S. Krammer u.a. (Hrsg.): Staat in Unordnung?

Titel
Staat in Unordnung?. Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen


Herausgeber
Krammer, Stefan; Löffler, Marion; Weidinger, Martin
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 28,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johanna Gehmacher, Institut für Zeitgeschichte Wien

Historische Konzepte und Wahrnehmungen von Staatlichkeit werden üblicherweise anhand von politischen Theorien und Formen politischer Praxis untersucht. Sie sind freilich immer auch in den Texten und Bildern zeitgenössischer kultureller Produktionen gegenwärtig. Dort werden ihre Logiken und Brüche nicht nur entworfen und ausgeübt, sondern auch in ästhetischer Verfremdung oder propagandistischer Überzeichnung kritisch gespiegelt und verarbeitet. Film, Literatur und Theater sind daher wichtige Quellen für die Analyse und theoretische Reflexion von Konzepten der Staatlichkeit und den ihnen innewohnenden Geschlechterperspektiven. Diese These liegt den Beiträgen des Sammelbandes zugrunde; Texte etwa zu weiblicher Führerschaft in Fritz Langs Film Metropolis (Eva Horn), zu Männerbundfantasien bei Stefan George, Thomas Mann und Max Weber (Eva Kreisky) oder zu Inszenierungen des Volkgemeinschaftlichen im Chor des nationalsozialistischen Theaters (Evelyn Annuß) belegen die Sinnhaftigkeit einer solchen Zugangsweise. Dies ist besonders hervorzuheben, denn sowohl der Titel des Bandes als auch die Einleitung verbergen den kulturhistorischen Fokus der nach dem Verhältnis von Staatlichkeit und Geschlechtlichkeit fragenden Texte eher als diese zentrale Qualität zu explizieren. Wer sich in dem Band einen politik- und/oder sozialhistorischen Überblick zu Geschlechterverhältnissen in der Zwischenkriegszeit erhofft, wird ebenso enttäuscht sein, wie jene, die einen Einblick in den aktuellen Forschungsstand der inzwischen sowohl für Deutschland als auch für Österreich relativ breiten frauen- und geschlechtergeschichtlichen Forschung zu diesem Zeitraum gewinnen wollen. Lässt man sich hingegen auf die Frage nach Denkfiguren in unterschiedlichen Textformen ein, so eröffnen die hier versammelten Texte innovative Perspektiven und differenzierte Einsichten.

Die Konsistenz des Bandes verdankt sich wohl nicht zuletzt seiner Entstehung im Kontext eines interdisziplinären Forschungsprojekts zu „Tropen des Staates“, das Darstellungen des politischen Gemeinwesens sowohl in der Staatstheorie als auch in Literatur und Film nachgeht. Immer wieder wird ein gemeinsamer methodisch-theoretischer Horizont erkennbar – so etwa durch den Bezug auf Pierre Bourdieus Sicht auf den Staat als eine Instanz, die Geschlecht als ein Klassifizierungsprinzip durchsetzt und erhält, oder auf Bettina Heintz‘ Konzeption von Geschlecht als „(Un-)Ordnungsprinzip“. Das Verfahren einer Reihe der Texte, die im begrenzten Rahmen einer Rezension nicht alle gewürdigt werden können, sei stellvertretend an Marion Löfflers Text über „Familiennarrative als Erschütterungen konservativer Staatskonzeption“ vorgeführt. Sie zeigt, wie für Staatstheoretiker wie Othmar Spann oder Erich Voegelin die gegen die Zersplitterung der Moderne anzustrebende „Ganzheit“ ihren Halt in einem idealisierten Bild der Familie findet. Dies gelinge, so argumentiert Löffler überzeugend, gerade deshalb, weil Familie dabei unbeschrieben bleibe, als „Black Box“ der Projektionen, gar als „Wundertüte“ zur Erzeugung gesellschaftlicher Problemlösungen fungiere (S. 96). Diesem Befund setzt die Autorin Erzählungen von Familie in der zeitgenössischen Literatur entgegen und nützt dazu die detailreichen Schilderungen von nicht der Norm entsprechenden, unvollständigen oder zerbrechenden Familien etwa bei Veza Canetti, bei Robert Musil oder Joseph Roth, in denen die Erschütterungen greifbar werden, die Geschlechterordnungen, traditionelle Hierarchien und ökonomische Verhältnisse durcheinander gebracht haben. Sie macht damit deutlich, dass jenes staatstheoretische Denken, das in Österreich maßgeblich den autoritären „Ständestaat“ der 1930er-Jahre legitimieren sollte, instabil wird, sobald die Auslassung konkreter Familienvorstellungen mit zeitgenössischen literarischen Narrativen konfrontiert wird.

