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Titel
Hypatia. Die spätantiken Quellen. Eingeleitet, kommentiert und interpretiert


Autor(en)
Harich-Schwarzbauer, Henriette
Reihe
Sapheneia 16
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 385 S.
Preis
€ 64,20
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Raphael Brendel, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Kommentare und wissenschaftliche Biographien bilden wertvolle Werkzeuge der Philologie und der Geschichtswissenschaft, treten jedoch nur selten in Gemeinschaft auf. Einer dieser Fälle ist die Grazer Habilitationsschrift der Klassischen Philologin Henriette Harich-Schwarzbauer aus dem Jahr 1997, die kein bestimmtes Werk, sondern die (meisten) Berichte über die Philosophin Hypatia kommentiert. Insgesamt acht Autoren werden einzeln aufbereitet (Synesios, Sokrates, Cassiodor, Damaskios, Palladas, Philostorgios, Hesychios in der Suda und Malalas), wobei sie folgendes Schema anwendet: Am Anfang stehen kurze Bemerkungen zu Autor und Werk, die sich jedoch manchmal allzu sehr in Unterkapiteln verlieren. Daraufhin werden die Texte im Original und anschließend in Übersetzung gegeben. Hier wäre es von Vorteil gewesen, nach dem Vorbild zweisprachiger Ausgaben Text und Übersetzung gegenüberzustellen. In den griechischen und lateinischen Texten Harich-Schwarzbauers gibt es nur wenige, im Kommentar dargelegte Abweichungen gegenüber den verwendeten Standardausgaben (vgl. bes. S. 268f.). Nach dem umfangreichen Kommentarteil mit einer vor allem literarischen Analyse folgen die Ergebnisse zu den einzelnen Autoren, die sich jedoch oft auf erweiterte Paraphrasen der Quellen beschränken.

Dass die Briefe des Synesios die Hauptquelle für Hypatia bilden, zeigt der ihnen gewidmete Löwenanteil des Buches (S. 21–167). Laut Harich-Schwarzbauer handelt es sich bei diesen Briefen des Schülers um eine „inszenierte Wunschbeziehung“ (S. 164), also um ein literarisches Konstrukt anstelle von tatsächlich versendeter und auf Briefe Hypatias reagierender Gebrauchsliteratur, wofür sie allerdings den endgültigen Beweis schuldig bleibt. Die Ausführungen zum Kirchenhistoriker Sokrates (S. 169–216) bedürfen einiger Korrekturen: Der Name Hypatia ist nur selten belegt, was indes nicht zwingend dessen tatsächliche Seltenheit beweist (S. 191); in ihrer postulierten Änderung des Frauenideals zwischen 415 und 439/450 (S. 201) übersieht Harich-Schwarzbauer, dass das Ideal der Asketin bereits zuvor existierte; die Schrift Julians war gegen die „Galiläer“, nicht gegen die „Christen“ gerichtet (S. 204); Sokrates’ Ortsangabe der Kaisarionskirche im Bericht über Hypatias Ermordung stellt nicht unbedingt einen Bezug zur paganen Vergangenheit her (S. 206), sondern ist dem Bemühen um Genauigkeit geschuldet.1 Harich-Schwarzbauers Argumente für eine Auseinandersetzung des Sokrates mit dem nicht als Quelle nachweisbaren Eunapios (S. 212f.) vermögen nicht zu überzeugen.

