Titel
Max Kohnstamm. A European's Life and Work


Autor(en)
Harryvan, Anjo G.; van der Harst, Jan
Reihe
Publications of the European Union Liaison Committee of Historians, 13
Erschienen
Baden-Baden 2011: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
186 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Nielsen-Sikora, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Max Kohnstamm war ein niederländischer Diplomat, Historiker und Pionier der politischen Zusammenarbeit in Europa. Er entstammte einem wohlhabenden jüdisch-protestantischen Elternhaus. Sein Vater Philip Abraham kam in Bonn zur Welt, seine Mutter Johanna wuchs zunächst in Indonesien auf. Kohnstamms Eltern lernten sich im Urlaub in Domburg kennen und heirateten 1903.

Philip Abraham Kohnstamm war ein durch Humanismus und Aufklärung geprägter Mensch. Insbesondere Kants Philosophie übte großen Einfluss auf ihn aus. Als im Jahre 1908 sein Lehrer Johannes van der Waals in den Ruhestand ging, erhielt er eine außerplanmäßige Professur für Thermodynamik an der Universität Amsterdam, wo im Jahre 1914, wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, sein Sohn Max geboren wurde.

Schon früh entwickelt der Junge eine große Leidenschaft für klassische Sprachen und engagiert sich im Rahmen christlicher Aktivitäten der Studentenschaft in Amsterdam, obwohl er religiösen Fragen nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit widmet. Auch gilt er als schüchterner Zeitgenosse, dem die Natur und der Sport, vor allem das Eislaufen, besonders am Herzen liegen.

Ab 1933 studiert er in Amsterdam Geschichte, ehe er 1938 für einige Monate nach Washington geht. Ohnehin ist er zu dieser Zeit ein großer Bewunderer jener Philosophen, die sich mit der amerikanischen Revolution auseinandersetzen. Allen voran ist es der französische Denker Alexis de Tocqueville, ein führender Vertreter der Konservativen, in dessen Schriften er sich vertieft. In „De la démocratie en Amérique“ versucht Tocqueville in den 1830er-Jahren aufzuzeigen, dass die Demokratie nur durch Dezentralisation und aktive Teilnahme der Bürger sowie eine Stärkung des Christentums einer von ihm so genannten „Tyrannei der Mehrheit“ entgehen könne.

An Amerika schätzt Kohnstamm nach der Lektüre von Tocqueville in erster Linie die Betonung von Freiheit, Pragmatismus und Erfahrung. Er ist ebenso beeindruckt von der amerikanischen Haltung, alles sei möglich, wie auch von der Freundlichkeit der Amerikaner selbst, deren unkompliziertes Handeln ihm sehr imponiert. Die Reise nach Amerika wird nachhaltig sein eigenes politisches Handeln beeinflussen.

Doch zunächst muss er sein Examen bestehen, was ihm im Mai 1940 gelingt, gerade zu der Zeit, in der die deutschen Truppen in die Niederlande einfallen. Es beginnt eine Zeit der Konfusion, der Mutlosigkeit und der Wut. Sein einziger Lichtblick ist Kathleen, seine spätere Frau, die er zu Beginn des Jahres 1940 kennenlernt. Aus der Ehe gehen insgesamt fünf Kinder hervor.

Exakt zwei Jahre nach dem ersten Zusammentreffen unternehmen Max und Kathleen ausgedehnte Spaziergänge in den Dünen nahe Santpoort. Nur wenige Tage später wird Max Kohnstamm verhaftet und nach Amersfoort in ein Hungercamp deportiert. Ihm werden antideutsche Tendenzen vorgeworfen. Er verbringt dort rund drei Monate, ehe er überraschend wieder freigelassen wird.

Seine Erfahrungen der Gefangenschaft, der Krieg, das Elend und die Feindschaften innerhalb der europäischen Nationen prägen sein Denken und Handeln nach 1945. Das Hungerlager wird zum Sinnbild der Gesetzlosigkeit. Für Gesetz und Demokratie in Europa, für ein friedliches europäisches Zusammenleben will Kohnstamm sich fortan mit seiner ganzen Person einsetzen.

