Die Bundesrepublik im Wandel (1950er- bis 1970er-Jahre)

Kießling, Friedrich; Rieger, Bernhard (Hrsg.): Mit dem Wandel leben. Neuorientierung und Tradition in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre. Köln 2010 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-412-20649-9 268 S. € 39,90

Baumann, Cordia; Gehrig, Sebastian; Büchse, Nicolas (Hrsg.): Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren. . Heidelberg 2011 : Universitätsverlag Winter, ISBN 978-3-8253-5748-1 325 S., 23 Abb. € 46,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Sturm, Geschichtsort Villa ten Hompel der Stadt Münster

Die Geschichte der „alten“ Bundesrepublik ist in den vergangenen Jahren intensiv vermessen worden. Gefragt wurde nach Periodisierungen und Umbrüchen sowie nach der Bedeutung langfristiger Wandlungs- und Transformationsprozesse. Als weithin unstrittig gilt in diesem Kontext die Annahme einer tiefgreifenden „Fundamentalliberalisierung“ der Bundesrepublik, die sich in einem gesellschaftlichen Wertewandel ebenso gezeigt habe wie in umfangreichen Reformen des Rechtssystems und der Verwaltung.1 Der zeitliche Schwerpunkt der „Reformära“ wird gemeinhin auf die „dynamischen“ 1960er-Jahre datiert. Nicht zuletzt wurden durch die neueren Forschungen die Ereignisse „um 1968“ in längerfristige Entwicklungslinien eingeordnet, womit „1968“ als politische, gesellschaftliche und kulturelle Zäsur etwas relativiert worden ist.2 Gleichwohl widmeten sich zahlreiche Studien und Forschungsprojekte der 68er-Bewegung und deren „Entmischungsprodukten“ (Wolfgang Kraushaar), die sich seit dem Beginn der 1970er-Jahre etwa in Gestalt der K-Gruppen, der Spontis, der entstehenden Alternativbewegung, aber auch „bewaffnet kämpfender“ Gruppen wie der RAF oder der „Bewegung 2. Juni“ herausgebildet hatten.

Trotz der fortschreitenden Historisierung der Wandlungsprozesse in der Bundesrepublik, ihrer Ursachen und Akteure entzünden sich an ihnen nach wie vor geschichtspolitische Deutungskämpfe. Während die einen die emanzipatorischen Aspekte der 68er-Bewegung relativieren und auf die vermeintlichen oder tatsächlichen Verwerfungen des „roten Jahrzehnts“ verweisen3, betonen andere die demokratisierenden Potenziale der Protestbewegungen seit „1968“, warnen aber gleichzeitig davor, den Topos der „Fundamentalliberalisierung“ unkritisch in eine affirmative „Erfolgsstory“ der Bundesrepublik einzufügen.4 Der von Friedrich Kießling und Bernhard Rieger herausgegebene Sammelband „Mit dem Wandel leben. Neuorientierung und Tradition in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre“ sowie der von Cordia Baumann, Sebastian Gehrig und Nicolas Büchse konzipierte Sammelband „Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren“ können nun zur Versachlichung und einer weiteren Differenzierung der Debatten beitragen.

Kießling und Rieger konstatieren, dass sich die Forschungen zu Transformationsprozessen in der Bundesrepublik bislang kaum mit dem „Wie“ des Wandels beschäftigt hätten. Die Kategorien „Amerikanisierung“, „Verwestlichung“, „Liberalisierung“ oder „Modernisierung“ seien zudem problematisch, könnten sie doch zum einen als ideologisch aufgeladene Begriffe gelten, zum anderen einem Deutungsmuster Vorschub leisten, das ungebrochen „das Selbstbild der späten Bundesrepublik fortschreibt“ (S. 11). Vor allem verweisen Kießling und Rieger aber auf die erkenntnistheoretischen Defizite, die mit einem unkritischen Gebrauch dieser Leitbegriffe verbunden seien. So seien deren teleologische Implikationen kaum geeignet, widersprüchliche Entwicklungen, die Resistenz bestehender Traditionen, Modifikationen und Hybridisierungen im Kontext von Transferprozessen zu erfassen.

