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Titel
Auswärts eingesetzt. Bremer Polizeibataillone und der Holocaust


Autor(en)
Schneider, Karl
Erschienen
Anzahl Seiten
812 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Mix, Berlin

Manche Bücher halten mehr als ihr Titel verspricht. Karl Schneider, emeritierter Professor an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Bremen, liefert in seinem voluminösen Werk nicht nur die Geschichte der Bremer Polizeibataillone im Zweiten Weltkrieg, sondern eine Studie zur Polizei in der Hansestadt von 1918 bis über 1945 hinaus. Die Arbeit schließt damit an eine Reihe von polizeihistorischen Regionalstudien an, die in den 1990er-Jahren durch die Bücher von Christopher Browning und Daniel Goldhagen angestoßen wurden.1

Schneiders Arbeit gliedert sich in vier Kapitel. In dem ersten beschreibt er die Geschichte der Bremer Polizei von der Weimarer Republik bis zum Ende des NS-Staats (S. 27-154). Wie in anderen Ländern des Reiches auch, so bauten in der Freien Hansestadt Offiziere aus der kaiserlichen Reichswehr die neue Polizei auf. Major Walter Caspari, ein ehemaliger Angehöriger des deutschen Expeditionskorps in China, schlug mit Reichswehreinheiten und Freikorps Anfang 1919 die Bremer Räterepublik gewaltsam nieder. Der Senat beauftragte ihn daraufhin mit der Aufstellung uniformierten Polizeieinheiten, die er bis zu seiner Pensionierung im Frühjahr 1933 kommandierte.

Ausführlich beschreibt Schneider die organisatorische Entwicklung der Bremer Polizei bis 1933, ohne jedoch näher auf ihr Personal, deren Rekrutierung und Ausbildung einzugehen. Auch die Abschnitte zur NS-Zeit besitzen einen Überblickscharakter. Schneider rekapituliert die Zentralisierung und den organisatorischen Umbau der Polizei, ihre Verschmelzung mit der SS und ihren personellen Ausbau. Während den ersten auswärtigen Einsätzen der kasernierten Bremer Polizeiverbände in Österreich und dem Sudetengebiet eigene Unterkapitel eingeräumt werden, wird der Einsatz an der „Heimatfront“ in den Kriegsjahren weitgehend ausgeklammert.

Das Herzstück des Buches bilden die beiden Kapitel zu den in Bremen aufgestellten Polizeibataillonen, dem Reserve-Polizeibataillon 105 (S. 155-411) und dem Polizeibataillon 303 (S. 413-564). Um ihre Geschichte zu erzählen, kann sich Schneider nicht nur auf zeitgenössische Dokumente und Ermittlungsakten der bundesdeutschen Justiz stützen, sondern auch auf eine Reihe privater Nachlässe und Interviews. Die Nachlässe umfassen Fotoalben, Feldpostbriefe, Schmalfilme und Tagebücher.2 Leider nutzt Schneider das reichhaltige Material nicht konsequent, um neue Perspektiven auf seinen Untersuchungsgegenstand zu entwickeln. Vielmehr folgt die Darstellung jeweils der Chronologie von der Aufstellung der Einheiten über ihre Einsätze an den verschiedenen Orten Europas bis zur Strafverfolgung der Verbrechen in die Nachkriegszeit.

Das nach Kriegsbeginn 1939 aufgestellte Reserve-Polizeibataillon 105 rekrutierte sich mit Ausnahme der Offiziere aus Polizeireservisten älterer Jahrgänge, also Zwangsverpflichteten, während das Polizeibataillon 303 zu den sogenannten Ausbildungsbataillonen gehörte, die aus deutlich jüngeren Freiwilligen bestanden. In der Fülle an empirischen Informationen zu Stärkemeldungen, Unterstellungsverhältnissen, Einsatzorten und Verlusten fehlen leider genauere Angaben zur Sozialstruktur der jeweiligen Einheiten. Die Einsatzgeschichte beider Bataillone war von einer hohen Mobilität geprägt. Der erste Einsatz führte das Reserve-Polizeibataillon 105 nach Norwegen, wo es die deutsche Besatzung absichern sollte.

Eine neue Qualität gewann der Einsatz in der Sowjetunion ab Sommer 1941 im rückwärtigen Heeresgebiet der Heeresgruppe Nord. Die Männer des Reserve-Polizeibataillons 105 bewachten Kriegsgefangene, durchsuchten Wälder und Dörfer nach Partisanen und Juden. Die Angst vor Heckenschützen, durch ideologische Schulungen nochmals verschärft, war dabei so groß, dass die ersten Verluste nicht nur durch Angriffe, sondern durch friendly fire entstanden. An den Massenexekutionen von Juden im Baltikum war das Bataillon zwar nicht unmittelbar beteiligt, aber die von den Deutschen geschürten Pogrome der einheimischen Bevölkerung und die Morde der Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD blieben den Polizisten nicht verbogen. In den Briefen an seine Frau beschrieb der Kaufmann Hermann Grischen 3 nicht nur den Genozid, sondern rechtfertigte ihn auch: „Hier werden sämtliche Juden erschossen“, wusste er aus dem lettischen Cesis zu berichten. „Überall sind solche Aktionen im Gange. Gestern Nacht sind aus diesem Ort 150 Juden erschossen, Männer Frauen und Kinder, alles umgelegt. Die Juden werden gänzlich ausgerottet. Liebe H., mache Dir keine Gedanken darüber, es muss sein.“ (S. 215) Die Allgegenwart des Massenmords und die eigene Beteiligung an Verbrechen beschwiegen die ehemaligen Bataillonsangehörigen in den Interviews, die Schneider führte. Im Zentrum standen offenbar vielmehr die Erinnerungen an die schweren Kämpfe vor Leningrad im Winter 1941/42, die zu schweren Verlusten in der unzureichend ausgerüsteten Einheit führten.

