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Titel
Das gesunde Leben. Ernährung und Gesundheit seit dem 18. Jahrhundert


Autor(en)
Briesen, Detlef
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Sammer, Bielefeld Graduate School in History and Sociology, Universität Bielefeld

„Die Geschichte der Ernährung ist ein integratives Thema, das es ermöglicht, unterschiedliche Dimensionen der Sozial-, Kultur-, Geschlechter- und Umweltgeschichte miteinander zu verweben.“1 Jakob Tanner hat mit dem ersten Satz seiner Geschichte der Schweizer Fabrikmahlzeit Recht. Das zeigen die vielen bunten Erzählteppiche, die HistorikerInnen zur Geschichte der Ernährung gewoben haben.2 Die jüngst entstandenen Stoffe waren beispielsweise aus den Fäden pfadabhängiger Konsumstile3 oder der Bedeutungsüberfrachtung von Nahrungsmitteln4 gemacht. Detlef Briesen folgt nun seinem eigenen roten Faden; er fädelt die Gesundheit in seine Geschichte der Ernährung ein.

Briesens Studie handelt auf 330 Seiten von der Entwicklung des modernen, gesunden Lebensstils anhand der Ernährung und des Tabak- und Alkoholkonsums im 19. und 20. Jahrhundert. Zentral sind in seiner „neuartigen Kultur-, Konsum-, und Gesundheitsgeschichte“ (S. 11) zwei konzeptionelle Weichenstellungen. Zum einen steht der Konsum, also Verbrauch und Verbrauchsstile, explizit im Vordergrund; zum anderen arbeitet Briesen mit einer modernisierungstheoretischen Verflechtungs-, Rationalisierungs- und impliziten Verwissenschaftlichungsthese, bezogen auf zwei Länder – die USA und Deutschland. Leider begründet Briesen diese Länderauswahl nicht; und leider begründet er auch nicht, warum in seiner Studie Deutschland nach 1945 nur noch aus der Bundesrepublik besteht.

Mit einem Mix aus zeitgenössischer und aktueller Fach- und Populärliteratur (wie zum Beispiel Kochbücher), halböffentlichen Amtsschriften und quantitativen Datensätzen zum Konsum und Krankheitsgeschehen schildert Briesen seine Geschichte in 18 chronologisch gegliederten Kapiteln. Diese erzählen locker abwechselnd die Entwicklungen in Westdeutschland und den USA. So entsteht eine Darstellung, die Briesens Verflechtungsthese formal Ausdruck verleiht und sehr gut, flüssig und eingängig zu lesen ist. Hierzu tragen insbesondere die knappen Zusammenfassungen am Anfang der sechs Oberkapitel bei, in denen der Autor jeweils auf die zentralen Thesen der folgenden Unterkapitel verweist.

Nach dem kursorischen Verweis auf die Wurzeln der gesunden Ernährungsweise schildert Briesen Veränderungen der Ernährungsstile und der Lebensmittelherstellung durch die Industrialisierung. Die Massenkost des 19. Jahrhunderts brachte aber drei „gesundheitliche Revolutionen“ (S. 67) als unterschiedliche Reaktionen auf die gleichen Problemlagen hervor: die gesellschaftlich heterogenen Gesundheitsbewegungen der Alkoholtemperenz und -abstinenz in den USA, die Lebensreform in Deutschland sowie umfassende zivilgesellschaftliche und staatliche Hygienemaßnahmen, die am Ende des 19. Jahrhunderts bakteriologisch und sozialhygienisch inspiriert wurden. Briesens Bezeichnung dieser drei disparaten Phänomene als Revolutionen erscheint hier ein wenig plakativ. Denn Briesen zeigt mit ihnen, wie zur Jahrhundertwende die Sorgen um die Gesundheit zwar die Politik beider Länder tief greifend prägten. Aber dies war nach Briesens Erzählung selbst eher eingebunden in eine vorhergehende, fortlaufende und nachfolgende Entwicklung der Modernisierung. Auch scheiterten die Bewegungen. Die Prohibition überlebte sich durch den eigenen Erfolg und die Individualisierung der US-amerikanischen Gesellschaft; die Lebens- und Ernährungsreform in Deutschland geriet über die Usurpierung durch den Nationalsozialismus in ein schwieriges Legitimationsproblem, so Briesen. Trotzdem hätten diese drei „Revolutionen“ auf der einen Seite und technische wie wissenschaftliche Innovationen, die Massenproduktion und -konsum ermöglichten, auf der anderen Seite zur „modernen Ernährung“ (S. 139) geführt. Als verwissenschaftlichte Ernährungs- und Präventionslehre sei die moderne Ernährung in den USA der 1930er-Jahren durch das Zusammenspiel von wissenschaftlicher Forschung, technischen Neuerungen, staatlicher Intervention und Regulation sowie umfänglichen Werbemaßnahmen entstanden. Sie habe sich als „beinahe klassenlose Esskultur“ (S. 179) in Form von Fast Food, Konserven- und Fertigmahlzeiten auf den (Papp-)Tellern in den USA wiedergefunden. Diese Entwicklung schwappte in den 1950er- und 1960er-Jahren mit Verspätung nach Deutschland über, so Briesens modernisierungstheoretisches Kernargument. Für Briesen war es die epidemiologische und medizinische Forschung, die in breit angelegten Studien nach 1945 das Wissen um die Gesundheit der Ernährung verbesserte. Denn sie führte empirisch abgesicherte Nachweise über die Schädlichkeit von Ernährung (z. B. durch chemische Nahrungsadditive), Rauchen und Alkoholkonsum. Da diese Kritik aus dem „Zentrum der modernen Welt selbst“ (S. 230), der Wissenschaft, kam, konnte sie nicht ignoriert werden und bestimmte so die weitere Entwicklung des gesunden Ernährungsstils. Risikofaktoren und Lebensmittelskandale speisten ein neues Misstrauen gegenüber der modernen Konsumkultur, in der auf beiden Seiten des Atlantiks eintönig gegessen, viel geraucht und heftig getrunken wurde. Andererseits beförderten sie auch eine kritische Verbraucherschutzbewegung und alternative Ernährungskonzepte seit den 1960er-Jahren. Das habe seit dem Ende der 1970er-Jahre schließlich nicht nur zu einem generellen Bedeutungsgewinn von Gesundheitspolitik geführt, sondern auch einen Wechsel hin zu einer umweltbezogenen, gesundheitsförderlichen Präventionspolitik befördert. Und auch hier gingen die USA Deutschland voraus.