Ausgehend von diesen Überlegungen unternehmen die AutorInnen den Versuch, vor allem auf Grundlage konsum-, wirtschafts- und rechtshistorischer sowie ideengeschichtlicher Fragestellungen das Verhältnis zwischen „Neuorientierung und Tradition“ während der 1950er- und 1960er-Jahre auszuloten. Diese Zugriffe erweisen sich mehrheitlich als anregend. Sie geben nähere Hinweise, was unter „liberal“, „westlich“ und „modern“, aber auch unter „national“, „international“ oder „europäisch“ jeweils zu verstehen war und welche Bedeutungsverschiebungen diese Kategorisierungen durchliefen.

So skizziert Pertti Ahonen die revisionistischen Pan-Europa-Vorstellungen der Vertriebenenverbände während der 1950er- und 1960er-Jahre, die sich gegenüber der von der Bundesregierung forcierten westeuropäischen Integration nicht durchsetzen konnten. Gleichwohl boten die vielfältigen Assoziationen, die der Europabegriff eröffnete, einem Großteil der Vertriebenen die Möglichkeit, sich (nicht nur) mit der Außenpolitik der Bundesrepublik zu arrangieren – ohne jedoch paneuropäische Positionen preiszugeben.

Aber auch Vertreter akademischer Milieus hielten aller internationaler Einflüsse nach 1945 zum Trotz zunächst an ihren nationalen Traditionen, ihrem Selbstverständnis und ihren Bildungsidealen fest, wie Friedrich Kießling und Jens Hacke zeigen. Zwar wurde etwa im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau des Frankfurter Goethehauses im Jahr 1947 über das Verhältnis zur „eigenen“ Tradition sowie die Frage einer kulturellen Öffnung nach „Westen“ debattiert. Ebenso erhielten zahlreiche Westdeutsche im Rahmen von Austauschprogrammen die Gelegenheit, die Gesellschaft und die politische Kultur der USA kennenzulernen. Eine „Amerikanisierung“ des bundesdeutschen Bildungssystems wurde jedoch mehrheitlich abgelehnt. Auch die „Nestoren der deutschen Politikwissenschaft“, Dolf Sternberger und Theodor Eschenburg, nahmen „westlich“-angelsächsische Denkstile zur Kenntnis; dennoch blieb beiden eine „Orientierung an der amerikanischen ‚political science‘ […] fremd“ (Hacke, S. 225). Einen regeren Austausch von Positionen macht hingegen Bernhard Löffler hinsichtlich der „Ideengeschichte der westdeutschen Wirtschaftskonzeption“ aus. Er kommt zu dem Schluss, dass nach 1945 sowohl aus einer deutschen Perspektive als auch im gesamteuropäischen Maßstab „ganz verschiedene Konstruktionen ‚liberaler Westlichkeit‘“ bestanden, die sich gegenseitig beeinflussten, keineswegs jedoch mit dem Modell des sich während der 1960er-Jahre durchsetzenden keynesianistisch geprägten Konsensliberalismus identisch waren (S. 59).

Ebenso zeigt Detlef Siegfrieds konsumhistorischer Blick auf die „zögerliche Versöhnung der Bundesbürger mit dem neuen Wohlstand“, dass von einem einheitlichen „Westen“ nur bedingt gesprochen werden kann. In der bundesdeutschen Gesellschaft stießen der seit dem Beginn der 1960er-Jahre einsetzende Prosperitätsschub und die damit einhergehenden kulturellen Liberalisierungsprozesse auf größere Skepsis als etwa in Großbritannien oder in den skandinavischen Ländern. Spezifisch deutsche Vorstellungen von „Gediegenheit, Fleiß, Verlässlichkeit und Kreativität“ (S. 77), die maßgeblich durch die in der Erinnerung vieler Bundesbürger fortlebenden „Konsum- und Wohlstandsversprechen der Nationalsozialisten“ (S. 207) geprägt waren – wie auch Bernhard Riegers Aufsatz über den „Mammutprozess der Volkswagensparer“ (1949–1961) deutlich macht –, kollidierten hier mit dem „amerikanischen“ Modell „fordistischer“ Massenproduktion. Gleichwohl vollzog sich in der Bundesrepublik eine Internationalisierung des Konsums, die Maren Möhring in ihrem Beitrag über „Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur durch Migration und Tourismus“ herausarbeitet. Auch hier zeigten sich Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten. Einerseits konnte der Besuch ausländischer Restaurants als Ausdruck eines Bedürfnis- und Wertewandels gelten, andererseits ging der Konsum „ausländischer Speisen“ vielfach mit klischeehaften Fremdzuschreibungen und Projektionen der deutschen Gäste einher. Erschwert wurde die Etablierung migrantischer Restaurants zudem durch die oftmals diskriminierenden Genehmigungspraktiken der Ausländerbehörden und der Gewerbeaufsichtsämter, die in einigen Regionen zumindest bis zum Ende der 1960er-Jahre noch an entsprechende Verfahrensweisen aus der Weimarer Republik und der NS-Zeit anknüpften.