Die Chance hierzu erhält er 1952. Er wird als Geschäftsführer der Hohen Behörde und Beobachter der Messina-Konferenz 1955 eingesetzt. Die Europäische Integration gilt Kohnstamm in dieser Zeit als die einzig mögliche Antwort auf den Krieg. Für das europäische Projekt wird er in der Folgezeit zum unermüdlichen Gestalter hinter den Kulissen. Hierzu schreiben Harryvan und van der Haarst: „With Monnet and his other colleagues, Kohnstamm laboured behind the scenes in the service of the Action Committee for the United States of Europe, for the institutional strengthening and extension of the European construction that had been brought into being with the European Coal and Steel Community (ECSC). He did so originally as Secretary-General of the Action Committee, and later as its Vice-President, but above all as Monnet´s personal collaborator and right-hand man. Until the Committee was dissolved in 1975, Kohnstamm continued working for Monnet, albeit with varying frequencies and with outside activities.“ (S.111)

Die Niederlande gehören zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und tragen aufgrund dessen seit je eine besondere Verantwortung für das Gelingen des gemeinsamen wirtschaftlich-politischen Projekts. Kohnstamm hat sich dieser Verantwortung mit Leib und Seele gewidmet. Als Diplomat und europäischer Idealist versucht er zeitlebens die Ideen von Schuman und Monnet Wirklichkeit werden zu lassen. Im Rahmen seiner Aktivität im Aktionskomitee für Europa kommt dies besonders gut zum Ausdruck: Kooperation der europäischen Volkswirtschaften, sicherheitspolitischer Zusammenschluss und supranationale Politikgestaltung sowie intensive Lobbyarbeit für die Idee Europa bilden den Kern dieser Aktivität.

Trotz seiner schrecklichen Kriegserfahrungen plädiert Kohnstamm für die Einbindung Westdeutschlands. Diese Haltung verfolgt er seit seinen Tagen als Mitglied der niederländischen Delegation im Rahmen der EGKS-Verhandlungen. Als Berater der Euratom strebt er zudem eine engere Zusammenarbeit zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika an. Man kann sagen, Kohnstamm war nach Kriegsende ein permanenter Handlungsreisender in Sachen Europa. Diese Tatsache führt ihn letztlich nach Florenz, wo er der erste Direktor des neu gegründeten europäischen Hochschulinstituts wird und dem Institut zwischen 1974 und 1981 seine Dienste zur Verfügung stellt.

Harryvan und van der Haarst beschreiben Kohnstamm in ihrem Buch als perfektionistisch, gerade mit Blick auf seine ambitionierten politischen Ziele. Er sei stets voller Tatendrang gewesen und bemüht, die internationalen Beziehungen zu verbessern.

Beide Autoren hatten die Möglichkeit, Kohnstamm persönlich kennen zu lernen. In den Interviews, die sie mit ihm führten, wirkte er auf sie emotional mitreißend und schien jemand, der Europa wieder einen tieferen Sinn verleihen wollte: „Kohnstamm made it clear to us that it is also possible to exaggerate in down-to-earthness. Where the federalist believers could be shoved aside with a jest, that could not be done with a thinker of Kohnstamm´s sagacity. Slowly it began to dawn on us: in our keenness to interpret Europe as a product of inter-state negotiations, we had lost sight of the uniqueness of the process, and therefore also of its outcome: the creation of a supranational legal community in which violence has been abolished as a way of resolving difference among states. The idea that this outcome requires maintenance in order to keep it working also deserved attention. Kohnstamm showed us the drivenness of the federalists, but none of their sanctimoniousness or religiosity about Europe. That he spoke about Europe from his personal experience and wrote as if death is snapping at our heels (…) made a deep impression.“ (S. 162)

Harryvan und van der Haarst verbinden mit der leicht verständlichen und klar geschriebenen Biografie von Max Kohnstamm eine kurze Einführung in die Geschichte des europäischen Integrationsprozesses, die den wissenschaftlichen Apparat auf ein Minimum reduziert. Sie skizzieren einen faszinierenden Gestalter hinter den Kulissen europäischer Politik und gewähren somit einen Einblick in die Vielschichtigkeit des Integrationsprozesses seit 1945.

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