Cover
Titel
Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit


Autor(en)
Wirsching, Andreas
Erschienen
München 2012: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
487 S., 26 SW-Abb., 13 Grafiken, 10 Tabellen
Preis
€ 26,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Ther, Institut für osteuropäische Geschichte, Universität Wien

Wer wagt, gewinnt. Auf diese einfache Formel lässt sich Andreas Wirschings Opus Magnum bringen, das bereits in einigen Tageszeitungen positiv rezensiert wurde. Der neue Direktor des Instituts für Zeitgeschichte hat mit seinem Buch eine Synthese zur jüngsten europäischen Geschichte vorgelegt, die man aufgrund ihres thematischen Umfangs und Anspruchs in eine Reihe mit den englischsprachigen Überblicksdarstellungen von Tony Judt, Mark Mazower, Harold James und dem nach wie vor unerreichten Norman Davies stellen kann. Wirschings Werk ist von der Neugier eines Autors durchdrungen, der während der Forschung und des Schreibprozesses eine neue Welt für sich entdeckt hat: das Europa, das aus dem Umbruch von 1989 hervorgegangen ist.

Das Leitmotiv der Darstellung ist – wie schon im Titel angedeutet – die Freiheit, einschließlich ihrer unerwarteten und manchmal unerwünschten Nebenfolgen. Dementsprechend beginnt das Buch mit einem Überblick zur „demokratischen Revolution“ von 1989 und zur Transformation des östlichen Europas, wobei der postsowjetische Raum ausgeklammert bleibt. Dagegen befasst sich Wirsching eingehend mit den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien, die als Versagen Europas gedeutet werden. Dies führt zu Europa als politischem Projekt, dem Thema des dritten Kapitels. Generell widmet das Buch der europäischen Politik und Integration viel Aufmerksamkeit. Das vierte Kapitel über die „Herausforderungen der Globalisierung“ betrachtet das mit sich selbst und diversen äußeren Krisen kämpfende EU-Europa in einem globalen Rahmen. Wirsching zeigt hier erneut seinen weiten Horizont und lässt sich, wenn auch etwas verspätet, auf kulturhistorische Themen, Familien, Gender, Medien und andere aufstrebende Forschungsfelder der Zeitgeschichte ein. Auf die politikgeschichtliche Kernkompetenz des Autors verweist ein Teilkapitel, das die unübersichtliche politische Gemengelage in Europa und seinen einzelnen Ländern in einem post-ideologischen Zeitalter umreißt. Das fünfte Kapitel bietet erneut ein Panorama über unterschiedliche Forschungsfelder, darunter Fragen der europäischen Identität sowie Geschichtskulturen im Vergleich. Damit ist zugleich ein analytischer und darstellerischer Vorzug des Buchs genannt, das vergleichend auf einzelne Länder und Nationalgeschichten eingeht, aber diese zugleich in Beziehungen miteinander setzt und zu einer europäischen Geschichte verbindet. Das letzte Kapitel thematisiert im Anschluss an Hartmut Kaelble die Konvergenz Europas in den vergangenen 30 Jahren; es enthält eine kluge Analyse der Banken-, Schulden- und Wirtschaftskrise, die das weitere Zusammenwachsen Europas demnächst beenden könnte.

Die Struktur des Buchs überzeugt, und die Kapitel sind so abgefasst, dass sie für sich stehen könnten. Das Buch lässt sich somit auch gut für die Lehre einsetzen, wobei diesem Zweck sprachliche Eigenheiten im Wege stehen, auf die noch zurückzukommen sein wird. Die Bibliographie erscheint auf den ersten Blick eher schmal, aber eine Synthese dieses Umfangs setzt den Mut zur Reduktion voraus. Außerdem zeigen nicht zuletzt die Fachkenntnisse über das östliche Europa, dass Wirsching weit mehr gelesen hat als angegeben. Auch die zahlreichen, überwiegend medialen Quellen in den Fußnoten sind gut ausgewählt. Obwohl etliche der analysierten Prozesse und Ereignisse nur wenige Jahre zurückliegen und sich über viele Länder erstrecken, führt der geschulte Blick des Historikers zu grundlegenden und weiterführenden Thesen, die man in sozialwissenschaftlichen Synthesen zur Transformationszeit so nicht vorfindet.