Diese Feststellung gilt ebenso für andere gesellschaftliche Bereiche, beispielsweise hinsichtlich einer sich unter internationalen Einflüssen liberalisierenden Sexualmoral, die wiederum durch ein juristisches Instrumentarium kontrolliert und sanktioniert werden sollte, das noch auf der Gesetzgebung des Kaiserreichs gründete, wie der Beitrag von Elizabeth Heineman zeigt. Dennoch wäre es verkürzt, Rechtsprechung und Verwaltungshandeln in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik pauschal mit dem Topos der „Restauration“ zu charakterisieren. Mit Blick auf die Prozesse gegen den Sexualmörder Jürgen Bartsch (1966 und 1971) kommt Kerstin Brückweh vielmehr zu dem Ergebnis, dass sich die Liberalisierungsthese hinsichtlich eines nach „demokratischen Prinzipien funktionierenden Rechtsstaat[s] bestätigt“ habe (S. 83), obwohl oder gerade weil beide Verfahren von illiberalen, teilweise drastischen Vergeltungsforderungen aus der Bevölkerung begleitet wurden.

Schrille Töne einerseits, einen demokratischen Mobilisierungsprozess andererseits dokumentiert auch Thomas Zeller in seinem Aufsatz über „Verkehrssicherheit, Unfalltote, Landschaft und Technik in der frühen Bundesrepublik“. Demnach wurden für die während der 1950er-Jahre steigende Zahl der Verkehrstoten die entlang der Strecken gepflanzten Bäume verantwortlich gemacht, die besonders in der NS-Zeit ein wesentliches Gestaltungselement vor allem des Autobahnbaus gewesen waren. In einem gesellschaftlichen Umfeld, das sich über Motorisierung und Mobilität definierte, wurden sie nun als Sicherheitsrisiken und Verkehrshindernisse kritisiert. Straßen avancierten somit zu sozialen Räumen, „deren Funktion und Gestaltung eminent politisch“ war (S. 264).

Bemerkenswert ist indes, dass während der 1950er- und 1960er-Jahre in der Bundesrepublik – anders als in den USA – angesichts der hohen Zahl von Unfalltoten nicht die Automobilindustrie in den Fokus der Kritik rückte. Die Herausbildung gesellschafts- und konsumkritischer Milieus und Bewegungen war erst seit dem Beginn der 1970er-Jahre zu beobachten. Diese stehen im Zentrum des von Cordia Baumann, Sebastian Gehrig und Nicolas Büchse herausgegebenen Sammelbandes „Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen“.

Dessen Ziel lautet, die Protestgeschichte der 1960er- und 1970er-Jahre stärker miteinander zu verknüpfen. Ein Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Forschung bislang besonders die (transnationalen) Entwicklungslinien und Geschehnisse „um 1968“ in den Blick genommen hat. Die unmittelbar darauf folgenden Jahre wurden vor allem unter dem Aspekt des Niedergangs der Protestbewegungen beschrieben. Davon abgesehen habe sich das wissenschaftliche Interesse auf die erst Mitte der 1970er-Jahre entstehenden Neuen Sozialen Bewegungen und deren jeweilige Politikfelder konzentriert. Ausgeblendet blieben in dieser Perspektive weitgehend die Lebenswelten und kulturellen Praktiken der Protestakteure, die teilweise aus bereits seit dem Ende der 1960er-Jahre entstandenen linksalternativen Milieus stammten. Solchen Milieus komme gewissermaßen eine „Brückenfunktion“ zwischen den Protesten „um 1968“ und den Neuen Sozialen Bewegungen zu (S. 28).5 Der Anspruch des Bandes besteht somit auch darin, Ansätze der Bewegungs- und der Milieuforschung miteinander in Beziehung zu setzen, um „sowohl nach den spezifischen Entstehungsorten sozialer Proteste und der Etablierung neuer Lebensstile zu fragen als auch milieuübergreifende Allianzen und gegenseitige Einflüsse nicht zu vernachlässigen“ (S. 23).