Briesens Studie ist beachtlich. Kleinere Wermutstropfen sind die spärliche Setzung von Referenzen im Text und die fehlende Binnendifferenzierung der verwendeten Quellen und Literatur. Wirklich problematisch erscheinen aber zwei andere Punkte. Zum einen das fast vollständige Fehlen der DDR als Raum und Zeit der Untersuchung. Dass Briesen diese andere Moderne bis auf zwei Seiten (S. 281f.) auslässt, reißt eine Lücke in der Studie auf. Denn es wäre interessant gewesen zu verfolgen, wie die von Briesen ausgemachte eng international verflochtene Entstehung dieses Lebensstils, die er als wechselseitige Transferprozesse konzipiert, sich durch politisch vorgegebene Konstellationen gestaltete und unterschiedliche Ergebnisse hervorbrachte. Einher geht hiermit zum anderen, dass Briesen die Rolle von wissenschaftlich zertifiziertem Wissen zu überschätzen scheint. So problematisiert er zu wenig, wie der Transfer von Wissen über Grenzen hinweg konkret ablief und wie differenziert wissenschaftliche Erkenntnis produziert und verwendet, übersetzt oder transformiert wurde. Durch die vielen modernen Zeiten wurden diffuse und disparate Wissensbestände um eine gesunde Lebensweise konfliktreich verschoben, verschüttet und wieder aufgegriffen, so dass Briesens Erzählung zu glatt erscheint. Das widersprüchliche und vielfältige Gesundheitswissen aus dem Kontext des Lebensreformnetzwerkes wäre ein passendes Beispiel.5 Ein anderes wäre die eigene Forschung der Tabakindustrie, mit der staatliche Regulationen in den USA lange Zeit verhindert oder in ihren Auswirkungen auf die Industrie abgedämpft werden konnten (S. 289-293); oder die Debatte um die „Managerkrankheit“ in den 1950er-Jahren, in der sich zivilisationskritische mit antiamerikanischen Gefühlslagen und epidemiologischer Forschung verband, um die zahlenmäßig ansteigenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen dem modernen American Way of Life zuzuschreiben.6 Denn die Konzepte und Stile einer gesunden Lebensführung waren nicht nur Ergebnisse eines rationalisierenden Unterfangens. Sie waren vielfältig, differenziert und eng verwoben mit gesellschaftlichen Akteuren und Macht- und Ressourcenkonstellationen.7 Und sie waren in ein Durcheinander an vielschichtigen und widersprüchlichen Wissensbeständen eingebettet, die sich überlagerten, überkreuzten oder gar miteinander verschmolzen.

Briesens Studie hätte von einem differenzierteren Bild der Wissenschaften in den untersuchten Gesellschaften profitiert. So erzählt sie eher eine Geschichte einer einheitlich gezeichneten westlichen Moderne als eine Geschichte der Gesundheit. Eine neuartige Gesundheitsgeschichte ist Briesens Buch nicht. Dennoch stellt seine Arbeit eine informative Darstellung der modernen Ernährungsgeschichte dar. Für alle, die sich für die Entstehung moderner Lebensstile interessieren, ist sie lesenswert.

Anmerkungen:
1 Jakob Tanner, Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890-1950, Zürich 1999.
2 Siehe beispielsweise: Hans-Jürgen Teuteberg / Günter Wiegelmann (Hrsg.), Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluss der Industrialisierung, Göttingen 1972
3 Uwe Spiekermann, Rationalitäten im Widerstreit. Die Bildung von Präferenzen am Beispiel des deutschen Lebensmittelmarktes im 20. Jahrhundert, in: Hartmut Berghoff / Jakob Vogel (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivwechsels, Frankfurt am Main 2004, S. 195-217.
4 Jakob Tanner, Die Ambivalenz der Nahrung. Gift und Genuss aus der Sicht der Kultur- und Naturwissenschaften, in: Hans-Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Die Revolution am Esstisch. Neue Studien zur Nahrungskultur im 19. / 20. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 175-199.
5 Florentine Fritzen, Gesünder Leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006.
6 Beispielsweise Patrick Kury, Zivilisationskrankheiten an der Schwelle zur Konsumgesellschaft. Das Beispiel der Managerkrankheit in den 1950er und 1960er Jahren, in: Petra Overath (Hrsg.), Die vergangene Zukunft Europas. Bevölkerungsforschung und -prognosen im 20. und 21. Jahrhundert, Köln 2011, S. 185-207.
7 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander. In: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderus (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik – Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32-51.