K. Petrone: The Great War in Russian Memory

Cover
Titel
The Great War in Russian Memory.


Autor(en)
Petrone, Karen
Reihe
Indiana-Michigan Series in Russian and East European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
385 S.
Preis
$ 39.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristiane Janeke, Berlin / Minsk

2014 jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum einhundertsten Mal. Im Zuge des bevorstehenden Jubiläums ist auch in Russland ein neues Interesse am Ersten Weltkrieg zu beobachten. Welchen Konjunkturen die Erinnerung an diesen Krieg in der Sowjetunion unterworfen war, ist Gegenstand der Studie von Karen Petrone. Dabei geht die Autorin, die als Professorin für Geschichte an der University of Kentucky lehrt, von der These aus, dass der Erste Weltkrieg, der zu unterschiedlichen Zeiten in Russland und der Sowjetunion als der „Große“, der „Imperialistische“, der „Zweite Patriotische“ oder auch der „Deutsche“ Krieg bezeichnet wurde, zu keinem Zeitpunkt ganz vergessen war. Damit grenzt sich Petrone explizit von der überwiegenden Mehrzahl einschlägiger Studien ab, in denen mehrheitlich die Ansicht vertreten wird, dass die russische Erinnerung an den Ersten Weltkrieg bereits in der Zwischenkriegszeit anders ist als im Rest Europas. Es ist ein erklärtes Anliegen der Autorin, Russland in der Debatte über den Ersten Weltkrieg wieder in den Kreis der anderen europäischen Nationen zurückzuführen.

Als Klammer ihrer Studie dient Petrone die Geschichte des „Moskauer Brüderfriedhofs“, die exemplarisch für den Wandel der Erinnerung zu Beginn und am Ende des Buches erzählt wird: 1914 eröffnet und zunächst als zentraler Erinnerungsort etabliert, geriet er bereits Anfang der 1920er-Jahre zunehmend in Vergessenheit und rückt erst seit 2004 wieder ins öffentliche Bewusstsein. Allerdings ist dieser Fall durch eine Reihe von russischen und deutschen Publikationen in den letzten Jahren bereits mehrfach beschrieben worden. Gerade im Kontext des neu erwachenden Forschungsinteresses in Russland wäre ein anderes Beispiel, etwa die verschiedenen Ausstellungsprojekte im Zentralen Armeemuseum in Moskau, aufschlussreicher gewesen.

Das Buch widmet sich im Hauptteil dem Zeitraum von 1917 bis 1945 auf der Grundlage folgender These: Es habe nach 1918 trotz staatlicher Einflussnahme und Manipulation immer eine gesellschaftliche Parallelerinnerung an den Ersten Weltkrieg gegeben. Darüber hinaus sei der Erste Weltkrieg insofern ein integraler Bestandteil auch der offiziellen sowjetischen Erinnerungskultur gewesen, als diese die Erfahrung und Erinnerung an den Krieg für ihre Zwecke instrumentalisiert habe. Eine eigene, konstruierte und in sich geschlossene Lesart des Ersten Weltkrieges habe es jedoch ebenso wenig gegeben (S. 24, 74, 243) wie eine aktive Verdrängung (S. 292). Während die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Laufe der 1920er-Jahre, nicht zuletzt aufgrund der Vermischung mit der Erinnerung an die Revolution und den Bürgerkrieg, in den Hintergrund geraten sei, sei sie zu Beginn der 1930er-Jahre im Zusammenhang mit der Konstruktion des Sowjetpatriotismus, vor allem aber nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion erneut aufgelebt.

Die dieser These zugrunde liegenden Beobachtungen sind nicht neu, es ist jedoch das Verdienst der Autorin, vor dem Hintergrund der komplexen Gemengelage historischer Erinnerungsbezüge und geschichtspolitischer Interessen dieser Periode den Versuch einer Differenzierung mit Blick auf den Ersten Weltkrieg zu unternehmen. Sie tut dies mit der Methode der „dichten Beschreibung“ auf der Grundlage einer kulturgeschichtlich inspirierten Materialauswahl (S. 7, 16f), die sich vor allem auf Literatur, Filme, Museen, Denkmäler sowie Rituale, Jahrestage und Traditionen stützt. Der erste Teil (Kapitel 2-5) behandelt die Themen Religion, Geschlecht, Gewalt und Nationalität während des Krieges und in der Nachkriegszeit. Der zweite Teil analysiert den Wandel der Erinnerung am Beispiel von Ereignissen und Institutionen (Kapitel 6) sowie ausgewählter Texte (Kapitel 7). Das Schlusskapitel (Kapitel 8) bietet einen knappen Ausblick auf die Zeit nach 1945.

