Cover
Titel
With Our Backs to the Wall. Victory and Defeat in 1918


Autor(en)
Stevenson, David
Erschienen
London 2011: Allen Lane
Anzahl Seiten
688 S.
Preis
€ 37,99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Wolfgang Kruse, Historisches Institut, FernUniversität in Hagen

Wer das neue Buch von David Stevenson nur oberflächlich betrachtet, kann angesichts der martialischen Aufmachung leicht in Versuchung geraten, es als nationalistische Kriegsgeschichtsschreibung beiseite zu schieben. „With Our Backs to the Wall“, ein solcher nationalistisch-kämpferischer Titel legt entsprechende Reaktionen ebenso nahe wie die Überschriften der ersten beiden Hauptkapitel, die in scheinbar eingegrenzter britisch-alliierter Kriegsperspektive „On the Defensive“ und „On the Attack“ heißen. Doch sollte man sich davon nicht abschrecken lassen. Denn wer sich genauer auf das Buch einlässt, wird mit einer der interessantesten neueren Lektüren zur Geschichte des Ersten Weltkrieges belohnt.

Gegenstand des Buches ist das Kriegsjahr 1918. Und es ist der besondere Clou von Stevensons Ansatz, dass er die Behandlung des letzten Kriegsjahres mit einer Perspektive verbindet, die die Offenheit des Kriegsausgangs in den Mittelpunkt rückt. Nicht, wie so oft, das Scheitern des Schlieffenplans im Spätsommer 1914, und nicht einmal der Kriegseintritt der USA im Frühjahr 1917 werden hier als entscheidend für Sieg und Niederlage angesehen. Noch zum Jahreswechsel 1917/18 erscheint der Kriegsausgang vielmehr immer noch offen. Und Stevenson hat nicht zuletzt die zeitgenössischen Entscheidungsträger auf seiner Seite, wenn er betont: „At the end of 1917 the endgame to an extent remained open, and German as well as Allied decisions determined its course.“ (S. XVIII)

Doch bevor wir uns dem Entscheidungsjahr des Ersten Weltkrieges im Lichte von Stevensons Perspektive genauer zuwenden, soll hier vorausgeschickt werden: Der einführende Prolog mit dem Titel „Deadlock, 1914-1917“ (S. 1-29) stellt nicht nur eine gelungene Hinführung zum Gegenstand dar. Vielmehr handelt es sich zugleich um eine der besten knappen Einführungen in die Geschichte des Ersten Weltkrieges, die ich kenne. Alle wesentlichen Entwicklungslinien von Militär, Politik und Gesellschaft werden hier im europäischen Zusammenhang und Vergleich zusammenfassend, klar und präzise skizziert. Damit ist zugleich die Grundlage für eine Analyse des Kriegsjahres 1918 gelegt, die keineswegs allein die Kriegsführung behandelt, sondern alle Bereiche von Front und „Heimatfront“ einbezieht, die für den Kriegsausgang von Bedeutung waren.

Am Anfang stehen dabei die im engeren Sinne militärischen Entwicklungen. Es geht vor allem um die Offensiven des deutschen Heeres im Frühjahr und Sommer 1918, mit denen die Oberste Heeresleitung nach dem Sieg im Osten nun auch im Westen den angestrebten Siegfrieden erzwingen wollte. Stevenson zeigt hier vor allem zweierlei: Zum einen brachten die aufeinander folgenden, von weiteren Angriffen an der Piave und auf der Krim begleiteten fünf massiven Offensiven in Nordfrankreich und Belgien zwischen dem 21. März und dem 17. Juli keineswegs nur unbedeutende, bald wieder verlorene deutsche Geländegewinne, sondern der Kriegsausgang stand für die Zeitgenossen tatsächlich auf des Messers Schneide. Zum anderen aber bedeuteten die letztlich scheiternden, ohne die Möglichkeit einer Konsolidierung geplanten, die Notwendigkeit immer neuer Angriffe erzwingenden Offensiven doch den Anfang vom Ende, während eine defensive deutsche Taktik im Westen nach Stevensons Auffassung den Kriegsausgang noch lange hätte offen halten können. General Ludendorff erweist sich hier keineswegs als der geniale Feldherr, als der er so oft dargestellt wird, im Gegenteil: „The German Army, for all its virtuosity, was let down by a failure of generalship.“ (S. 78)