Das Kapitel zu Cassiodor (S. 217–230) ist ein Musterbeispiel für Überinterpretation. Die Prämisse, dass Cassiodor neben den drei Kirchenhistorikern weitere, ergänzende Quellen benutzt habe, ist so nicht korrekt.2 Aber selbst wenn man dies akzeptiert, sind die angenommenen Abweichungen Cassiodors von Sokrates abzulehnen: Zum einen muss ipsa nicht zwingend eine Eigeninitiative Hypatias bedeuten (S. 225), sondern kann auch synonym zu ea verwendet werden; die Folgerung, dass Hypatias Lehre „ihr also nicht von einem Dritten übertragen wurde“, ist redundant, da auch Sokrates dies nicht behauptet. Zum anderen findet sich der Zusammenhang zwischen Lehrqualität und Hörerzuwachs nicht erst bei Cassiodor (S. 226), während der Zustrom aus aller Welt kompakt mit omnes zusammengefasst, nicht aber ausgelassen wird. Dass Cassiodor von iudices spricht, heißt zudem nicht, dass er damit ein Eintreten Hypatias für Angeklagte bezeichnet (S. 227), sondern nur, dass sie mit Beamten Umgang hatte, wie auch Sokrates berichtet; Cassiodor verwendet hier einen gebräuchlichen Ausdruck der Spätantike. Sodann ist eine Verlagerung der möglichen Anstößigkeit bei Cassiodor (S. 227) nicht feststellbar, sein Bericht unterscheidet sich nicht von Sokrates 7,15,2 (nicht 7,15,3). Cassiodors Übersetzung von ostrakon als lapis ist in der Tat eine Änderung, doch handelt es sich nicht um eine Vereindeutigung (S. 228), sondern eher um einen Übersetzungsfehler durch die Wahl einer alternativen Bedeutung, die Harich-Schwarzbauer selbst anführt. Der reine Übersetzungscharakter des Berichtes Cassiodors ist somit nicht zu bestreiten, weswegen er Hypatias Werke auch nicht nennt (anders S. 229).

In den Studien zu Damaskios’ vita Isidori (S. 231–293) enthält die verhältnismäßig lange Einleitung (S. 231–246) zumeist Materialsammlungen von begrenztem Nutzwert. Auch die Ergebnisse sind nicht unproblematisch: Die genannte „biographie en miniature“ zu Hypatia (S. 286) übergeht zu problematisieren, dass diese „Biographie“ primär das Konstrukt des personenbezogenen, aus Damaskios schöpfenden Suda-Artikels ist. Bei der Behandlung des Dichters Palladas (S. 295–315) übersieht Harich-Schwarzbauer eine wichtige Diskussion in der Forschung: die Einordnung des Palladas in konstantinische Zeit durch Kevin Wilkinson3, die eine Bezugnahme auf Hypatia nur dann möglich machen würde, wenn man Palladas die Autorschaft des entsprechenden Epigramms abspräche.4

Mit Philostorgios (S. 317–322) beginnt die Reihe knapper Berichte zu Hypatia ohne wesentliche Neuinformationen. Dass dieser Hypatia als „Gegner“ betrachtete (S. 322), kann so nicht akzeptiert werden. Aber selbst wenn man dies dem Text entnehmen möchte, verbliebe die Frage nach dem Einfluss des Photios (die Passage geht auf ein Exzerpt des Patriarchen zurück).5 Wenn Harich-Schwarzbauer an anderer Stelle Philostorgios vorwirft, er könne nicht umhin, „als Christ gegen eine Frau Stellung zu beziehen“ (S. 350), verrät dies sicher mehr über die Ansichten der Autorin als über Philostorgios. Akzeptabel sind die Betrachtungen zu Hesychios (S. 323–334), auf dem der erste Teil des Suda-Artikels zu Hypatia fußt. Hervorzuheben ist der Erklärungsansatz für die (chronologisch unmögliche) Angabe einer Ehe der Hypatia mit dem Philosophen Isidoros (S. 326): Es handele es sich um einen Vergleich der beiden (Frau-Mann), ähnlich dem des Damaskios. Die bislang vertretene These eines Irrtums der Suda oder ihrer Quelle hat allerdings erheblich größere Überzeugungskraft.

Den Abschluss bildet die Kommentierung des Malalas (S. 335–340). Hier finden sich zwei gravierende Irrtümer: Dass Malalas lateinische Quellen benutzt habe (S. 336), wird allgemein abgelehnt.6 Dem Bericht des Malalas als Beleg für die Bedeutung Hypatias (S. 340) steht das Schweigen der stärker auf heidnische und ältere Traditionen zurückgehenden „Leosippe“ (Zonaras, Kedrenos, Leo Grammaticus/Symeon Magister) entgegen.7 Es wäre also zu beweisen, dass diese Nachricht des Malalas mehr als nur eines von zahllosen Informationsbruchstücken ist.

