S. Courtois: Das Handbuch des Kommunismus

Cover
Titel
Das Handbuch des Kommunismus. Geschichte, Ideen, Köpfe


Herausgeber
Courtois, Stéphane
Erschienen
München 2010: Piper Verlag
Anzahl Seiten
846 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Die Idee, ein Handbuch des Kommunismus zu publizieren, ist an sich zu begrüßen, sind doch ältere Werke dieser Art, etwa von Jozef Bochenski oder Witold Sworakowski, keinesfalls mehr aktuell. Jedes Werk dieser Art wird sich aber auch an den Vorgängern zu messen haben, was Exaktheit der vermittelten Fakten und Zuverlässigkeit der Urteile betrifft. Um es gleich zu sagen: Daran hapert es, trotz einiger bemerkenswerter Beiträge, im vorliegenden Buch.

Einem kursorischen Überblick des Herausgebers zu Erscheinungsformen der Ideologie des Kommunismus, wie er ihn versteht, folgt eine (gar nicht so) „Kurze Geschichte des Kommunismus“, die vom Totalitarismus-Paradigma als Interpretationsrahmen geprägt ist. Die reformkommunistischen Strömungen werden nicht verschwiegen, aber in ihren weitreichenden Bedeutungen herunter gebucht. Die einzelnen Beiträge des „Glossars“ von „Afghanistan“ bis „Zivilgesellschaft“ sind unterschiedlichen Phänomenen der politischen Geschichte (von „Anarchismus“ über die „Samtene Revolution“ bis zur „Volksfront“), geographischen Ländern und Großräumen in Ost und West, politischen Begriffen der Parteigeschichte (von „Agitprop“ bis „Propaganda“) und verschiedenen Persönlichkeiten, darunter Marx, Lenin, Tito und Trotzki, gewidmet.

Hervorzuheben sind die Abhandlungen von Antonio Elorza von der Universität Complutense in Madrid zu Problemen Spaniens und Lateinamerikas, die zahlreiche Detailinformationen mit keineswegs unkritischem, doch sachgerechtem Urteil verbinden. In seinem umfangreichen Beitrag zu „Lateinamerika“ zeigt er den Lernprozess von Kommunisten auf, die 1970 in Chile eine demokratische Volksbewegung unterstützten und die Demokratie „als Wert an sich“ gegen die antidemokratische und kapitalistische Rechte verteidigten (S. 535). Die Sandinisten, obgleich sie ein diktatorisches Regime in Nicaragua bekämpften, durchliefen keinen vergleichbaren Reifeprozess, und so veranschlagt Elorza ihre Lehren für demokratische Volksbewegungen im 21. Jahrhundert als vergleichsweise gering. Der lateinamerikanische Kommunismus und Bewegungen, die aus ihm hervorgehen, könnten in eine antidemokratische Richtung (Kuba) oder eine revolutionäre Demokratie (Bolivien) einmünden; noch offen seien auch Entwicklungen in Venezuela. Etwas schwächer als die Ausführungen zur spanischsprachigen Welt ist Elorzas Artikel über die „Kommunistische Internationale“, wo die Verdrängung Sinowjews aus der Komintern-Führung auf 1924 (statt richtig 1926) datiert (S. 440) und der Maoismus als „wichtigste Opposition gegen den orthodoxen Kommunismus“ bezeichnet wird (S. 447). War aber der Maoismus nicht selbst orthodoxer Kommunismus par excellence?

Mehrere Beiträge behandeln die Nationalitätenprobleme in der Sowjetunion, doch auch in Jugoslawien. Darunter sei auf Olivia Gomolinskis Beitrag über die „Juden“ verwiesen, der insgesamt korrekt die verschiedenen Phasen der sowjetischen Judenpolitik wiedergibt: von der nur zögernden Anerkennung als Nation zur Förderung der jiddischen Kultur bei Bekämpfung des Zionismus über die kurze Unterstützung Israels bis hin zum offenen Antisemitismus in Stalins letzten Jahren und dem Fortwirken antisemitischer Unterströmungen inner- und außerhalb der Partei auch später. Nicht richtig ist die Behauptung der Autorin, die – abscheuliche – Ermordung der Linkssozialisten Wiktor Alter und Henryk Erlich habe gezeigt, dass die Sowjetunion nach dem deutschen Überfall nichts zur Rettung der Juden unternommen habe (S. 399). Nein: Die Ermordung der polnisch-jüdischen Linkssozialisten zeugte von Stalins Hass auf jederart demokratischen Marxismus, ganz gleich, ob dessen Vertreter Juden waren oder nicht. Sofort nach dem Überfall und den ersten deutschen Massakern an den Juden, so in Lemberg, warnte der sowjetische Rundfunk die Juden und forderte sie zur Flucht ins Landesinnere auf. Im kubanischen Exil dokumentierte dies der (kurz darauf von Stalins Schergen umgebrachte) exilierte deutsche Stalin-Gegner Arkadij Maslow, der über Kurzwelle die sowjetischen Sender abhörte. Manchmal aber, so in Taganrog am Asowischen Meer, glaubten die Juden Stalins Nachrichten auch dann nicht, wenn sie der Wahrheit entsprachen, blieben in der Stadt und wurden fast alle ermordet. Juden, die sich aus anderen Städten evakuieren ließen, überlebten hingegen.

Jean Baudouin (Universität Rennes), der unter anderem den Schlüsselbegriff „Totalitarismus“ zu erläutern sucht, hat dabei ganz offensichtlich Probleme mit den Juden: Er attackiert Raymond Aron, da dieser bei aller scharfen Kritik am Stalinismus (und am Kommunismus überhaupt) eine Gleichsetzung des Stalin-Regimes mit Auschwitz ablehnte. „Diese These gilt es zu relativieren“, schreibt hingegen Baudouin und nimmt dabei allen Ernstes zur Wendung von „der sogenannten Einmaligkeit der Schoah“ Zuflucht (S. 749). Damit übernimmt er das Vokabular einer als „Negationismus“ bezeichneten französischen Spielart des Antisemitismus, die im Umfeld der Poujade-Bewegung wie später der Front National ihre Sumpfblüten trieb.

Es ist natürlich unmöglich, im Rahmen einer Rezension ausführlich den Inhalt auch nur einiger weiterer Beiträge des Buches so zu referieren, wie sie dies verdienten. Der für die deutsche Ausgabe angefügte, fast sechzigseitige Essay von Klaus Schroeder und Jochen Staadt zum „Kommunismus in Deutschland“ bedarf jedoch eines kurzen Kommentars. Dass die Autoren den Kommunismus insgesamt als stets gewaltbereite extremistische Bewegung mit nur pseudodemokratischem und pseudohumanistischem Anstrich sehen, verwundert denjenigen Leser nicht, der ihre zahlreichen sonstigen Abhandlungen kennt. Verwundern muss hingegen der saloppe Umgang mit den Fakten, wenn diese einem solchen Bild entgegenstehen. Es genügt, nur den Unterabschnitt zur Weimarer Republik herauszugreifen: So schreiben Staadt und Schroeder, entgegen den Fakten, vom Streben nach einer „Rätediktatur“ – statt der Rätedemokratie (S. 93). Die Kommunisten hätten stets in „dumpfer Ablehnung“ der Weimarer Verfassung verharrt (S. 99). Eine solche Behauptung stimmt aber nur, wenn man die Arbeiterregierungen im Jahre 1923, die vom realpolitischen Flügel der KPD mitgetragen wurden, ebenso verschweigt wie die zahlreichen Aufrufe zur Verteidigung der Republik von KPD-Opposition, Leninbund und Linker Opposition spätestens ab 1930. Beide Tatsachen kommen konsequenterweise im Beitrag nicht vor. Hingegen wird in der unvollständigen Aufzählung der KPD-Führer für die Jahre 1923 bis 1925 Alfred Rosenberg genannt (S. 101). Dieser war in dieser Zeit Herausgeber des NSDAP-Kampfblattes „Völkischer Beobachter“. Gemeint ist wohl der Historiker Arthur Rosenberg. Er wurde 1924 (nicht 1923) in die Parteizentrale gewählt, führte aber die KPD zu keinem Zeitpunkt.

Weitere Beanstandungen an dem umfangreichen Buch anzuführen, verbietet schlicht der Platzmangel. Ist Unseriösität im Umgang mit den Fakten oder schlichtes Nichtwissen die Ursache für derartige Fehler und Falschaussagen? Hat im Verlag überhaupt jemand das Manuskript sorgfältig gelesen, geschweige denn lektoriert? Dem selbst gestellten Anspruch eines verlässlichen Handbuches wird die Publikation kaum gerecht.