Bereits im ersten Teil zeigt sich ein Dilemma, das sich durch die gesamte Studie zieht: Eine Analyse der Weltkriegserinnerung in klarer Abgrenzung zu Erinnerung an Revolution und Bürgerkrieg ist angesichts ihrer Vermischung letztlich nicht möglich. Viele Aussagen bleiben daher allgemein oder stützen sich auf nur wenige Beispiele. Die Auswahl dieser Beispiele ist zudem nicht immer nachvollziehbar. Die Methode, aus wenigen Einzelfällen allgemeine Schlüsse über die kollektive Erinnerung zu ziehen, ist strittig. Problematisch ist darüber hinaus, dass die Autorin ihre Beobachtungen ohne jede historische Kontextualisierung präsentiert. Wer mit den politischen Entwicklungen in der Sowjetunion und den damit verbundenen ideologischen Rahmenbedingungen für die Erinnerungskultur nicht vertraut ist, kann nicht nachvollziehen, warum die Weltkriegserinnerung geduldet, gefördert, verdrängt oder verboten wurde. Als Stichworte seien hier nur die Neue Ökonomische Politik, der Vertrag von Rapallo und die Zusammenarbeit der Roten Armee mit der Reichswehr, die Auseinandersetzung Stalins mit Trotzki, die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Wechsel in der Außenpolitik nach 1934 genannt. Die Analyse des Diskurses zu den von der Autorin definierten „Schlüsselthemen“ im ersten Teil bleibt daher im luftleeren Raum und die Feststellung „das zaristische Erbe [sei] ein wichtiger Aspekt des sowjetischen Lebens“ (S. 24) ist ohne eine Erklärung, warum in dieser Form mit diesem Erbe verfahren wurde, wenig aussagekräftig.

Der Frage, wie die Erinnerung an den Weltkrieg aus ganz unterschiedlichen Gründen aus dem allgemeinen Gedächtnis verschwunden ist, widmet sich der zweite Teil. Neben der Zensur, deren Methoden die Autorin dezidiert an einzelnen Beispielen aufzeigt, beeinflussten auch die „Säuberungen“ die Erinnerungskultur: Wissenschaftliche und kulturelle Werke verschwanden mit ihren Autoren von der Bildfläche. Leider versäumt es Petrone hier, wie auch bei den folgenden Fallstudien zum Moskauer Militärhistorischen Museum (1923-1927), zur nie vollendeten Herausgabe von Dokumenten zum Ersten Weltkrieg durch eine Kommission des Generalstabs der Roten Armee, zur schwankenden Rezeption und Zensur der Erinnerungen Brussilows, zu den Reaktionen auf Remarques „Im Westen nichts Neues“ und zu den Aktivitäten zum 20. Jahrestag des Kriegsausbruchs 1934 (Kapitel 6), auf die politischen Beweggründe für Verbote und Manipulationen einzugehen.

Zusammen mit der Analyse wissenschaftlicher und belletristischer Publikationen auf ihren Gehalt in Bezug auf die im ersten Teil benannten Themen hin (Kapitel 7) kommt die Autorin zu dem Schluss, dass sich mit dem direkten Rückbezug auf 1914/1918 nach Beginn des Zweiten Weltkrieges der Kreis der Erinnerung schließe (S. 278). Erneut wieder in Vergessenheit geraten sei der Erste Weltkrieg dann durch die Erfahrung des neuen Krieges, so dass er allenfalls als eine Art Vorspiel zu dieser Katastrophe in Erinnerung geblieben sei.

Insgesamt handelt es sich bei „The Great War in Russian Memory“ um einen materialreichen Beitrag zur Erinnerungskultur des Ersten Weltkrieges und zur Kultur- und Mentalitätsgeschichte der Sowjetunion. Die Stärken der Arbeit liegen dabei eher im Detail als in der strukturellen Analyse. Die konkrete Untersuchung einzelner kultureller und wissenschaftlicher Werke ergibt ein lebendiges Bild der komplexen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in der Sowjetunion, ohne zu wirklich neuen Thesen zu führen. Die Konzentration auf die Mikroebene führt zudem bisweilen dazu, dass sich die Autorin in ihren Fallbeispielen verliert. So ist es bereits in der Einleitung schwierig, sich eine klare Vorstellung von der Gliederung des Buches zu machen. Auch innerhalb der Kapitel ist die Struktur nicht immer nachvollziehbar. Zur Orientierung ist dagegen der ausführliche Orts-, Namens- und Sachindex eine große Hilfe. Die wenigen Abbildungen sind gut gewählt, Hinweise zu einschlägigen Ausstellungskatalogen der letzten Jahre fehlen leider in dem ansonsten breiten Literatur- und Quellenverzeichnis.

Das Buch erscheint in einer Zeit, in der der Erste Weltkrieg in Russland selbst, aber auch in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wieder stärker wahrgenommen wird. Es wäre daher in Anbetracht der multiethnischen Zusammensetzung des Russischen Reiches und der Sowjetunion zum einen von Interesse gewesen, einen Blick auf die Erinnerung jenseits der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) zu werfen. Zum anderen ist es bedauerlich, dass die Autorin ihre Ausführungen zur aktuellen Rezeption in Russland auf den Moskauer Friedhof beschränkt und damit andere Initiativen sowie die Regionen ausblendet. Beides wäre angesichts des bevorstehenden Jahrestages eine willkommene Bereicherung gewesen.

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