G. Dietze u.a. (Hrsg.): Kritik des Okzidentalismus

Cover
Titel
Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht


Herausgeber
Dietze, Gabriele; Brunner, Claudia; Wenzel, Edith
Reihe
GenderCodes 8
Anzahl Seiten
313 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Kathrin Wittler, Humboldt-Universität zu Berlin

Der umfangreiche Sammelband „Kritik des Okzidentalismus“, der auf eine Tagung des Berliner Graduiertenkollegs „Geschlecht als Wissenskategorie“ zurückgeht1, versteht sich als kritische Reaktion auf die jüngsten Tendenzen „okzidentalistischer Selbstvergewisserung“ in Europa und will Aufmerksamkeit für „identitätsstiftende Neo-Rassismen“ wecken (S. 24), die sich über eine Rhetorik der ‚Emanzipation‘ und ‚Aufklärung‘ definieren. Indem der Band diese gegenwartsbezogene (wissenschafts-)politische Programmatik mit konzentrierten methodischen Reflexionen verbindet, bezieht er nicht nur in den aktuellen Debatten Position, sondern leistet auch einen wichtigen kritischen Beitrag zur Orientalismusforschung.

Geschlecht im Okzidentalismus“: Die Wissenskategorie Geschlecht erweist sich als höchst glücklich gewählter Fokus für die in diesem Band erprobte Theoriearbeit, da besonders die Muslimin sich wiederholt als Kristallisationsfigur von rassistischen, okzidentalistischen und feministischen Deutungsmustern und Wertungsschemata erweist. Gabriele Dietze führt beispielsweise aus, dass durch die Stigmatisierung von kopftuchtragenden Musliminnen die vermeintlich erfolgreiche Emanzipation westlicher Frauen zum Qualitätsmerkmal der ‚abendländischen Kultur‘ erhoben und damit von der Unvollständigkeit des Emanzipationsprozesses in Deutschland abgelenkt werde. Verschiedene Beiträge problematisieren solche Doppelbödigkeiten okzidentalistischer Selbstvergewisserung, wie sie etwa auch in der Haltung zu Homosexuellen zu beobachten sind.

Dass der (Mainstream-)Feminismus dabei eine prominente Rolle spielt, wird sowohl in zeitgenössischer und historischer als auch theoretischer Perspektive einer kritischen Bewertung unterzogen. Daniela Marx zeigt, dass deutsche und niederländische feministische Zeitschriften in ihrer Polemik gegen ‚falsche Toleranz‘ den Mehrheitsdiskurs durch leitkulturelle Vorstellungen unterstützen; Anette Dietrich führt in ihrem sehr lesenswerten Beitrag vor, dass die Emanzipationsvorstellungen der bürgerlichen Frauenbewegung in der Kolonialzeit auf rassistisch fundierten Geschlechterkonstruktionen und Ausschlusspraktiken beruhten; und Ina Kerner schließlich setzt sich mit der Frage auseinander, wie Ansätze der Postcolonial und Critical Whiteness Studies für den akademischen Feminismus anschlussfähig zu machen sind.

Das Andere im gegenwärtigen Integrationsdiskurs: Mehrere Beiträge versuchen, die spezifisch neuen Muster im gegenwärtigen Sprechen über das Andere theoretisch zu reflektieren. Ähnlich wie Carolin Emcke in ihrem vielbeachteten ZEIT-Artikel zum ‚liberalen Rassismus‘2 beobachtet Dietze einen Rassismus, der als ‚berechtigte Kritik‘ aufgeklärten Denkens verteidigt werde, und spitzt ihre Definition des Okzidentalismus dementsprechend darauf zu, dass dieser als ein „Meta-Rassismus der Eliten“ (S. 32) zu verstehen sei. Indem Susanne Lanwerd den anachronistischen Charakter des vielbeschworenen Konzepts der Säkularisierung begriffsgeschichtlich herausarbeitet, macht sie auf die Brüchigkeit von solchen okzidentalistischen Argumentationsstrukturen aufmerksam.

Während Kien Nghi Ha Ähnlichkeiten zwischen aktuellen „germanophilen Integrationsprogrammen“ und rassistischen Kolonialisierungspraktiken anprangert (S. 138), arbeitet Schirin Amir-Moazami am Beispiel der Deutschen Islam-Konferenz detailliert und präzise die in Toleranzdiskursen angelegte Ambivalenz zwischen einem „paternalistischen Gestus der Duldung von Differenz“ und der damit verfestigten Machtposition der Duldungsinstitution heraus (S. 165).

Transnationale Dimensionen von Okzidentalismus: Dass der Blick allein auf den deutschen Debattenwald jedoch keineswegs zum Verständnis der Exklusions- und Inklusionsmechanismen ausreicht, die sich gegenwärtig beobachten lassen, zeigt Yasemin Yildiz’ Beitrag. In einem eindrücklichen Vergleich zweier Spiegel-Artikel von 1990 und 2004 über misshandelte türkische Frauen macht sie einen Wandel der Benennungspolitik sichtbar, der die sogenannten Musliminnen und Muslime als neue Adressatengruppe hervorgebracht hat.3 Die diskursive Verschiebung von ‚Türken‘ zu ‚Muslimen‘ aber kann, wie Yildiz deutlich macht, nicht allein aus innerdeutschen Entwicklungen wie etwa dem geänderten Staatsbürgerschaftsrecht erklärt werden. Vielmehr sei dieser Verschiebung mit dem Globalphänomen des Islams ein transnationales Moment eingeschrieben: „Die bedrohliche Dimension einer entgrenzenden Transnationalisierung wird projiziert auf Subjekte, die bereits vorhanden sind, aber nun anders adressiert werden“ (S. 97).