Die interdisziplinäre Verbindung politikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Ansätze erweist sich in Thesenbildungen wie sie Marion Löffler und anderen Autoren und Autorinnen dieses Bandes gelingen, als außerordentlich produktiv. Aus Sicht der Historikerin bleibt allerdings ein Unbehagen, das anhand eines weiteren, im Übrigen höchst spannenden Beitrages verdeutlicht werden kann. Evelyne Polt-Heinzl stellt der auf Sigmund Freud zurückgehenden These vom Vatermord als Ursprung kulturellen Handelns literarische Darstellungen des Vater-Tochter-Verhältnisses gegenüber und argumentiert, dass es vielfach die Versorgungsleistungen der Töchter waren, die familiäre und gesellschaftliche Strukturen in der Krisensituation der Nachkriegszeit aufrecht erhielten. Die Belege, die sie dafür unter anderem in literarischen Werken Ödön von Horváths und Max Brods findet, charakterisiert sie als „soziologische Miniaturen“ (S. 76) und lässt damit in problematischer Weise soziale und historische Verhältnisse mit ihrer literarischen Verarbeitung verschwimmen. Und so wird die Komplexität des Sozialen (mit Ausnahme der stärker historisch argumentierenden Beiträge zu Parlamentarismus und Staatsbürgerinnenschaft in der Weimarer Republik (Gisela Riescher, Silke Helling) sowie über die Entwicklung transnationaler Räume im Kontext der internationalen Organisierung der deutschen Frauenbewegung (Ulla Wischermann)) in vielen Beiträgen dieses Bandes im Brennglas literarischer oder filmischer Darstellungen eingefangen. Was dabei weitgehend fehlt, ist eine Reflexion über die angewendeten ästhetischen Verfahren wie auch der historischen Entstehungskontexte spezifischer Texte zu Staat und Geschlecht. Hilfreich hätte hier eine Konzeption der Kategorie Geschlecht sein können, die begrifflich die kulturell hergestellte Wahrnehmung von Geschlechterdifferenz, Prozesse der Normierung von Geschlechterverhältnissen sowie schließlich die Repräsentation von sozialen Ordnungen durch Geschlechterbilder unterscheidet und zueinander ins Verhältnis setzt. Differenzierte Perspektiven auf die Vielfalt der historischen Verhältnisse, auf Institutionen, politische Prozesse und ökonomische Strukturen bleiben im großen Sprung zwischen Staatstheorie und kulturellen Manifestationen vielfach ausgeblendet. Dies erscheint zwar im Sinne der gewählten Zugangsweise argumentierbar und daher legitim, aber die Auslassung hätte doch weitaus deutlicher benannt werden müssen. Dies wäre im Übrigen unschwer zu erreichen gewesen, wenn vorliegende frauen- und geschlechterhistorische Forschungen, die gerade für den hier verhandelten Zeitraum sehr spezifische Fragestellungen entwickelt haben, stärker in den Reflexionsrahmen einbezogen worden wären. Hier ist etwa auf Arbeiten zu Paradoxien von Gleichheit und Differenz in der politischen Partizipation 1, zur Analyse der konflikthaften Reorganisation der Geschlechterbeziehungen nach dem Krieg 2 und nicht zuletzt auf mögliche Zusammenhänge zwischen den sowohl auf den Staat als auch auf die Geschlechterverhältnisse referierenden Krisendiskursen und dem Erstarken autoritärer und faschistischer Bewegungen zu verweisen.3 Die Frage nach den Bedingungen und Folgen historischen Wandels, die Ulla Wischermann in ihrem lesenswerten Beitrag zu Recht einklagt (S. 193), hätte dann mehr Relevanz in diesem sonst so verdienstvollen Band erhalten können.