Auf die Bedeutung linksalternativer Milieus für die gesellschaftlich wesentlich breiter verankerten Neuen Sozialen Bewegungen machen Jacco Pekelder und Dieter Rucht aufmerksam. Demnach entstanden linksalternative Milieus zu Beginn der 1970er-Jahre als spezifische soziokulturelle Erfahrungsräume – an Orten wie Kneipen, Kulturzentren, Verlagen und Wohngemeinschaften. Das Selbstverständnis ihrer ProtagonistInnen war stark auf „Authentizität“ und Veränderungen im „Hier und Jetzt“ gerichtet, wohingegen die Neuen Sozialen Bewegungen auf übergeordnete politisch-gesellschaftliche Ziele orientiert waren, die wiederum Menschen aus höchst unterschiedlichen Milieus und Szenen mobilisieren konnten. Rucht betont zu Recht, dass die Fokussierung auf die mit diesen Milieus und Bewegungen in Verbindung gebrachten spektakulären Protestereignisse den Blick auf die vielschichtigen Überschneidungen, Kooperationen und Distinktionen zwischen den unterschiedlichen Akteursgruppen verstellt. „Alte“ Politik und „neue“ linksalternative Milieus und Bewegungen standen sich keineswegs als monolithische Blöcke gegenüber.

Dies zeigt zum einen Andrea Hajeks Aufsatz über das linksalternative Milieu in Italien zwischen 1968 und 1977, das sich nicht nur heftige Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht lieferte, sondern auch durch interne, teilweise generationell geprägte Konflikte zwischen lokalen Gruppen gekennzeichnet war. Dies macht zum anderen aber auch der Blick auf die Neue Frauenbewegung in der Bundesrepublik deutlich. Zwar verfügte diese über identitätsstiftende Kollektivsymbole, wie Beate Schappach in ihrem Beitrag zeigt. Eva-Maria Silies wirft indes die Frage auf, ob angesichts der innerhalb der Neuen Frauenbewegung existierenden, mitunter konträren Positionen – auf die auch Claudia Lindner Leporda in einem Beitrag hinweist – nicht eher von „Frauenbewegungen“ im Plural gesprochen werden müsse.

Die in der Einleitung formulierte These, dass die traditionellen Milieus seit den 1960er-Jahren keineswegs erodiert seien, sondern dass deren politische Repräsentation ihre Deutungsmacht eingebüßt habe, wird durch den Blick auf Protestakteure gestützt, die sich unter dem Dach der Kirchen formierten. So zeigt Christian A. Widmann in seinem Aufsatz über „‚Linksprotestantismus‘ und die evangelischen Kirchen in den 1960er und 1970er Jahren“ ebenso wie Barbara Rupflin in ihrer Lokalstudie über die „Chile-Solidarität der katholischen Studentengemeinde in Münster“, dass die jeweiligen politischen Positionierungen zwar zu Konflikten in den kirchlichen Milieus führten. Die Protestakteure begriffen sich jedoch weiterhin als Teil ihrer Kirchen. Rupflin konstatiert in ihrer Fallstudie „keinen radikalen Bruch mit dem katholischen Milieu“, wohl aber eine „Pluralisierung“ der darin aufscheinenden „Weltdeutungsangebote“ (S. 209).

Sowohl für die linksalternativen Milieus wie auch für die Neuen Sozialen Bewegungen spielten Kommunikation und Öffentlichkeit eine zentrale politische und identitätsstiftende Rolle. Die Abhängigkeit von der Berichterstattung der Leitmedien stellte für Protestakteure, wie Regina Wick in vergleichender Perspektive am Beispiel der Darstellung der Friedensbewegung in britischen und bundesdeutschen Zeitungen zeigt, ein existentielles Problem dar, „findet doch eine Bewegung, über die nicht berichtet wird, nicht statt“ (S. 133). Mit diesem Umstand war besonders die britische Friedensbewegung konfrontiert; bereits während der 1970er-Jahre entstand deshalb eine „Gegenöffentlichkeit“ in Form alternativer Medien, Zeitungs- und Radioprojekte. Neue politische Räume sollten zudem durch Literatur- und Filmproduktionen geöffnet werden. Die Rezeption dieser Werke in der Öffentlichkeit sowie durch die Protestakteure selbst fiel bisweilen höchst unterschiedlich aus, wie Julia Zutavern in ihrem Beitrag über Peter Zadeks Film „Ich bin ein Elefant, Madame“ und Jan Henschen in seinem Aufsatz über Peter Paul Zahls Roman „Die Glücklichen“ verdeutlichen. Der 1970 gegründete Verband des linken Buchhandels (VLB), dem sich Uwe Sonnenberg widmet, ist wiederum explizit im Kontext einer milieuspezifischen „Gegenöffentlichkeit“ zu sehen. Von den ursprünglichen politisch-revolutionären Zielen blieb aufgrund zahlreicher Fragmentierungen und Konfliktfelder innerhalb der linksalternativen Milieus wenig übrig, so dass der Verband als eher loser, nur bedingt handlungsfähiger Zusammenhang firmierte. Insofern dienten die Initiativen der „Gegenöffentlichkeit“ immer auch als Seismographen für den Zustand der jeweiligen Protestbewegungen und -milieus.

Obgleich die beiden Bände unterschiedliche Jahrzehnte in den Blick nehmen und auch hinsichtlich der darin verhandelten Aspekte keine direkten Überschneidungen aufweisen, kann als verbindende Klammer der von den jeweiligen HerausgeberInnen postulierte Ansatz gelten, nach den Beziehungsgeflechten und Interaktionsverhältnissen zwischen Akteuren des gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Wandels sowie VertrerInnen traditioneller Milieus, Denkstile und Normen zu fragen. Auf diese Weise ist es den HerausgeberInnen und dem überwiegenden Teil der AutorInnen beider Sammelbände gelungen, dichotome Interpretationsraster und oftmals allzu pauschal gebrauchte Großkategorien auf Grundlage konkreter historischer Fallbeispiele zu hinterfragen und auszudifferenzieren. Dies gilt im Hinblick auf die Begriffe „Transformation“, „Restauration“, „Verwestlichung“ oder „Modernisierung“ ebenso wie für die Termini „Milieu“ und „Soziale Bewegung“ im Kontext der Protestforschung. Die weiterhin bestehenden Desiderate und künftigen Forschungsperspektiven werden in den Bänden teilweise bereits genannt. Friedrich Kießling und Bernhard Rieger verweisen zu Recht auf die „vielgestaltigen, Westdeutschland prägenden Außeneinflüsse sowie Grenzziehungen, die […] weit über das Phänomen der Verwestlichung hinausweisen“ (S. 26). Migrantische Perspektiven auf Umbrüche und Zäsuren der bundesdeutschen Geschichte fehlen nach wie vor. Diese Feststellung gilt auch für die Protestgeschichte der Bundesrepublik, an der MigrantInnen als Akteure beteiligt waren und sind.

Anmerkungen:
1 Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002 (rezensiert von Franz-Werner Kersting, 27.6.2003: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-183> [9.5.2012]).
2 Vgl. den Forschungsbericht von Philipp Gassert, Das kurze „1968“ zwischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur: Neuere Forschungen zur Protestgeschichte der 1960er-Jahre, 30.4.2010: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2010-04-001> (9.5.2012).
3 Götz Aly, Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2008; Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001 (rezensiert von Wolfgang Kraushaar, 27.2.2002: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2002-028> [9.5.2012]).
4 Stephan Alexander Glienke / Volker Paulmann / Joachim Perels (Hrsg.), Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2008 (rezensiert von Oliver Groß, 28.7.2008: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-061> [9.5.2012]).
5 Siehe auch Sven Reichardt / Detlef Siegfried (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010 (rezensiert von Eva-Maria Silies, 25.3.2011: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-227> [9.5.2012]).