Auch Fernando Coronils erstmals im Jahre 2000 auf Englisch erschienener Beitrag macht nachdrücklich auf die veränderten Bedingungen in einer globalisierten Welt aufmerksam. Mit dem Begriff des ‚Globalzentrismus‘ bezeichnet er einen Okzidentalismus, der nicht mehr über die Bekräftigung einer radikalen Differenz zwischen Orient und Okzident funktioniert, sondern vielmehr gerade über die Einebnung dieser Differenz. Damit erfordere der Globalzentrismus auch andere Formen der Kritik und Bekämpfung.

Okzidentalismus als Analysekategorie: Der Band besticht durch große Kohärenz sowie ein fast durchgehend hohes Niveau. Das ist nicht zuletzt insofern bemerkenswert, als er einen umstrittenen und relativ neuen Begriff im Titel führt. Ian Buruma und Avishai Margalit haben 2004 mit ihrem Buch „Occidentalism“ einige Aufmerksamkeit erregt, dessen Untertitel „The West in the Eyes of Its Enemies“ bereits ihre Definition von Okzidentalismus formuliert.4 Die Herausgeberinnen des Bandes „Kritik des Okzidentalismus“ verwahren sich jedoch gegen eine solche Definition, da sie allzu leicht im ‚Kampf der Kulturen‘ instrumentalisiert werden könne. Sie gehen vielmehr im Anschluss an Fernando Coronil5 davon aus, dass der Okzidentalismus als westliche Selbstvergewisserung der eigenen Überlegenheit die Bedingung für jeden historischen und gegenwärtigen Orientalismus bilde.

Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, dass der ‚stillen Norm‘ des Okzidents ihre Selbstverständlichkeit genommen wird; und eben dies leistet der Band in vorbildlicher Weise. Es scheint allerdings fraglich, ob die von den Herausgeberinnen gewählte enge Begriffsverwendung tragfähig ist. Denn Coronils Behauptung, Okzidentalismus und Orientalismus seien nur von westlicher Seite und nur von einer überlegenen Machtposition aus denkbar, ist weder methodisch noch empirisch haltbar.6 Die damit verbundene Beschränkung auf westliche Selbstkritik in diesem Band führt letztlich zu einem gut gemeinten, aber darum nicht weniger problematischen Eurozentrismus.

Fasst man mit dem Anthropologen James G. Carrier, dessen Überlegungen Dietze kurz referiert, den Okzidentalismus zunächst einmal unabhängig von Wertungen, Schuldzuweisungen und Sprecherpositionen als Ensemble ‚stilisierter Bilder des Westens‘7, dann ergibt sich ein Konzept, das sowohl nichtwestliche als auch westliche Perspektiven auf den Okzident, seien sie idealisierend oder abwertend, zu umgreifen vermag und mit allen darauf aufbauenden – notwendigen und wichtigen – Analysen von Machtverhältnissen, Gendercodierungen und (Post-) Kolonialstrukturen verbunden werden kann. In seiner Offenheit scheint dieser Ansatz brauchbarer als eine vorschnelle Eingrenzung auf orientalische Okzidentfeindlichkeit (Buruma/Margalit) oder auf westliche Superioritätskonstruktionen von ‚Abendländischkeit‘ (Dietze), die lediglich zwei mögliche Varianten von Okzidentalismus darstellen und gerade in einer Untersuchung ihrer gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisse deutlichere Konturen gewinnen könnten. Durch die frappierende Konkurrenz vollkommen konträrer Auffassungen von Okzidentalismus tritt deutlich zutage, wie problematisch die in der Nachfolge Edward Saids als selbstverständlich vorausgesetzte analytische Vermengung von Hegemonialstrukturen mit Alteritätskonzepten ist, die für jede kulturelle Identitätsstiftung notwendig sind.8

Es ist das große Verdienst des Bandes „Kritik des Okzidentalismus“, dieses Konzept auf hohem Niveau in die deutsche akademische Auseinandersetzung mit dem Orientalismus9 eingebracht und durch eine breite thematische und theoretische Auffächerung anschlussfähig gemacht zu haben. Es ist zu wünschen, dass der Band eine akademische Weiterentwicklung des Konzepts des Okzidentalismus anstößt und als kritische Stimme in den gegenwärtigen Integrationsdebatten gehört wird.

Anmerkungen:
1 <www.okzidentalismus-konferenz.de/> (09.07.2012).
2 Carolin Emcke, Liberaler Rassismus, in: DIE ZEIT, 25.02.2010 <http://www.carolin-emcke.de/de/article/91.liberaler-rassismus.html> (6.3.2012).
3 Vgl. jetzt Riem Spielhaus, Wer ist hier Muslim? Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung, Würzburg 2011.
4 Ian Buruma / Avishai Margalit, Occidentalism. The West in the Eyes of Its Enemies, New York 2004.
5 Fernando Coronil, Beyond Occidentalism. Toward Nonimperial Geohistorical Categories, in: Cultural Anthropology 11 (1996), S. 51–87.
6 Vgl. neben dem kastom-Konzept im ozeanischen Melanesien z.B. Sadik Jalal al-’Azm, Orientalism and Orientalism in Reverse, in: Khamsin 8 (1981), S. 5–26.
7 James G. Carrier (Hrsg.), Occidentalism. Images of the West, Oxford 1995; vgl. auch ders., Occidentalism. The World Turned Upside-down, in: American Ethnologist 19 (1992), S. 195–212.
8 Vgl. mit weiterführenden Begriffsklärungen: Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin 2005, S. 35–56.
9 Vgl. zuletzt Burkhard Schnepel (Hrsg.), Orient – Orientalistik – Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte, Bielefeld 2011.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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