W. Schönpflug u.a.: Psychologie in der Deutschen Demokratischen Republik

Cover
Titel
Psychologie in der Deutschen Demokratischen Republik. Wissenschaft zwischen Ideologie und Pragmatismus. Der XXII. Internationale Kongress für Psychologie 1980 in Leipzig, seine Vorgeschichte und Nachwirkungen


Autor(en)
Schönpflug, Wolfgang; Lüer, Gerd
Erschienen
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Busse, Fakultät Soziale Arbeit, Hochschule Mittweida

Der XXII. Internationale Kongress für Psychologie 1980 in Leipzig war seinerzeit für die Psychologie in der DDR ein identitäts- und anerkennungsstiftendes, für die politische Elite des Staates DDR ein prestigeträchtiges Ereignis. Er war bis dato die größte internationale wissenschaftliche Veranstaltung in der DDR, welche einer für die DDR vergleichsweise marginalen Wissenschaft (der Psychologie) gegolten hat. Das kann man ermessen, wenn man allein die 4.000 Kongressteilnehmer aus aller Welt mit den circa 4.000 Psychologen, die bis zum Ende der DDR dort tätig waren, in Beziehung setzt.

Wolfgang Schönpflug und Gerd Lüer, beides emeritierte Psychologieprofessoren aus den alten Bundesländern, haben hier eine detailreiche und akribische Analyse vorgelegt. Sie nennen eingangs zwei Gründe, die dieses Ereignis auch noch mit über dreißig Jahren Abstand als bedeutsam für eine eigene psychologiehistorische Untersuchung erscheinen lassen: Erstens sei der Kongress in der seit 1889 über hundertjährigen Geschichte der International Union of Psychological Science (IUPS) in wissenschaftlicher wie kultureller Hinsicht „zu einem Glanzpunkt“ (S. 11) geworden (bis 1980 oder gar bis heute?). Zweitens sei die Psychologie der DDR seit der Wende dank vorliegender „biografische[r] Berichte und dokumentengestützte[r] Analysen“ zwar keineswegs vergessen, „trotzdem schienen uns die blinden Flecken in der Geschichte [besser in ihrer historiografischen Aufarbeitung, Stefan Busse] [...] zu dominieren“ (ebd.).

Aus Letzterem folgt indessen nicht, dass sie diese „blinden Flecken“ als Desiderat für die eigene Analyse aufzeigen und die bislang vorliegende historiografische Bearbeitung der Psychologie in der DDR bis 2006 gar kritisch würdigen würden. So werden zwar Ergebnisse aus bisherigen Veröffentlichungen im Wesentlichen als „Material“ für die eigene Untersuchung verwertet, was in wenigen Fällen zu historiografisch wertvollen Korrekturen führt. Eine Auseinandersetzung mit bisherigen Analysen und Interpretationen erfolgt jedoch kaum, andere Veröffentlichungen werden gar ignoriert.1

Schiebt man dieses Ärgernis beiseite und richtet seinen Blick auf die weitere Substanz des Buches, wird aber deutlich, dass Schönpflug und Lüer mit ihrem Fokus auf den XXII. Kongress von 1980 in Leipzig (im folgenden „Kongress“) einen Schlüssel am historiografischen Haken haben, dessen weitere Analyse lohnt. Es wird sehr schnell klar, dass es sich hier auch im Nachhinein um ein unwahrscheinliches historisches Ereignis handelt, was aber umso mehr Aufschluss über die Rolle von Wissenschaft (Psychologie) im Realsozialismus als auch über deren Einbettung in die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte und in die internationalen Entwicklungen von 1945 bis 1989 – changierend zwischen Kaltem Krieg und Entspannungspolitik – gibt. In diese Kontexte war der Kongress von 1980 als politisches und systemübergreifendes „Verhandlungsobjekt“ eingebettet. Aber was hat den Kongress vor diesem Hintergrund überhaupt möglich gemacht?