Der im Sommer 1918 unter dem permanenter Druck alliierter Angriffe erfolgende Zusammenbruch des deutschen Heeres erweist sich hier jedenfalls als eine Konsequenz der Verausgabung von Mannschaften, Moral und Material, die durch die vorangegangenen deutschen Offensiven ausgelöst wurden. Zugleich betont Stevenson aber auch, dass die Alliierten militärtaktisch wie militärtechnisch 1918 innovativer waren als die Mittelmächte. In seinem dritten Hauptkapitel analysiert er die militärischen Lernprozesse, die mit ihrer „all-arms co-ordination“ und ihrer „combination of specialized units of many kind“ (S. 173) die Zukunft der Kriegsführung vorwegnahmen. Es geht dabei insbesondere um Aufklärung und Lufthoheit, um Gas, Artillerie und Panzer, schließlich um Transportwege, Eisenbahnen und die Logistik des Schlachtfeldes – Felder, auf denen sich die Alliierten insgesamt lernfähiger erwiesen als ihre Gegner, auch wenn das nun immer stärkere amerikanische Engagement entscheidend zu ihrer Überlegenheit beitrug. „The Allies won the technological race (…), and overtook their enemies not only in numbers but also in fighting power. In the process they pioneered the characteristic forms of later twentieth-century warfare…” (S. 243)

Die folgenden vier Kapitel behandeln wesentliche Faktoren, die diese Überlegenheit ermöglicht haben: Den “human factor” der Entwicklung nicht nur der numerischen Stärke, sondern auch der Versorgung und der psychischen Moral der Truppen; ferner die Sicherung der maritimen Dominanz, die Organisation der Kriegswirtschaft und schließlich den nationalen Zusammenhalt an der „Heimatfront”. Alle diese Themenbereiche werden von Stevenson in ihrer Entwicklung seit Kriegsbeginn betrachtet und auf das Jahr 1918 hin konzentriert. Und in allen Bereichen arbeitet er eine wachsende Überlegenheit auf alliierter Seite heraus, wobei nicht zuletzt dem parlamentarischen politischen System und seinen führenden Politikern eine wesentliche Bedeutung zugesprochen wird. Zusammenbruch und Revolutionierung der Mittelmächte erscheinen so nicht einfach als eine Kriegsfolge, sondern als Folge systembedingter politischer Schwächen und Fehlentscheidungen.

Ein kritischer Einwand muss hier allerdings vorgebracht werden. Denn Stevensons Analyse von Wirtschaft und Gesellschaft der kriegführenden Staaten konterkariert doch zunehmen die Offenheit der strategischen Lage, von deren Annahme seine Untersuchung ausgegangen ist. Auch wenn die deutschen Truppen mit einer defensiven Kriegstaktik die Niederlage hätten herauszögern können, sprechen die allgemeinen Entwicklungslinien immer deutlicher dafür, dass sie auf Dauer doch unterlegen wären. Und wenn, umgekehrt, die militärischen Offensiven der Mittelmächte noch größere Erfolge gebracht hätten: Wäre damit wirklich die Möglichkeit vorhanden gewesen, die gewonnen Positionen dauerhaft zu halten und einen Siegfriedensschluss zu erzwingen? Zweifellos ist das eine hypothetische Frage. Doch da Stevensons Argumentation letztlich von dieser Möglichkeit getragen wird, hätte sie konsequenterweise gründlicher reflektiert werden sollen.

Das trotz dieses Einwandes insgesamt ebenso anregende wie stoffgefütterte, durch anschauliche Karten, Tabellen und Fotographien ergänzte Buch schließt mit einer eingehenden Behandlung der Entstehungszusammenhänge des Waffenstillstandes vom November 1918 und der vorhergehenden Aufgabe der deutschen Verbündeten. Ein wichtiger Bezugspunkt ist hier die vor allem von einigen amerikanischen Politikern vertretene Forderung nach „unconditional surrender“ mit anschließender Besetzung und Beherrschung des deutschen Reichsgebiets, die jedoch von keiner der verantwortlichen alliierten Führungspersönlichkeiten übernommen wurde. Nicht darin sieht Stevenson zurecht das längerfristige Versagen der alliierten Politik bei der Einhegung Deutschlands: „ … the armistice terms were adequate for their purpose, and the decision to settle for them was defensible. The real mistakes came later.“ (S. 544) Worin immer sie gelegen haben, der „totale Krieg“ wurde hier jedenfalls noch nicht bis zum Exzess getrieben, nicht auf alliierter und auch nicht auf deutscher Seite, wo durchaus bereits Pläne für einen Endkampf ventiliert wurden. Trotzdem lässt Stevensons Studie nicht zuletzt in aller Klarheit deutlich werden, wie fragwürdig die in der letzten Zeit unternommenen Versuche sind, das Konzept des Totalen Krieges aus den Zusammenhängen der industrialisierten Weltkriege des 20. Jahrhunderts herauszulösen und zu historisieren. Denn selten ist so eindringlich gezeigt worden, wie 1918 alle gesellschaftlichen Bereiche in umfassender Weise vom Krieg erfasst und zu Faktoren der Kriegsführung wurden.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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