Ein anderer, naheliegender Vorzug der historischen Herangehensweise liegt in der Einbeziehung längerer Entwicklungslinien. Dies bewährt sich gleich im ersten Kapitel über die „demokratische Revolution“ (ein Plural wäre angemessener gewesen, aber das ist eine Petitesse): 1989 wird nicht als „Stunde Null“ betrachtet, sondern mit der Vorgeschichte von Krisen und Reformen in Ost und West während der 1980er-Jahre verbunden. Die Darstellung des Umbruchs wirkt indes streckenweise schematisch, der Sprung von Land zu Land erscheint ein wenig deskriptiv. Die Revolutionen waren nicht so friedlich wie dargestellt, und die Demokratie ist eher ein Resultat von 1989 als eine Begleiterscheinung des Umbruchs. Zudem stellt sich die Frage, warum die Sowjetunion und ihre europäischen Nachfolgestaaten nicht einbezogen werden. Dies steht im Widerspruch zur prominenten Rolle, die Gorbatschow in diesem Buch erhält. Außerdem waren die baltischen Staaten ein Teil des sowjetischen Imperiums, und man würde sie wohl kaum aus EU-Europa hinausdefinieren. Das Bild der Transformation seit 1989 verändert sich, wenn man die östliche Grenze der EU überschreitet und zum Beispiel die Ukraine einbezieht, den zweitgrößten Flächenstaat in Europa, der für die Machtbalance zwischen der EU und Russland eine entscheidende Rolle spielt. Aber die für Historiker eigentlich nicht zulässige Gleichsetzung von EU und Europa gehört offenbar zu den Resultaten europäischer Identitätsstiftung seit 1989, die Wirsching selbst ausführlich diskutiert. Seine Grundthese lautet, dass Europa gerade mit und aus seinen Krisen gewachsen sei.

Im Kapitel über die Transformation behauptet Wirsching, die neoliberale Schocktherapie sei die Grundlage des späteren Aufschwungs in Ostmitteleuropa gewesen. Er folgt damit unausgesprochen einer von Jeffrey Sachs und anderen Ökonomen verbreiteten Erfolgsgeschichte, die in der internationalen Debatte von 2009 zu den Auswirkungen der Transformation auch auf Widerspruch stieß.1 Ob von den „Schocks“ wirklich derartige Impulse ausgingen, mag mit Blick auf die Massenarbeitslosigkeit und die Abwanderung aus der ehemaligen DDR dahingestellt bleiben. Die Reformpolitik in Tschechien und in Polen war keineswegs so neoliberal, wie von Václav Klaus und anderen Reformpolitikern behauptet. In Tschechien ermöglichte unter anderem eine strikte Mietpreisbindung breiten gesellschaftlichen Schichten ihr Auskommen, in Polen bremsten die postkommunistischen Wahlsieger von 1993 die Reformen. Der bis heute andauernde Wirtschaftsaufschwung in Polen widerlegt ohnehin das neoliberale Dogma, dass das Prinzip des Privateigentums bzw. umfassende Privatisierungen die Grundlage einer erfolgreichen Marktwirtschaft sein müssen.

Auch die Charakterisierung der EU als einer sehr stark auf den Markt orientierten Institution bedarf der weiteren Debatte. Bereits vor der Erweiterung der Union versuchte die EU-Verwaltung in Brüssel zwischen armen und reichen Staaten umzuverteilen, regionale Ungleichgewichte auszugleichen und die Wirtschaft in Randgebieten zu fördern. Diese Komponente der EU-Politik wird häufig unterschätzt. Doch solche kritischen Fragen sollten nicht vom Verdienst des Autors ablenken, dass er die europäische Integration und die Brüsseler Politik so stark in den Vordergrund stellt. Lange Zeit haben Historiker und sogar bekannte Experten zur europäischen Geschichte die EG und die EU kaum berücksichtigt – wohl auch wegen des Vorurteils, die Geschichte der europäischen Integration sei langweilig. Kiran Klaus Patel hat das mit seinem Buch über die Agrarpolitik bereits widerlegt2; Wirschings Kapitel und Passagen über die EU gehören zu den analytisch besten und vergleichsweise flüssig geschriebenen.

