M. Pfleiderer (Hrsg.): Populäre Musik und kulturelles Gedächtnis

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Titel
Populäre Musik und kulturelles Gedächtnis. Geschichtsschreibung – Archiv – Internet


Herausgeber
Pfleiderer, Martin
Reihe
Schriftenreihe der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ 7
Erschienen
Köln 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
173 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Brigitte Simon, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Populäre Musik spiegelt nicht nur die Zeit ihrer Entstehung, sondern ist auch ein aktiver, prägender Teil derselben. Von der Wissenschaft – auch, aber nicht nur der Geschichtswissenschaft – blieb sie trotzdem lange unbeachtet, obwohl sich anhand populärer Musik viele Phänomene untersuchen lassen bzw. sie selbst genügend Stoff zur Forschung bietet.1 Der von Martin Pfleiderer herausgegebene Sammelband „Populäre Musik und kulturelles Gedächtnis“ beschäftigt sich im Wesentlichen mit Grundlagen, die die Forschung mit und über populäre Musik erst möglich machen. Das Buch enthält die überarbeiteten und ergänzten Vorträge der Tagung „Populäre Musik als kulturelles Gedächtnis?“, die im September 2010 von der Lippmann+Rau-Stiftung Eisenach und der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar gemeinsam veranstaltet wurde.2 Die inhaltlich, stilistisch und qualitativ eher heterogenen Aufsätze wurden durchweg von Personen geschrieben, die über eigene praktische Erfahrungen in der Erforschung, Archivierung bzw. Veröffentlichung populärer Musik verfügen.

Wie Pfleiderer in seinem Artikel über „Tendenzen, Fragestellungen und Methoden der Geschichtsschreibung populärer Musik“ festhält (S. 25), ist die Zahl der Publikationen zu populärer Musik in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark gewachsen. Allerdings handelt es sich meist um journalistische bzw. populärwissenschaftliche Arbeiten. Dies ist durchaus nachvollziehbar, da die Themen häufig ein breites Publikum ansprechen und nicht nur einen kleinen Kreis von Akademikern. Aber auch wissenschaftliche Artikel und Bücher zu populärer Musik leiden oft unter demselben Hauptproblem: Subjektivität. Pfleiderer zitiert in der Einführung treffend den Musiksoziologen und Rockkritiker Simon Firth (S. 9f.), der das Phänomen anspricht, dass sich Fans mit „ihrer Musik“ identifizieren und sich angegriffen fühlen, wenn man zum Beispiel etwas Negatives über ihren Lieblingssänger schreibt. Auch in manchen Aufsätzen des vorliegenden Sammelbandes schimmern ab und zu persönliche Vorlieben durch (soweit nichts Verwerfliches, wenn man sich mit dem Thema dennoch sachlich auseinandersetzt) bzw. eine Abwertung „kommerzieller“ Musik (im Beitrag von Johannes Theurer, S. 128).

Pfleiderer nennt mit Jazz und Weltmusik ausgerechnet zwei Musikrichtungen explizit, die im Ruf stehen, intellektuelle bzw. links-alternative Fans anzusprechen, um zu demonstrieren, dass die „gebildeten Eliten“ nicht nur mehr in klassische Konzerte gehen, sondern einen breiten Musikgeschmack besitzen würden (S. 29). Dieser Zugang erscheint etwas diskussionsbedürftig; gleichwohl enthält Pfleiderers eröffnender Aufsatz eine kompakte Standortbestimmung sowie gute Anregungen und Fragen für die zukünftige Forschung.

Auch die folgenden Beiträge kreisen um die Frage, wie mit populärer Musik wissenschaftlich umzugehen sei und welche Quellen sich dafür anbieten. Wolfgang Ernsts Aufsatz „Sonisches Gedächtnis als Funktion technischer Speicher“ verlangt vom Leser gewisse Vorkenntnisse – etliche Fachbegriffe werden nicht erklärt. Der Autor skizziert hierin unter anderem die neuen Aspekte, welche sich durch die technische Aufzeichnung von Musik ergeben, und sieht Parallelen zwischen oraler Dichtung und bestimmten Formen populärer Musik.

Tiago de Oliveira Pinto demonstriert in „Der urbane Samba um 1900. Musikgeschichte und immaterielles Kulturerbe“ eindrucksvoll, wie wichtig es ist, verschiedenste Quellen und Formen der Quellenanalyse heranzuziehen. Er nennt sechs Quellentypen, die für die Erforschung des Sambas in Rio de Janeiro nützlich sein können (S. 52), und belegt jeden Typus mit einem Beispiel. So entsteht ein kurzer Leitfaden, der sicher auch für die Erforschung anderer Formen populärer Musik anwendbar ist.

