Titel
Negative Pädagogik. Sokrates und die Geschichte des Lernens


Autor(en)
Bühler, Patrick
Erschienen
Paderborn 2012: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jörg Ruhloff, Allgemeine Erziehungswissenschaft / Theorie der Bildung, Bergische Universität Wuppertal

Die Untersuchung von Patrick Bühler, ursprünglich eine Habilitationsschrift an der Universität Bern, folgt zwei Intentionen, einer historischen und einer systematischen. Obwohl beide in der Ausführung eng miteinander verschlungen sind, können sie für einen würdigenden Bericht ohne Sinnentstellung voneinander abgehoben werden. Historisch geht es um die Erforschung der „immensen pädagogisch-sokratischen Literatur“ (S. 21), insbesondere seit dem 18. Jahrhundert. Das speziell untersuchte, nicht nur ‚inhaltsanalytisch‘ überflogene deutschsprachige pädagogische und theologische Schriftkorpus umfasst „Anleitungen und Abhandlungen seit 1735“ (S. 18). Systematisch ist diese, mit welcher historischen Berechtigung auch immer auf Sokrates bezogene pädagogische und erziehungswissenschaftliche Literatur, als Korpus genommen, außerordentlich aufschlussreich. Bühler nimmt an und setzt voraus, dass die mit ihr verbundene systematische Problematik über den Begriff der Negativität erfasst werden kann, der in der Pädagogik kaum heimisch geworden ist. Während das Thema in den Nachbardisziplinen und in angrenzenden Wissenschaften, wie in Philosophie und Theologie, in Logik, Soziologie, Literaturwissenschaft, Linguistik, Psychoanalyse und Psychiatrie, mit einer längeren Forschungstradition verbunden ist, stellt „Negativität […] ‚im System der Pädagogik eine Lücke‘ dar“, wie Lutz Koch bereits 1995 festgestellt hatte (S. 11). Nach einem jahrhundertelang überwiegenden „‚Unverhältnis‘“ sind erst „in den letzten vier ‚postmodernen‘ Jahrzehnten, die insgesamt ein ‚negativer‘ ‚Verzicht‘ auf ‚Universalität‘ kennzeichne[t…] rund drei Dutzend ‚negativer‘ pädagogischer Studien entstanden“ (S. 11). Bühler hält das jedoch unter Beziehung auf Niklas Luhmann „nicht so sehr“ für „ein Manko“ als vielmehr für einen Ausdruck des Sachverhalts, „dass ‚der Begriff des Defizits‘ selbst ‚ein beobachtungsrelativer‘ ist“ (S. 12). Diese Aussage dürfte nach Meinung des Rezensenten ihrerseits wiederum nur relativ gelten. Im Augenblick sei aber dahingestellt, wie weit die systemtheoretische Reflexionsakrobatik, die als Hintergrundfolie zu Rate gezogen wird, überhaupt taugt. Für Bühlers systematische Überlegungen ist die Referenz auf Luhmann indessen von erheblichem Gewicht, wie nach der Einleitung noch einmal das abschließende sechste und vorwiegend systematische Kapitel über „Negativität und Pädagogik“ (S. 157ff.) zeigt.

Was die Erforschung der pädagogischen Sokrates-Literatur über annähernd drei Jahrhunderte erziehungstheoretisch bedeutsam macht, das lässt sich etwa folgendermaßen umschreiben: Das ‚sokratische‘ Vorgehen steht – noch unabhängig davon, ob und wie die Berufung auf Sokrates historisch zu beglaubigen ist – paradigmatisch für das Kernstück pädagogischer Praxis, seinem Range nach etwa vergleichbar der Bedeutung des Begriffs ‚Heilen‘ für die ärztliche Praxis. Der jahrhundertelang beliebte pädagogische Rekurs auf Sokrates hätte die Chance geboten, und gelegentlich wurde sie auch genutzt, das pädagogisch unterbelichtete Problem der Negativität gleichsam stellvertretend zu diskutieren; denn zumindest in der wichtigsten und umfangreichsten historischen Quelle für die mit Sokrates’ Namen verbundenen Praktiken, in den Schriften Platons, werden durchaus auch ‚negative‘ Züge des sokratischen Umgangs mit Menschen geschildert und reflektiert. Zur sokratischen Hebammen-Kunst gehört nach Platon nicht nur die Geburtshilfe, sondern auch die Prüfung dessen, was geboren wurde auf Lebenstauglichkeit einschließlich seiner eventuellen Verwerfung beziehungsweise Vernichtung.