Zum Handlanger des Holocaust wurde das Reserve-Polizeibataillon 105 bei seinem Einsatz in den Niederlanden ab 1942. Angehörige der Einheit bewachten die Deportationszüge mit niederländischen Juden aus dem Lager Westerbork nach Auschwitz. Da es dafür Verpflegungszulagen und Sonderurlaub gab, waren diese Einsätze bei den Männern beliebt.

Das Kriegsende erlebte das Reserve-Polizeibataillons 105 in den Niederlanden. Nach einer kurzen Phase der Gefangenschaft und Entnazifizierung kehrten die meisten der ehemaligen Polizisten in ihre Zivilberufe zurück. Viele bewarben sich jedoch auch erfolgreich für den Polizeidienst. Die Staatsanwaltschaft Bremen stellten bei ihren zwanzig Jahre nach Kriegsende aufgenommenen Ermittlungen fest, dass mehr als 70 ehemalige Bataillonsangehörige wieder bei der Polizei – zum Teil in leitender Stellung – beschäftigt waren. Eindrucksvoll beschreibt Schneider, wie schwierig die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und der Sonderkommission der Kriminalpolizei gegen Kollegen waren. Das durch die Anzeige eines ehemaligen Bataillonsangehörigen bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung der NS-Verbrechen in Ludwigsburg eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen das Reserve-Polizeibataillon 105 stellte die Staatsanwaltschaft Bremen 1968 ein. Obgleich 120 ehemalige Bataillonsangehörige zugegeben hatten, Deportationszüge mit niederländischen Juden nach Auschwitz bewacht zu haben, folgte die Staatsanwaltschaft der stereotypen Schutzbehauptung der Männer, nichts von dem weiteren Schicksal der Juden gewusst zu haben.

Sehr viel unmittelbarer mit dem Holocaust verbunden ist die Geschichte des Polizeibataillons 303. Nach dem Einsatz in Polen wurde es im Sommer 1941 mit zwei weiteren Bataillonen zum Polizeiregiment „Russland-Süd“ zusammengefasst, das unter dem Kommando des Höheren SS- und Polizeiführers Friedrich Jeckeln operierte. Die Polizeitruppen exekutieren maßgeblich den Völkermord an den Juden in der Ukraine. Bei dem Massaker in der Schlucht von Babi Jar, bei der unter Leitung des Sonderkommandos 4a der Einsatzgruppe C an zwei Tagen Ende September 1941 mehr als 33.000 Juden erschossen wurden, trieb das Polizeibataillon 303 die Opfer zur Erschießungsstätte, stellte Absperrkommandos und konfiszierte das Eigentum der Ermordeten. An zahlreichen anderen Orten führte das Bataillon auch Exekutionen aus, obwohl der Kommandeur Heinrich Hannibal anfangs Vorbehalte gegen die Mordeinsätze hegte.

Anders als bei dem Abschnitt zum Reserve-Polizeibataillon 105 stützt sich Schneider bei der Rekonstruktion der Einsatzgeschichte vom Polizeibataillon 303 weitgehend auf die Ermittlungsakten der Justiz. Insgesamt elf bundesdeutsche Staatsanwaltschaften ermittelten von 1965 bis 1979 gegen Bataillonsangehörige wegen Beteiligung an Verbrechen in der Ukraine, ohne dass es jedoch zu einer Verurteilung kam. Die von Schneider ausgewertete Aktenmenge ist beeindruckend, doch löst er sich in der Darstellung kaum von der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungslogik. Die Einsatzgeschichte gerinnt so zu einer Kette von nahezu gleich ablaufenden „Mordaktionen“. Eine stärkere analytische Durchdringung wäre ertragreicher gewesen. Zentrale Aspekte wie die Handlungslogik der Täter und ihre alltagsweltlichen Erfahrungen oder die Dimension des widerständigen Handels werden kaum diskutiert. Informativ, aber etwas unvermittelt erscheint das letzte prosopographische Kapitel mit den Kurzbiografien von 18 Bremer Polizeibeamten (S. 565-726). Nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgte, ist dabei nicht nachvollziehbar.

Schneiders Studie ergänzt die regionalhistorischen Arbeiten zur Polizei im Nationalsozialismus. Die Möglichkeiten, die ihm sein Material bieten, schöpft Schneider dabei jedoch nicht aus. In ihrer Detailfülle tragen die zentralen Abschnitte zur Geschichte der in Bremen aufgestellten Polizeibataillone vielmehr den Charakter eines Handbuchs.

Anmerkungen:
1 Christopher Browning, Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992; Daniel Goldhagen, Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, New York 1996. Eine der ersten Regionalstudien: Harald Buhlan/Werner Jung, Wessen Freund und wessen Helfer? Die Kölner Polizei im Nationalsozialismus, Köln 2000.
2 Gestützt auf einen Nachlass und weiteres Material publizierte Schneider bereits die Biografie eines Bataillonsangehörigen: Karl Schneider, Zwischen allen Stühlen. Der Bremer Kaufmann Hans Hespe im Reserve-Polizeibataillon 105, Bremen 2007.
3 Ein Teil der Briefe sind editiert: Ludwig Eiber, „… ein bißchen die Wahrheit“, Briefe eines Bremer Kaufmanns von seinem Einsatz beim Reserve-Polizeibataillon 105 in der Sowjetunion, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 6 (1991) 1, S. 58-83.

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