Erstens: Die Vorgeschichte des Kongresses geht bis Anfang der 1960er-Jahre zurück. Der Mauerbau 1961 machte die Gründung einer eigenen Gesellschaft für Psychologie der DDR im Jahre 1962 zwingend, weil die Mitgliedschaft in der (west-)deutschen Gesellschaft für Psychologie nun endgültig unmöglich war und man sich gegen den durch die Hallsteindoktrin bedingten Alleinvertretungsanspruch Westdeutschlands (bzw. der Deutschen Gesellschaft für Psychologie) absetzen musste. Nunmehr standen sich zwei Psychologievereinigungen auch konkurrierend gegenüber. Im Vorfeld des XVI. Internationalen Kongresses der IUPS in Bonn hatte es bereits 1960 einen Skandal bezüglich der Verstrickung von führenden Vertretern der akademischen Nachkriegspsychologie in das nationalsozialistische Regime gegeben, sodass die westdeutsche Gesellschaft als „belastet“ galt. Ausgelöst durch das Betreiben ehemaliger Emigranten und flankiert von einem Artikel in der Jugendzeitschrift „Forum“ von jungen Vertretern der DDR-Psychologie kam es zu spektakulären Rücktritten im Vorstand der Deutschen Psychologengesellschaft. Schönpflug und Lüer zeigen hier detailreich, wie diese Aktion der jungen DDR-Psychologen, noch ganz in der Logik des Kalten Krieges stehend, zwar nicht Ursache für die Rücktritte war 2, schlussendlich aber die zügige Anerkennung der Gesellschaft für Psychologie der DDR durch die IUPS bereits 1966 befördert hat und als Langzeitwirkung bis 1972 die rasche Vertretung der DDR-Psychologie im Vorstand ermöglichte. Der westdeutschen Gesellschaft sollte dies erst sechs Jahre später gelingen. Diesem durch die frühe personale Präsenz bedingten und durch diplomatisches Geschick innerhalb der IUPS weiter ausgebauten Vorsprung ist es zu verdanken, dass die Vertreter der DDR-Psychologie den Zuschlag für den Weltkongress 1980 schlussendlich erlangten. Die Krönung dessen war schließlich die Präsidentschaft der IUPS durch den international renommierten und für die DDR-Psychologie so prägenden Berliner Psychologen Friedhart Klix. Aus dieser Perspektive war der Kongress 1980 in Leipzig nachgerade ein Coup, den die DDR-Psychologie gelandet hatte. - Zumal er so gar nicht dem üblichen Gang der Geschichte zu entsprechen schien, in dem die DDR niemals ein- oder überholen, wenn, dann immer nur nachholen konnte.

Zweitens: Der Kongress war eine diplomatische Glanzleistung der Gesellschaft für Psychologie der DDR respektive der Akteure des Vorbereitungskommittees des Kongresses bis hin zu den sowjetischen Vertretern in der IUPS. Sie hatten als Repräsentanten der Weltgesellschaft einerseits deren politische und ideologische Neutralität zu wahren und zu verteidigen und andererseits gemäß den Erwartungen der politischen Elite des eigenen Landes die politisch-ideologische Verwertbarkeit des Kongresses zu realisieren. Hätte die DDR zum Beispiel auf ihren rigiden an Visa gebundene Einreiseregularien beharrt und Vertretern aus politisch missliebigen Staaten (etwa Israel oder Südafrika) die Einreise verweigert, hätte sogar ein westlicher Boykott des Kongresses gedroht. So waren Kompromisse auf beiden Seiten notwendig, zu denen aufseiten der DDR-Politik sogar die kurzzeitige Aufhebung der Visa-Pflicht für Kongressteilnehmer gehörte. Schönpflug und Lüer zeigen hier, wie vor allem Friedhart Klix eine Diplomatie praktizierte, welche sich nach beiden Seiten hin einer „Strategie der verkürzten, unscharfen und irreführenden Information“ (S. 282), ja sogar der „gezielten Fehlinformationen“ (S. 289) bediente, um auf die jeweils andere Seite Druck ausüben zu können. Dies habe aber durchaus mit der Neigung der westlichen Seite korrespondiert, über einige Ungereimtheiten im Vorfeld der Kongressplanungen hinwegzusehen, vor allem was die tiefe Einbindung der Gesellschaft für Psychologie in das politische System der DDR betraf (sie war direkt dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen unterstellt), um sich der Illusion eines politisch neutralen Kongresses und der wissenschaftsfreundlichen DDR nicht berauben zu lassen. Diese Diplomatie der zweiseitigen und doppelten Kommunikation (die innerhalb der DDR durchaus üblich war) hatte aber das eigentlich unmögliche Ereignis eines gemeinsamen Ost-West-Kongresses erst möglich gemacht.