Damit ist eine offensichtliche Schwäche des Buchs zu nennen: Die Sprache ist mit Substantivierungen, Füllwörtern und Adjektiven überfrachtet. Es finden sich Metaphern wie zur österreichisch-ungarischen Grenze als „Achilles-Sehne des SED-Regimes, an der es seine schließlich tödliche Wunde empfing“ (S. 42). Dass in dem Buch wenig Akteure bzw. handelnde Menschen vorkommen, wurde bereits in Zeitungsrezensionen moniert. Dagegen ist der Leser mit einer Vielzahl sprachlicher Determinismen konfrontiert, dass bestimmte Entwicklungen so kommen mussten, unausweichlich oder folgerichtig waren. Vielleicht ist diese Sprache ein Ausdruck der „Strukturgeschichte der internationalen Beziehungen“, die Wirsching für sich postuliert und für die er vom Meister der Strukturgeschichte und der Substantivierungen, Hans-Ulrich Wehler, in einer Rezension warmen Applaus erhielt.3 In einigen Passagen des Buchs wird deutlich, dass Wirsching als Autor andere Potenziale hat. Immer dann, wenn es um Außenpolitik, die Geschichte der alten Bundesrepublik, Englands oder Frankreichs geht, wirkt die Sprache wie befreit. Diese Anmerkungen mögen formalistisch erscheinen, aber es geht bei einem derart umfassenden und klugen Buch doch um mehr. Die Geschichtswissenschaft ist wie alle Disziplinen immer stärker mit quantifizierenden Erfolgskriterien wie dem Citation Index oder dem Ranking von Zeitschriften konfrontiert. Zudem leiden traditionelle Fachbücher unter sinkender Nachfrage. Wenn man sich diesen Trends entziehen will, sollte man mehr auf sprachliche Qualitäten achten, insbesondere in großen Synthesen. Dann besteht auch die Chance, dass nicht nur amerikanische oder englische Fach- und Sachbücher ins Deutsche übersetzt werden, sondern die Impulse auch in die andere Richtung gehen.

Kritisch zu betrachten sind außerdem einige vermeintliche Zwangsläufigkeiten der Transformationszeit, die Wirsching behauptet. Wieso mussten die deutsche Wiedervereinigung und dann die EU-Erweiterung unter der Prämisse verlaufen, dass sich im Osten fast alles und im Westen fast nichts verändert? Wieso wurde das demokratische Potenzial der Revolutionen von 1989 nicht zu einer Stärkung der Demokratie auf europäischer Ebene genutzt? Die Karriere des Schlagworts „Rückkehr nach Europa“ belegt, warum man die Periode nach 1989 auch als Zeit der verpassten Chancen betrachten kann. Václav Havel meinte mit „návrat do Evropy“ eine (wohl zu sehr) idealisierte Demokratie mit einer anderen Art und Intensität der Bürgerbeteiligung statt der üblichen Parteiendemokratie. Weil kaum jemand Havel genau zuhörte oder seine Bezüge auf Masaryk und den Philosophen Jan Patočka verstand, wurde daraus eine einseitige Anpassung an den Westen. Auch die ständig wiederkehrende Behauptung, bestimmte politische Maßnahmen, Einschnitte oder Reformen seien „alternativlos“ oder „unumkehrbar“, gehört zum bis heute bestimmenden Erbe der Transformationszeit, zu der man mehr sprachliche Distanz einnehmen sollte. Trotz dieser Kritik im Detail ist es für Zeithistoriker/innen und eine breitere Leserschaft erst einmal alternativlos, Andreas Wirschings kluges und weiterführendes Buch zu lesen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Mitchell Orenstein, What Happened in East European (Political) Economies? A Balance Sheet for Neoliberal Reform, in: East European Politics and Societies 23 (2009), S. 479–490.
2 Vgl. Kiran Klaus Patel, Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutschland in der Agrarintegration der EWG 1955–1975, München 2009.
3 Hans-Ulrich Wehler, Kontinent der Dienstklassen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.3.2012, S. L 20.