenständigen Eintrag und wird auch nicht als intellektuelles Gegenüber Arendts sichtbar, da er nur in verstreuten Hinweisen auftaucht. Daran anknüpfend erscheint die Auswahl der im folgenden Teil vorgestellten Persönlichkeiten, die unter dem Titel „Zeitgenössische Bezüge“ beleuchtet werden, insgesamt etwas verengt. Der Fokus liegt auf Kontakten und intellektuellen Einflüssen, die von Arendts deutschem Hintergrund herrührten. Die gesamte amerikanische Konstellation, die immerhin ihre akademische Karriere und Reputation als öffentliche Intellektuelle umgab und die oben genannte transatlantische Erfahrung mitbestimmte, spielt hier nahezu keine Rolle. Als vorrangigstes Beispiel wäre hierfür der Historiker Salo W. Baron von der New Yorker Columbia University zu nennen. Nicht nur ermöglichte er Arendt ihre erste englischsprachige Publikation, ließ sie in sein weit verzweigtes akademisches Netzwerk eintreten und unterstützte sie mit Gutachten; er bot ihr außerdem ihre erste berufliche Perspektive in New York durch die Anstellung bei der Jewish Cultural Reconstruction, Inc., unterhielt eine lebenslange Freundschaft mit ihr und war ihr ein Gegenüber in Fragen jüdischer Geschichte und Existenz.

Jenseits des amerikanischen Umfelds war als intellektuelle Folie für Arendt sicher auch das Frankfurter Institut für Sozialforschung relevant, auf das im Handbuch nur über die Figur Walter Benjamins verwiesen wird, obwohl Arendts Verhältnis zu Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sowie der Kritischen Theorie jenseits persönlicher Animositäten durchaus für ihre Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus, Antisemitismus und auch Nachkriegsdeutschland fruchtbar gemacht werden kann.1 Ein letzter Hinweis im Zusammenhang der Auswahl von Korrespondenz- und Gesprächspartnern Arendts gilt der überragenden Dominanz männlicher Vertreter. Auch wenn jede vorkommende Persönlichkeit hier richtig und berechtigt ist, fällt auf, dass nur sehr selten der Versuch unternommen wurde, auch ein – zweifellos weniger sichtbares und renommiertes – Netzwerk weiblicher Bezugspersonen für Arendt zum Thema zu machen. Sichtet man allerdings die umfassende Korrespondenz ihres Nachlasses, wird deutlich, dass Frauen wie Mary McCarthy, Hilde Fränkel, Anne Weil oder Charlotte Beradt durchaus entscheidende Rollen auch als Gesprächspartnerinnen für Arendt eingenommen haben.

Diese wenigen Einschränkungen sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die im Handbuch vorgenommene Präsentation von Arendts intellektuellen Traditionen und philosophischen Bezugsfeldern umfassend ist und zum weiteren Nachdenken über Arendts verschiedene Denkfiguren anregt. Ähnliches gilt für die gut ausgewählten Stichworte, die unter „Begriffe und Konzepte“ versammelt sind. Hier ergibt sich eine breit und offen angelegte Perspektive auf Elemente von Arendts Nachdenken, die vom Begriff des „Agonalen“ bis zum Konzept des „zivilen Ungehorsams“ reichen und einen guten Überblick zu Facetten ihrer Denkentwicklung bieten.

Zuletzt werden Rezeptionsdiskurse vorgestellt, die die Nachgeschichte von Arendts Denken bestimmen, wobei gleich im Vorwort darauf hingewiesen wird, dass Arendt „nicht schulbildend im engeren Sinne“ gewirkt habe und eher einzelne Versatzstücke ihrer theoretischen und politischen Ansätze in verschiedene Forschungszusammenhänge übertragen worden seien (S. VIII). Hier sind die wichtigen Stimmen der Arendt-Rezeption eingeordnet in größere Themenkomplexe wie Menschenrechte, Feminismus, Dichtung/Narrativität, Israel-Palästina-Konflikt, Demokratie und das Politische. Damit werden nicht nur die Impulse Arendts für die geistesgeschichtliche Entwicklung des 20. und 21. Jahrhunderts noch einmal sichtbar, sondern auch die vielfältigen Anknüpfungsmöglichkeiten, die ihr Werk und ihr Denken bieten.

Insgesamt gibt das „Arendt-Handbuch“ einen umfassenden und informativen Einblick in das vielschichtige Werk der Autorin. Es eignet sich bestens zur Einführung in die verschiedenen Facetten dieses Werks und bahnt einen sehr guten Weg durch die unüberschaubar gewordene Sekundärliteratur.

Anmerkung:
1 Einführend dazu: Fritz Bauer Institut / Liliane Weissberg (Hrsg.), Affinität wider Willen? Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 2011.