Nico Thoms Aufsatz über „Aktuelle Prozesse der Kanonbildung in multimedialen Magazinen populärer Musik“ bietet kritischen Lesern bzw. Kennern von Musikmagazinen dagegen kaum Neues. Seine Annahme, dass speziell musikalische Pionierleistungen und Neuerungen von langfristigem Interesse seien (S. 79), kann man diskutieren. Insgesamt präsentiert er aber einen klar strukturierten Überblick zu den wichtigsten Typen von Musikmagazinen und deren Bedeutung für die Kanonbildung. Hier mag allerdings die Frage aufkommen, inwieweit der im Titel des Bandes gewählte Begriff „kulturelles Gedächtnis“ adäquat ist – denn das Thema fällt (noch) nicht in den Zeitraum, der für Jan Assmanns „kulturelles Gedächtnis“ charakteristisch ist (jenseits der 80 bis 100 Jahre des „kommunikativen Gedächtnisses“).3 Im Aufsatz „Populäre Musik als kulturelles Gedächtnis und als Archiv: Zu den Chancen eines Paradoxons“ geht Nils Grosch deshalb der Frage nach, inwieweit sich kulturelles Gedächtnis und populäre Musik überhaupt vereinbaren lassen.

Die nächsten beiden Artikel widmen sich Archiven als Dokumentations- und Informationszentren. Wolfram Knauer und Doris Schröder berichten hier von den Aktivitäten des Jazzinstituts Darmstadt. Auch wenn der Text etwas zu sehr von Klagen über mangelnde Ressourcen durchzogen ist, bietet er einen interessanten Einblick in die vielfältigen Tätigkeiten und die Entscheidungen über Prioritäten der Arbeit. Ulrich Duve erläutert in dem Aufsatz „Die Datenbank des Klaus-Kuhnke-Archivs – mehr als nur ein Bestandskatalog“ die Katalogisierung von Tonträgersammlungen und das Erstellen von Diskografien.

Drei weitere Artikel diskutieren das Internet als Gefahr oder Chance für Musikarchive. Peter Schulze beschäftigt sich hauptsächlich mit den Problemen für Archive, die viel Zeit und Geld in Digitalisierung und Metadaten-Generierung investieren müssen. Er appelliert einerseits an die Archive, sich den neuen Möglichkeiten des Internet zu öffnen, betont andererseits aber auch die Notwendigkeit der Erhaltung physischer Archive. Johannes Theurer rührt in „Populäre Gedächtniskultur und verschmähte Schönheit. Musikarchive migrieren online über Dismarc ins Europeana-Portal“ kräftig die Werbetrommel für das Dismarc-Portal (Discovering Music Archives4) und das Projekt EuropeanaConnect.5 Mit angeblich geringem Aufwand können Archive ihre Katalogangaben in einen gemeinsamen Bestand zusammenführen, so dass man schneller ermitteln könne, was in welchen Archiven zu finden ist. In „Musikbezogene Metadaten im Kontext der globalen Vernetzung von Musikarchiven“ erklärt Holger Großmann auch für Laien verständlich, was Metadaten sind und wozu sie dienen. Zudem blickt er voraus auf das semantische Web (automatisierte inhaltliche Verknüpfung von Daten).

Etwas aus der Reihe fällt Siegfried Schmidt-Joos’ Artikel „Musik – eine Zeitmaschine. Gedanken beim Schreiben des Rock-Lexikons“. Sein Beitrag liest sich streckenweise wie ein Auszug aus diesem enorm erfolgreichen Lexikon, das seit 1973 immer wieder neu aufgelegt und überarbeitet wurde. Als letzter Vortrag der Eisenacher Tagung dürfte dies einen angenehmen Abschluss gebildet haben, aber hier vermisst man den wissenschaftlichen Anspruch. Dass das Rock-Lexikon bei Weitem nicht so objektiv geschrieben ist, wie Schmidt-Joos es selbst meint (S. 158f.), dürfte wohl jedem aufgefallen sein, der je ein Exemplar zur Hand genommen hat – wobei der Wert als unterhaltsame Lektüre und anregende Fundgrube unbestritten ist.

Insgesamt können sowohl Forscher als auch Archivare populärer Musik im vorliegenden Band einige interessante Denkanstöße finden. Die Autorinnen und Autoren plädieren dafür, den Fokus der Forschung zu erweitern, also vernachlässigte Perspektiven sowie unterschiedlichste Quellen und Methoden heranzuziehen. Es werden praktische Einblicke in die Arbeit von Archiven geboten und die Potenziale des Internet zur Diskussion gestellt. Eine Fortsetzung und Vertiefung solcher Debatten ist sehr zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa den Bericht von Alexa Geisthövel und Bodo Mrozek zur Tagung „PopHistory. Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären“. 03.11.2011-05.11.2011, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 31.01.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4034> (06.05.2012).
2 Siehe auch das ausführliche Programmheft unter <http://www.lr-musikarchiv.de/Programmheft_Populaere_Musik_als_kulturelles_Gedaechtnis.pdf> (06.05.2012).
3 Im besprochenen Buch wird mehrfach auf Assmanns Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ verwiesen (im Sinne einer Konservierung von vor mehreren Generationen entstandenen Dokumenten, die nicht mehr vom kommunikativen Gedächtnis getragen werden). Vgl. Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders. / Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9-19.
4 <http://www.dismarc.org/info/> (10.05.2012).
5 <http://www.europeanaconnect.eu/> (10.05.2012).

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