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Titel
Sine ira et studio. Das Subjektivitätsprinzip der römischen Geschichtsschreibung und das Selbstverständnis antiker Historiker


Autor(en)
Heldmann, Konrad
Reihe
Zetemata 139
Erschienen
München 2011: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Raphael Brendel, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Frage darf nicht lauten, ob es den antiken Historikern möglich war, die Geschichte ihrer Zeit objektiv darzustellen; täte sie es, wäre dieses Buch vermutlich keine zwanzig Seiten lang und könnte sich mit einer simplen Darlegung der Unmöglichkeit einer im tatsächlichen Sinne objektiven Darstellung begnügen. Die Frage lautet vielmehr: Wollten antike Historiker die Geschichte objektiv darstellen? Und das führt wiederum zu der Frage: Was ist unter einer Geschichtsdarstellung in der Antike zu begreifen? Dies sind die beiden Grundprobleme, denen sich das Werk des Kieler Philologen Konrad Heldmann widmet.

In der Einleitung (S. 11–19) räumt Heldmann mit einem verbreiteten Vorurteil auf: Was Tacitus meine, wenn er von einer Berichterstattung sine ira et studio spreche, sei nicht ein ihm oftmals zugeschriebener Objektivitätsanspruch, sondern nur der bekundete Wille, ohne persönliche Sympathie oder Abneigung für die in seinem Geschichtswerk behandelten Personen zu schreiben. Das erste Kapitel ist der Geschichtsschreibung als literarisches Kunstwerk gewidmet (S. 21–43). In den einleitenden Worten (S. 21–26) arbeitet Heldmann die konkrete Bedeutung des Zieles des prodesse et delectare heraus: Die Freude am Erkenntnisgewinn über die Vergangenheit sei eine der antike Historiographie fremde Aufgabe. Das Interesse an der Geschichtsschreibung ist nach Cicero in der prinzipiellen Lust an der Erkenntnis des Neuen bedingt, so dass fiktionale Stoffe diese Aufgabe ebenfalls übernehmen können. Die häufige Forderung, der Geschichtsschreiber solle durch ein literarisches Werk dem Leser (beziehungsweise dem Hörer) Vergnügen bereiten, bezieht sich gleichermaßen auf die sprachliche Gestaltung wie auf die Auswahl und Anordnung des Stoffes. In den Ausführungen zu Sprache und Stil (S. 27–32) arbeitet Heldmann die sprachlichen Mittel heraus, die Cicero und Quintilian der Geschichtsschreibung zuschreiben. Daneben betont er die Wahrscheinlichkeit, die nicht zwingend mit der Wahrheit gleichzusetzen ist, als literarästhetische Kategorie und als Grundprinzip der historischen Darstellung (S. 32–38). Dies begründe die Möglichkeit der Einbettung wörtlicher Reden in den Text, die – obwohl in diesem Wortlaut niemals so gehalten – dennoch den wahrscheinlichen Inhalt wiedergeben, womit nicht wissbare Lücken geschlossen werden könnten. Davon abzugrenzen seien reine Phantasieerzählungen des Autors zur Befriedigung der Sensationslust des Publikums, die bereits in der Antike heftig kritisiert wurden.

Im Unterkapitel zu Auswahl und Disposition (S. 38–43) nennt Heldmann Exkurse, Ausschmückungen mit Details und Dramatisierung als genutzte Möglichkeiten. Für das damit verbundene Grundprinzip weist Heldmann auf Cicero hin, nach dem es dem Historiker gestattet sei, unter Benutzung seiner Phantasie freier auszugestalten, aber von den Rhetoren vorbehaltenen wahrheitswidrigen Behauptungen abzusehen habe. Heldmann demonstriert am Beispiel des Polybios und des Tacitus zwei Möglichkeiten der Vermeidung von häufigen Wiederholungen: Polybios unterbricht längere Ereigniszusammenhänge durch Einschübe, Tacitus dagegen rechtfertigt seine Gleichförmigkeit mit dem für den Leser entstehenden Nutzen.

Das zweite Kapitel behandelt die Relativierung der Wahrheit und das Engagement für die Wirklichkeit (S. 45–120). Bei der Frage nach der Wahrheit des Historikers (S. 46–66) kommt Heldmann zu folgenden Ergebnissen: Das Wahrheitsgebot der griechisch-hellenistischen Historiographie meine die individuelle Wahrhaftigkeit des Historikers. Eine Abweichung von dieser Wahrheit sei zulässig, wenn sie aus übergeordneten Motiven geschehe, wie beispielsweise dem Ziel der Erhaltung der Frömmigkeit oder aus patriotischen Motiven (hier sei zwischen Parteinahme und Tatsachenverdrehung zu unterscheiden). Die historische Darstellung sei dem Gebot der Wahrscheinlichkeit unterworfen. Cicero meine mit dem lux veritatis nicht, wie häufig angenommen, das „Licht der Wahrheit“, sondern vielmehr die „Beleuchtung der Wirklichkeit“. In der Eigenschaft römischer Geschichtsschreibung als Gestaltung der Vergangenheit (S. 66–75) äußert sich die Verantwortung des Historikers nach Heldmann darin, die Erinnerung zu bewahren. Ein weiterer wichtiger Aspekt sei die moralische Komponente der Geschichtsschreibung mit dem Ziel der Sicherung der Herrschaftsansprüche Roms. Nach einem kurzen Exkurs zur Funktion der Grundsatzproömien bei Sallust und Tacitus (S. 75–77) charakterisiert Heldmann die römische Historiographie als Meinungs- und Thesenliteratur (S. 77–86). Thesenliteratur meint nach Heldmann die Verdichtung der Meinung des Historikers, die sich insbesondere in historischen Monographien über ein Einzelgeschehen oder eine Persönlichkeit äußere. Als Thesenliteratur seien deshalb Sallusts Catilina und Iugurtha zu bezeichnen, nicht aber der Agricola des Tacitus, den dieser explizit als dem ehrenden Andenken seines Protagonisten gewidmet bezeichnet. Der Begriff der Thesenliteratur sei allerdings auch auf breiter angelegte Werke anwendbar, wie das erste Kapitel der taciteischen Annales als Beispiel für ein zu einer konkreten These – hier der Verlust der Freiheit mit Augustus als erstem Alleinherrscher seit der Königszeit – verdichtetes Deutungsmuster zeige.

In der Diskussion des Proömiums der Historiae des Tacitus (S. 86–104) charakterisiert Heldmann den Autor als sorgfältigen, informierten und nicht systematisch domitianfeindlichen Historiker.1 Im abschließenden Kapitel untersucht Heldmann die Geschichtsschreibung als Politik mit anderen Mitteln (S. 105–120). Zwischen dem Historiker und den Adressaten des Werks konstatiert Heldmann eine Kommunikationssituation, die mit der einer Senatsrede vergleichbar sei, was sich auch in ähnlichen Intentionen und Zielen zeige. Hauptziel der Geschichtsschreibung sei die Beeinflussung der Gegenwart und der Zukunft durch eine Darstellung und Analyse der Vergangenheit. Aus den hierfür veränderten Bedingungen unter der Monarchie habe Tacitus als erster nachweisbar die praktischen Konsequenzen gezogen: Nach Heldmann sieht Tacitus seine Aufgabe nicht in der Erstellung eines Psychogramms des Kaisers, sondern in der Vermittlung und Darstellung der Mechanismen der Macht unter der Leitfrage nach der Korrektur der Fehlentwicklungen, die zur Übermacht des Kaisers und zur Ohnmacht des Senates geführt hätten.

Heldmanns kleine Monographie ist eine lesenswerte Lektüre, die mit manchem kursierenden Vorurteil aufräumt und die Quellen in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung stellt. Ein wenig irritiert allerdings das Literaturverzeichnis: Weniger aufgrund des Fehlens von Ronald Symes großem Tacitus-Buch2 – Syme findet an einigen Stellen durchaus Berücksichtigung –, sondern auf Grund der Tatsache, dass mit einer einzigen Ausnahme sämtliche Titel der zitierten Forschungsliteratur in englischer und deutscher Sprache gehalten sind, so dass sich die Frage nach dem (Un-)Wert der französischen und italienischen Tacitus-Forschung aufdrängt. Insgesamt handelt es sich somit um ein Werk, dessen Lektüre als gewinnbringend angesehen werden kann.

Anmerkungen:
1 Hier wäre durchaus noch eine eingehendere Auseinandersetzung mit den entgegengesetzten Thesen der (von Heldmann nicht herangezogenen) Dissertation von Ralf Urban, Historische Untersuchungen zum Domitianbild des Tacitus, Diss. München 1971 wünschenswert gewesen.
2 Ronald Syme, Tacitus, 2 Bde., Oxford 1958.

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