Diese prüfende, also die elenktische Praktik des Sokrates sollte meines Erachtens aber höchstens vorbehaltlich und nur vorübergehend auch einmal unter den Terminus negativ rubriziert werden; denn ihre Spezifik ist mit dem binären Schema negativ/positiv nicht zu fassen. Auch unabhängig von der Frage, ob das mit einer historischen Beziehung auf Sokrates zu verknüpfen ist, verdeckt und verstellt die Fixierung auf den Dual von Bejahung und Verneinung wichtige pädagogische Denkmöglichkeiten. Die Einklemmung in die Zange des Positiv-Negativ-Schemas bedeutet nicht weniger als den Verlust einer ganzen logischen Dimension. Die klassische Tafel der Urteilsfunktionen führt unter den Urteilen der Qualität neben bejahenden und verneinenden auch die „unendlichen“ (wie Kant formuliert hat), besser limitativen (begrenzenden) auf. Man könnte auch von der skeptischen beziehungsweise der problematisierenden Urteilsform sprechen. Im deutschen Sprachgebrauch wird sie unter anderem durch ein Weder-Noch-Urteil ausgesagt, das zwar wie eine zweifache Verneinung klingt, seiner logischen Funktion nach aber nicht verneint, sondern eine abschließende Festlegung sowohl auf eine bejahende als auch auf eine verneinende Bestimmung ausschließt. Bühler kennt zwar – er demonstriert dies im Schlusskapitel – auch schwierige Varianten von Negativität. Er trennt jedoch nicht kategorial die logische Funktion der Negation von derjenigen der Problematisierung, eine Schwäche, mit der er allerdings in der Erziehungswissenschaft in großer Gesellschaft ist. Daraus ergeben sich Konsequenzen zumindest für eine von Bühlers zugleich historisch- und systematisch-pädagogischen Einschätzungen. Nur dann, wenn diese Differenz unbeachtet bleibt, können nämlich innerhalb der neueren sokratisch-pädagogischen Literatur der weltanschauliche Dogmatismus Leonhard Nelsons und die transzendentalkritische Skepsis Wolfgang Fischers in eine sachliche Nähe geraten (vgl. S. 154). Fischer wird überdies irrtümlich eine Berufung auf Sokrates im Sinne einer Autorität zugeschrieben, obwohl er, wie es Bühler auch herausstellt, eine Ausnahmestellung einnimmt, insofern er unter den neueren pädagogischen Sokratikern der einzige ist, der sich historisch-philologisch gründlich belehren ließ. Umso verwunderlicher, wenn Bühler ihm dann wiederum mit einiger Inkonsequenz zuschreibt, auch er übergehe die „Tücken der sokratischen Quellenlage“ (ebd.), die Fischer doch vielmehr radikal ernst genommen hat, wie ihm zuvor auch Bühler attestiert hatte.

Der Rezensent hält mithin die Durchführung der systematischen Intention Bühlers nicht für durchwegs gelungen. Der Grund dafür ist keinesfalls in einem zu niedrigen theoretischen Diskussionsniveau zu vermuten. Das Argumentationsniveau ist eher als sehr hoch einzustufen. Der Grund für systematisch-pädagogische Fehlgriffe ist meines Erachtens darin zu suchen, dass die Anlehnung an die systemtheoretischen Argumentationsfiguren Niklas Luhmanns und an diejenigen von dessen erziehungswissenschaftlichen Epigonen dazu geeignet ist, die erziehungs- und bildungsphilosophische ebenso wie die pädagogisch-praktische Aufgabenstellung zu verfehlen.

Demgegenüber ist die Ausführung der historisch-pädagogischen Intention als ganz hervorragend gelungen einzuschätzen. Patrick Bühler legt für den gewählten Zeitraum von annähernd 300 Jahren und für das dabei berücksichtigte umfangreiche Literaturcorpus eine beispielgebende Studie vor, die in keiner anspruchsvollen erziehungswissenschaftlichen Bibliothek fehlen sollte. Sie dürfte für ihr pädagogisch weit ausstrahlendes Untersuchungsthema auf lange Zeit maßgeblich bleiben. Einen groben Anhaltspunkt für den Umfang der nach dem Eindruck der Lektüre tatsächlich analysierten und nicht bloß aufgelisteten Literatur gibt das Literaturverzeichnis, das allein 44 Seiten umfasst. Daraus sollte nicht auf einen schwer zu lesenden und mit Anmerkungen und Nachweisen überhäuften Text geschlossen werden. Die Einleitung und die sechs Kapitel des Buches sind in einem erfrischend schnörkellosen, stellenweise sympathisch frechen wissenschaftlichen Stil geschrieben. Patrick Bühlers Studie ist flüssig und immer mit Erkenntnisgewinn zu lesen, auch in den Passagen, die vielleicht Widerspruch hervorrufen. Wäre es anders, so wäre ja auch die These von der herausragenden Bedeutung der (allein fruchtbaren) Negativität des Lernens ein Windei. Das ist jedoch nicht der Fall. Für den historischen Teil wäre allenfalls eine ausführlichere Diskussion der antiken Quellen zu Sokrates wünschenswert gewesen, um dem jetzt zuweilen möglichen Eindruck vorzubeugen, dass Platon und Aristophanes und Xenophon unter quellenkritischen Gesichtspunkten als ranggleich einzustufen wären. Der engere Gegenstand der Untersuchung ist aber nicht die pädagogische Rezeption der Sokrates-Überlieferung insgesamt, sondern diejenige seit der Aufklärungsepoche, die sich im 18 Jahrhundert zuweilen selber als das „sokratische Jahrhundert“ gedeutet hat. Damals war bei der Beziehung auf die sokratische Praktik auch deren destruktive, angemaßtes Wissen zerstörende Seite in größerem Umfang präsent. Diese nach Platons Zeugnis angemessenere Sokrates-Deutung wurde jedoch schon früh und bis heute überwiegend erfolgreich von der pädagogischen Lieblingsvorstellung der Hilfe zu glücklichen und gewissermaßen vollkommen schmerzfreien Seelen- und Geistesgeburten (vgl. Kap. 2, bes. S. 37ff.) überlagert, deren Höhenpunkt in der Gegenwart mit der Lancierung einer ganzen Generation von Plagiatoren durch standardisierte Erziehungspraktiken erreicht zu werden scheint. Zu ‚Bildung‘ als erfolgreichem ‚Verhalten in der Welt‘, wie es von einem der erziehungswissenschaftlichen Wortführer in der Gegenwart, nicht hingegen von Patrick Bühler, propagiert wird, reicht Plagiatorik ja auch aus. Für den entsprechenden Typus von Erziehung haben aber weder Sokrates noch alle diejenigen gelebt, die sich von dessen Bewusstsein des Nichtwissens und seinem Mut zur Aufklärung beunruhigen ließen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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