Mit Bedauern sei an dieser Stelle auch auf die lobenswerte, aber nicht konsequent weiter verfolgte Durchbrechung der nationalgeschichtlichen Perspektive verwiesen: „Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich“ verspricht der Buchtitel und dies wird durch Beiträge zu beiden Ländern auch realisiert. Die Analysen bleiben freilich unverbunden nebeneinander stehen – weder wird die gemeinsame Behandlung begründet noch das komplizierte historische Verhältnis der beiden Staaten gerade in der Zeit zwischen den Weltkriegen thematisiert, auch Versuche zum Vergleich bleiben aus. Dieser wäre an manchen Stellen leicht zu haben gewesen, etwa wenn Gisela Riescher in ihrem Text über politisches Vertrauen die Fraktionen übergreifende Zusammenarbeit deutscher Parlamentarierinnen diskutiert – ähnliche Kooperationen (wie auch ihre Grenzen und Widersprüche) wurden in Forschungen zu Frauen im österreichischen Parlament der Ersten Republik ausführlich analysiert. 4 Manche Autoren und Autorinnen blenden überdies aus, dass es zu ihrem Gegenstand bereits eine lange Forschungsgeschichte gibt – so etwa wenn Stefan Krammer den längst zum queer-feministischen Kultfilm gewordenen Streifen „Mädchen in Uniform“ (1931) diskutiert, ohne die Vielzahl der dazu im deutsch- wie im englischsprachigen Raum publizierten Arbeiten – etwa von Heide Schlüpmann und Karola Gramann oder von B. Ruby Rich5 – zu erwähnen. Eine konsequente Einbeziehung und kritische Reflexion der Geschichte feministischer Forschungen scheint mir eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung und Vernetzung der damit verbundenen Fragestellungen mit den unterschiedlichsten historischen kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven zu sein. Dass dies angesichts der interdisziplinären, breit ausgefächerten und oft auch marginalisierten Entwicklung des Forschungsfeldes eine Forderung ist, die immer nur partiell eingelöst werden kann, sei unbestritten.

Anmerkungen:
1 So waren Transformation und Reorganisation von Geschlechterverhältnissen in politischen Parteien der Zwischenkriegszeit in vielen Forschungsarbeiten seit den 1980er-Jahren Thema – lag dabei der Fokus zuerst auf linken Parteien, ist inzwischen ein breites Feld der Auseinandersetzung mit der Geschlechterpolitik rechter Parteien entstanden. Einen ersten Überblick bietet Christiane Streubel, Frauen der politischen Rechten in Kaiserreich und Republik. Ein Überblick und Forschungsbericht, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 28 No. 4 (106) (2003), S. 103-166. Vgl. zuletzt für dieses Feld unter anderem auch: Eva Schöck-Quinteros / Christiane Streubel (Hrsg.), „Ihrem Volk verantwortlich“. Frauen der politischen Rechten (1890 - 1933). Organisationen, Agitationen, Ideologien, Berlin 2007; Kirsten Heinsohn, Konservative Parteien in Deutschland 1912 bis 1933. Demokratisierung und Partizipation in geschlechterhistorischer Perspektive, Düsseldorf 2010.
2 Die Forschung hat hier mit wechselnden Schwerpunkten die Transformationen der Zusammenhänge zwischen Erwerbs- und Reproduktionsarbeit und die damit verbundenen Geschlechterregimes in den Blick genommen. Dies wurde früh als ein Rationalisierungsprozess gefasst. Vgl. Dagmar Reese u.a. (Hrsg.), Rationale Beziehungen. Geschlechterverhältnisse im Rationalisierungsprozeß, Frankfurt am Main 1993. Zu einem neuen sozialen Typus, der aus der Transformation der geschlechtersegregierten Arbeitsmärkte entstand vgl. unter anderem: Erna Appelt, Von Ladenmädchen, Schreibfräulein und Gouvernanten. Die weiblichen Angestellten Wiens 1900 – 1934, Wien 1984. Zur historischen Entwicklungen von Reproduktionspolitiken vgl. zuletzt unter anderem: Maria Mesner, Geburtenkontrolle. Reproduktionspolitik im 20. Jahrhundert, Wien u.a. 2010.
3 Während die Frage nach Nationalsozialismus und Geschlecht heute eher mit Fragen der Nachgeschichte und des Gedächtnisses verbunden wird, hat die frühe Frauen- und Geschlechtergeschichte den Nationalsozialismus in enger Verbindung mit Fragen nach der Transformation der Geschlechterverhältnisse in der Zwischenkriegszeit gesehen. Paradigmatisch: Frauengruppe Faschismusforschung, Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1981. Für neuere Forschungen vgl. unter anderem: Elke Frietsch / Christina Herkommer (Hrsg.), Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, „Rasse“ und Sexualität im „Dritten Reich“ und nach 1945, Bielefeld 2009.
4 Gabriella Hauch, Vom Frauenstandpunkt aus. Frauen im Parlament 1919-1933, Wien 1995.
5 B. Ruby Rich, Chick flicks. Theories and memories of the feminist film movement, Durham u.a. 2004, S. 179-206; Heide Schlüpmann, Karola Gramann, Momente erotischer Utopie – ästhetisierte Verdrängung. Zu Mädchen in Uniform (1931) und Anna und Elisabeth (1933), In: Frauen und Film 28 (1981), S. 28-47.