In den Schlussbetrachtungen (S. 341–353) werden die leider manchmal über Banalitäten nicht hinausgehenden Ergebnisse genannt: Jeder Autor zeichnet ein eigenes Bild der Hypatia (S. 341–344), keiner äußert sich ausschließlich rein positiv oder negativ (S. 350f.) und für Einflüsse einer Ägyptosophie fehlen jegliche Hinweise (S. 351). Dass Damaskios Synesios gelesen habe (S. 344–346), ist unbewiesene Spekulation. Auch Palladas als sicheren Gewährsmann für Hypatia (S. 348) zu nutzen, bleibt problematisch. Die von Harich-Schwarzbauer unterstellte „Tatsache, dass eingeschränkte Meinungsäusserung nie […] etwas Aussergewöhnliches war“ (S. 348), erinnert an das veraltete Bild des spätantiken Zwangsstaates.8 In diesen Kontext ist ebenfalls das angeblich kalkulierte Verschweigen nichtmathematischer Werke der Hypatia einzuordnen (S. 348–350), deren Existenz erst zu beweisen wäre. Der von Harich-Schwarzbauer angenommene „Signalcharakter“ (S. 352) christlicher Berichte über Hypatia ist nicht festzustellen. Sowohl bei den Quellen als auch bei der modernen Literatur sind Lücken festzustellen. So fehlt eine Reihe von späteren Zeugnissen, die für Hypatia relevant sind.9 Die Forschung zu Hypatia ist zwar sehr umfangreich, aber keineswegs „nahezu unüberschaubar“ (S. 3, Anm. 6)10, es wären daher einige, nicht unbedeutende Lücken in der Spezialforschung zu schließen gewesen.11

Harich-Schwarzbauer legt ein Werk mit dem wenig originellen (wenngleich durchaus nützlichen) Grundkonzept des Kommentars vor, in dem sie dann versucht, mit übertrieben originellen Einzelergebnissen ein Profil zu gewinnen. Dass diese oft weit über das Ziel hinausschießen, zeigen die Ausführungen zu Cassiodor deutlich. Von ihren Kommentaren ist der zu Synesios sicherlich am brauchbarsten, während insbesondere die zu den „kleinen“ Berichten über erklärende Bemerkungen kaum hinausgehen. Nützlich sind sicherlich die deutschen Übersetzungen der Quellen, auf die Studenten gerne zurückgreifen werden. Die Grenzen des darüber hinausgehenden Wertes der Arbeit sind allerdings schnell erreicht.