Drittens: Die Vorbereitung aber auch die Nachwirkungen des Kongresses geben einen vertieften Einblick in die Zirkulation von Einfluss zwischen politischer Macht- und wissenschaftlicher Funktionselite im Sozialismus der späten 1970er- bis in die 1980er-Jahre. So bedienten sich die Psychologen der politischen Macht, um systembedingte Hemmnisse (bürokratische wie ökonomische) und selbst politisch-ideologische Vorbehalte gegen sie zur Seite zu räumen. Sie vermochten beträchtliche Ressourcen zu aktivieren, weil sie einer nach internationaler Anerkennung fast süchtigen politischen Elite die dazu notwendige Bühne bieten konnten. Dies basierte auf einem Agreement, welches Schönpflug und Lüer als eine Art Symbiose skizzieren, indem sich Ideologie und Pragmatismus nicht nur gegenseitig im Zaum gehalten haben, sondern eine produktive Allianz - die strategischen und taktischen Selbstverleugnungen und Fremdtäuschungen eingerechnet - eingegangen seien. Sie machen allerdings deutlich, dass dies nur möglich war, weil hier keine einfache Zweifrontenlogik unterstellt werden könne – dort die ideologischen Parteikader, da die pragmatischen Wissenschaftler. Die Allianz ging eher durch die Akteure hindurch, was Kompromisse, Kooperationen und eine egalitäre Kollegialität zwischen beiden, die Manches entschärfte, ja erst ermöglichte. Zu jenem Pragmatismus gehörte allerdings auch, dass diese Balance immer ein Pakt auf Zeit war, weil man sich der anderen Seite nicht wirklich sicher sein konnte. Das übersehen Schönpflug und Lüer mitunter, wenn sie sehr dem westlichen Blick von außen folgend eine Liberalisierung der DDR-Gesellschaft nach dem Kongress erwarten (was sie freilich auch wieder etwas relativieren). Erst daraus wird auch verständlich, dass es den DDR-Psychologen bis auf einen kurzzeitigen Zuwachs an Aufmerksamkeit und Zuwendung nicht gelungen ist, aus dem Kongress nachhaltig Kapital für die Fortentwicklung der Psychologie zu schlagen.

Was beiden Autoren jedoch ganz aus dem Blick gerät, ist eine weitere Facette dieser Machtbalance: die gemeinsame Tabuisierung der realen gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR und die darin eingebundene mögliche anwaltschaftliche Rolle der Psychologie als einer Wissenschaft vom Subjekt. Das Oszillieren zwischen Ideologie und Pragmatismus läuft eben immer auch nur auf Neutralität hinaus – es trotzt dem politischen System zwar etwas ab, es trotzt ihm aber nicht, noch nicht einmal am Maßstab der eigenen Ansprüche. Dass dies kein abwegiger Blick auf das Geschehen vor und nach dem Kongress gewesen wäre, zeigen zum Beispiel kritische Arbeiten einiger DDR-Psychologen (vor allem von Hans-Dieter Schmidt, neben Klix eine der wichtigsten Figuren der DDR-Psychologie). Zum Ende der 1980er-Jahre hin wurde dieser Pragmatismus, mit dem die politisch Mächtigen glaubten international reüssieren zu können und der das gesellschaftliche Wirksamkeitsversprechen von Psychologie allein auf deren ökonomische Verwertbarkeit reduziert hatte, von führenden DDR-Psychologen sogar als „Fehler“ und „Teufelskreis“ bezeichnet, aus dem man kaum noch herausfände. Denn dort, wo die Psychologie den politisch Maßgeblichen nicht unmittelbar einen ökonomischen Nutzen nachweisen konnte, wurde sie als „ökonomisch unwesentliche Wissenschaft“ wahrgenommen und als gesellschaftlich unwichtig klassifiziert.3 Das alleinige Operieren mit der analytischen Formel von „Ideologie vs. Pragmatismus“ ist für diese Perspektive blind.

Anmerkungen:
1 Stefan Busse, Psychologie in der DDR. Die Verteidigung der Wissenschaft und die Formung der Subjekte. Psychologie Forschung aktuell, Weinheim 2004.
2 ebd. vgl. S. 149ff.
3 ebd. vgl. S. 220ff.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension