M. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4

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Titel
Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 4: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945-1990


Autor(en)
Stolleis, Michael
Erschienen
München 2012: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
720 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frieder Günther, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

Wegen der grundlegenden und zugleich unvermeidlichen Veränderung der Erscheinungsform und der Funktion des Staates sei es wahrscheinlich, „dass es eine Geschichte des öffentlichen Rechts im bisher verfolgten Sinn künftig nicht mehr geben wird“ (S. 676). Mit dieser unerwarteten Wendung lässt Michael Stolleis den abschließenden vierten Band seiner monumentalen, gut 2.000 Seiten umfassenden Gesamtdarstellung des öffentlichen Rechts in Deutschland enden.1 Als der Autor vor gut 25 Jahren mit der Arbeit am ersten Band begann, der die Zeit der Konfessionalisierung bis zum Untergang des Alten Reichs behandelt, war dieser Schluss wohl noch nicht absehbar. Es war damals die Zeit, als sich die Zweistaatlichkeit verfestigt und die bundesdeutsche Staatsrechtslehre endlich den Anschluss an die internationalen Debatten gefunden hatte. Der Bedeutungszuwachs des Europarechts und Völkerrechts im Kontext der Globalisierung sowie der damit einhergehende, einschneidende Formwandel des Rechts waren aber noch kaum vorauszusehen.

Der hier zu besprechende vierte Band behandelt einen Zeitraum, den Stolleis größtenteils selbst erlebte und von 1975 an als Staatsrechtslehrer an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main aktiv mitgestaltete. Das Buch behandelt die Wissenschaftsdisziplin des Verfassungs- und Verwaltungsrechts in West und Ost, berücksichtigt aber auch die Allgemeine Staatslehre, das Staatskirchenrecht, das Völkerrecht, das Europarecht sowie die zahlreichen neuen Sondergebiete des Verwaltungsrechts. Es versteht sich von selbst, dass der Inhalt der überaus detailreichen, sich über 700 Seiten erstreckenden Darstellung hier nur angedeutet werden kann.

Der Band setzt ein mit dem Wiederaufbau der Universitäten ab 1945, wobei im Westen die Wiederherstellung des Rechtsstaats, im Osten von Anfang an die sozialistische Neuordnung im Vordergrund stand. Dabei ist die Anpassungsfähigkeit an die neuen Rahmenbedingungen auch unter den bundesdeutschen Staatsrechtslehrern erstaunlich. Selbst wenn die Mehrheit durch die Zeit des Nationalsozialismus belastet war, führte die Arbeit an den juristischen Tagesproblemen doch dazu, dass sich dieser Personenkreis rasch mit der neuen Verfassungsordnung des Grundgesetzes arrangierte. Vor allem das Bundesverfassungsgericht bestärkte die Staatsrechtslehrer in der Auffassung, dass die Grundrechte eine Wertordnung konstituierten, die auf alle Gebiete des Rechts ausstrahlte und somit eine Art „gesamtgesellschaftlichen Verhaltenskanon“ (S. 227) darstellte. Diese im internationalen Vergleich einzigartige Verankerung der Verfassung in der gesamten Rechtsordnung war keinesfalls zwangsläufig und konnte, wie einige Staatsrechtslehrer sogleich erkannten, aufgrund der Tendenz zur Moralisierung einen freiheitsgefährdenden Charakter erhalten. Dennoch steht außer Frage, dass diese Interpretation in den 1950er-Jahren dabei half, die vordemokratische Rechtsordnung im rechtsstaatlichen Sinn zu durchdringen.

In der DDR wurde mit der Babelsberger Konferenz von 1958 das Staatsrecht ganz auf die Linie der Partei gebracht; das Verwaltungsrecht verschwand für gut zehn Jahre vollständig. Zwar gab es in der ostdeutschen Staatsrechtswissenschaft von nun an keine offen ausgesprochene Opposition, aber doch, wie Stolleis zeigt, subtile Versuche Einzelner, den vorgegebenen Spielraum zu erweitern.

Im Westen wurde ab der Mitte der 1960er-Jahre die Auseinandersetzung mit dem Demokratieprinzip nachgeholt, was im Rahmen des „konservativen Konsenses“ während der 1950er-Jahre versäumt worden war. Die Staatsrechtslehrer diskutierten nun über Pluralismus, Planung, über die Öffnung gegenüber den Sozialwissenschaften, über die Ausweitung der Staatsaufgaben hin zum allzuständigen Leistungsstaat, über neue Partizipationsformen im Verwaltungsrecht und zudem erstmals über die nationalsozialistische Vergangenheit des eigenen Fachs. Dabei wurde die bis dahin dominierende wertorientierte Interpretationsmethode zunehmend ideologiekritisch hinterfragt, denn „der Vorrat an metaphysischen Gemeinsamkeiten [...] war aufgebraucht“ (S. 548), so dass man zu einem methodisch erweiterten Gesetzespositivismus zurückkehren konnte.

Als sich die bundesdeutsche Staatsrechtslehre immer mehr mit der Zweistaatlichkeit abgefunden hatte, rückte 1989/90 plötzlich die Wiedervereinigung auf die Tagesordnung. Die Mehrheit plädierte für den Beitritt der DDR gemäß Art. 23 GG alter Fassung. Es kam anschließend zur „Abwicklung“ der gesamten ostdeutschen Rechtswissenschaft und damit zu einem personellen Bruch, den es im Westen nie gegeben hatte.

Wie schon in den Vorgängerbänden ist die Darstellung des Zeitraums von 1945 bis 1990 umfassend im besten Sinne des Wortes. Stolleis beschränkt sich nicht – wie für die traditionelle Rechtsgeschichte charakteristisch – auf die historische Entwicklung einzelner Rechtsfiguren, sondern bezieht institutionelle Prozesse mit ein, also Zeitschriftengründungen, die Entwicklung des Fachs an verschiedenen Universitäten, die Debatten in der exklusiven Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer – die 1949 bis 1990 von 82 auf immerhin 357 Mitglieder anwuchs und erst 1970 die erste Frau aufnahm –, die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Schulen und Gruppierungen sowie die Konkurrenz mit benachbarten Wissenschaftsdisziplinen und mit dem immer wichtiger werdenden Bundesverfassungsgericht. Zugleich werden die wissenschaftlichen Debatten stets auf einprägsame Weise mit dem allgemeinen zeithistorischen Kontext verbunden. Die in den Fußnoten angegebene Literatur ist eine wahre Fundgrube für weiterführende Recherchen; die stets glänzend formulierten biographischen Skizzen der zahlreichen Staatsrechtslehrer bringen die Eigenheiten der Personen in knapper Form auf den Punkt. Zudem bereichern Zitate aus Briefen einzelner Staatsrechtslehrer die Darstellung auf markante Weise. Stolleis kann mit manchen Informationen aufwarten, die bislang nur „Insidern“ bekannt waren, so beispielsweise zur rechtslastigen Vorgeschichte des berühmten Tübinger Grundgesetz-Kommentators Günter Dürig (1920–1996), der noch 1954 auf einem Soldatentreffen durch seine nationalistischen Töne für Aufsehen sorgte. Dennoch dürften künftige Studien, die sich auf die Überlieferung in weiteren Nachlässen stützen, noch zusätzliche Erkenntnisse über das Beziehungsgeflecht und die Konfliktlinien unter den Staatsrechtslehrern zutage fördern.

Kritisch zu fragen bleibt, ob es nicht möglich gewesen wäre, an ein paar Stellen des Bandes den Inhalt auf geschlossenere und straffere Weise zu präsentieren. Die Darstellung wird hier ein Stück weit zum Spiegelbild eines regelrecht ausufernden Fachs. Stolleis hat sich für eine thematische Gliederung des Stoffs entschieden, was immer wieder zu zeitlichen Überschneidungen und inhaltlichen Wiederholungen führt. Ein Großteil der Abschnitte zur DDR wurde bereits an anderer Stelle publiziert2 und erscheint mit der Entwicklung in der Bundesrepublik eher unverbunden. Der Band führt somit vor Augen, dass in diesem Zusammenhang anstatt von einer Beziehungsgeschichte eher von einer Parallelgeschichte zwischen Ost und West zu sprechen ist, die beiderseits von Ignoranz und scharfer Abgrenzung geprägt war.

Nach der deprimierenden Erfahrung mit dem Niedergang des öffentlichen Rechts in der Zeit des Nationalsozialismus betrachtet Stolleis die Entwicklung der Staatsrechtslehre im Westen generell mit Sympathie. Er macht keinen Hehl daraus, dass er etatistische Positionen, wie sie von Staatsrechtslehrern aus dem Umkreis von Carl Schmitt vertreten wurden und beispielsweise im „Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland“3 bis heute zum Ausdruck kommen, zur Lösung gegenwärtiger Probleme für unangemessen hält. Wenn etwa Teile der Staatsrechtslehre das Konzept geschlossener Staatlichkeit gegen die voranschreitende europäische Integration in Stellung bringen, so werden sie den Herausforderungen der Globalisierung mit ihrer „multiplen Normativität“ kaum mehr gerecht.

Mit dem vierten Band ist Michael Stolleis’ Darstellung der 500-jährigen Geschichte des öffentlichen Rechts an ein Ende gekommen. Es liegt eine einzigartige Pionierleistung aus der Hand eines einzelnen Forschers vor, von der andere Disziplinen – einschließlich der Geschichtswissenschaft – noch weit entfernt sind.

Anmerkungen:
1 Die vorherigen Bände: Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988; Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, München 1992; Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999 (letzterer rezensiert von Wilfried Nippel, in: H-Soz-u-Kult, 06.10.1999, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=105> [06.07.2012]).
2 Michael Stolleis, Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, München 2009.
3 Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 9 Bde., 3. völlig neu bearb. und erw. Aufl., Heidelberg 2003–2011 (1. Aufl.: 10 Bde., 1987–2000).

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