Anmerkungen:
1 Ein sinnentstellender Druckfehler fiel auf: „verbrannte“ statt „verbrannten“ (S. 190). Beiläufig sei auch auf die wenig sinnvolle „Abkürzung“ der Suda als „Sud.“ (S. 191, 193 u. 253) hingewiesen. Der S. 24, Anm. 12 und S. 376 genannte Synesiosband stammt von Joseph Vogt, nicht von Ernst Vogt.
2 Der zitierte Aufsatz von Mario Mazza (S. 218, Anm. 6) weist an der benannten Stelle nur auf die bekannte Bedeutung des Theodoros Anagnostes hin. Umgekehrt versäumt es Harich-Schwarzbauer, den ihren Thesen entgegenkommenden Aufsatz von Stéphane Ratti, Épiphane traducteur dans l’Historia Tripartita, Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 9 (2006), S. 21–35 zu konsultieren.
3 Vgl. bes. Kevin W. Wilkinson, Palladas and the age of Constantine, in: Journal of Roman Studies 99 (2009), S. 36–60. Eine aktuelle Zusammenfassung bei Timothy D. Barnes, Constantine. Dynasty, religion and power in the Later Roman Empire, Chichester 2011, S. 13–16.
4 Die Diskussion um die Autorschaft findet sich auf S. 302–304. Harich-Schwarzbauer weist selbst darauf hin (S. 305), dass eine Handschrift das Epigramm auch an anderer Stelle ohne Autorenangabe führt.
5 Dazu jetzt Antonio Baldini, Eunapio, Olimpiodoro, Filostorgio: Indizi sulle „responsibilità“ del patriarca Fozio, in: Doris Meyer (Hrsg.), Philostorge et l’historiographie de l’antiquité tardive, Stuttgart 2011, S. 41–64.
6 László Havas, Hat Johannes Malalas die Geschichte des Florus gelesen?, in: Acta classica universitatis scientiarum Debrecenensis 34/35 (1998/99), S. 19–23; Elisabeth Jeffreys, Malalas’ sources, in: Elisabeth Jeffreys / Brian Croke / Roger Scott (Hrsg.), Studies in John Malalas, Sydney 1990, S. 167–216, hier S. 171f. Auch der S. 336, Anm. 5 zitierte Aufsatz spricht sich nicht für lateinische Quellen des Malalas aus.
7 Zuletzt zu den Quellen des Zonaras: The history of Zonaras, translation by Thomas M. Banchich and Eugene N. Lane, London 2009, S. 8–11.
8 Zur Meinungsfreiheit in der Spätantike ist noch immer von Bedeutung Alexander Demandt, Zeitkritik und Geschichtsbild im Werk Ammians, Bonn 1965, S. 61–69. Daneben sei auf das Geschichtswerk des Zosimos hingewiesen, dessen Inhalt vor einer solchen Zensur kaum Bestand gehabt hätte, wie das Urteil des Photios (cod. 98) bestätigt. Harich-Schwarzbauer widerspricht sich damit zudem selbst, da sie an anderer Stelle auf den kleinen und ausgewählten Kreis der Mitphilosophen des Synesios hinweist (S. 36), was eine Codierung in den Briefen unnötig machen würde.
9 Vgl. insbesondere Theophanes Confessor a.m. 5906 (p. 82, 16–17 de Boor); Johannes von Nikiu 84, 87–103 (Übersetzung S. 100–102 Charles). Die nur in einer äthiopischen Version erhaltene Chronik des Johannes von Nikiu findet bei Harich-Schwarzbauer nur kurz Berücksichtigung (S. 267), sie liefert aber ein sich von Sokrates stark unterscheidendes Hypatia-Bild und bewahrt als einzige Quelle eine theophilosfreundliche Überlieferung und ist daher als wichtiges Zeugnis nicht zu vernachlässigen, vgl. etwa Edward Watts, The murder of Hypatia. Acceptable or unacceptable violence?, in: Harold A. Drake (Hrsg.), Violence in Late antiquity. Perceptions and practices, Aldershot 2006, S. 333–342. Zur Sokrates-Tradition wäre zu ergänzen: Theodoros Anagnostes, Epitome 311 (p. 92, 16–18 Hansen); Sokrates, hist. eccl. 141 (armenische Fassung, S. 196 Thomson); Nikephoros Kallistos Xanthopulos, hist. eccl. 14,16 (PG 146, Sp. 1105–1108). Ein exemplarischer Vergleich der verschiedenen Produkte der Sokrates-Benutzung wäre durchaus von Interesse gewesen. Vgl. auch die möglichen Zeugnisse bei Psellos, Epitaphios 1 (Sathas, Bibliotheca 5,59) und Nikephoros Gregoras 8,3,2 (p. 294, 5–7 Schopen) mit Karl Praechter, Art. „Hypatia“, in: RE IX 1 (1914), Sp. 242–249, hier 243.
10 Als Beleg sei die Anzahl der Treffer in der „Année Philologique“ bei folgenden Stichworten angeführt: Hypatia (39 Treffer), Hypatie (13), Ipazia (12), Ypatia (1).
11 Insbesondere zu beklagen ist das Fehlen von Richard Klein, Die Ermordung der Philosophin Hypatia, in: Atti dell’accademia Romanistica Costantiniana. XI convegno internazionale in onore di Felix B. J. Wubbe, Napoli 1996, S. 509–524 (Neudruck in: Richard Klein, Roma versa per aevum, Hildesheim 1999, S. 72–90); Udo Hartmann, Spätantike Philosophinnen: Frauen in den Philosophenviten von Porphyrios bis Damaskios, in: Ulf, Christoph / Rollinger, Robert (Hrsg.), Frauen und Geschlechter, Bd. 2, Köln 2006, S. 43–79. Harich-Schwarzbauer zieht aber auch zwei neuere Monographien zu Hypatia nicht heran: Elena Gajeri, Ipazia: un mito letterario, Roma 1992 (vor allem zur Rezeption); Silvia Ronchey, Ipazia. La vera storia, Milano 2010. Auch der ältere, aber einflussreiche Aufsatz Richard Hoche, Hypatia, die Tochter Theons, Philologus 15 (1860), 435–474 wird übersehen. Heute noch mit Gewinn zu lesen ist zudem Gottlob Reinhold Sievers, Studien zur Geschichte der römischen Kaiser, Berlin 1870, S. 371–418.

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