G. Wettig: Sowjetische Deutschland-Politik

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Titel
Sowjetische Deutschland-Politik 1953 bis 1958. Korrekturen an Stalins Erbe, Chruschtschows Aufstieg und der Weg zum Berlin-Ultimatum


Autor(en)
Wettig, Gerhard
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 82
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 190 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Georg Golz, Aachen

Als Josef Stalin im März 1953 starb, ordnete die SED-Führung Staatstrauer an. Kulturminister Johannes R. Becher schrieb ein Gedicht auf den Generalissimus: „Dem Ewig-Lebenden“. In Ost-Berlin wusste man, dass man dem Kreml-Diktator nicht weniger als die Gründung des SED-Staates und die vermeintlich „ewige“ Garantie seiner Existenz zu verdanken hatte.

In den vergangenen Jahrzehnten wurde im Lichte russischer Archivalien immer wieder intensiv über die Stalin-Noten vom Frühjahr 1952 diskutiert. Nach der Überzeugung von Gerhard Wettig, langjähriger Forschungsbereichsleiter des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln, waren die sowjetischen Angebote zur Wiedervereinigung nicht ernstgemeint. Niemals habe Stalin erwogen, die DDR zugunsten eines neutralen, wiedervereinigten Deutschlands preiszugeben. Vielmehr war es sein Ziel, die deutsche Zweistaatlichkeit möglichst klug für eigene Zwecke zu nutzen. Die Existenz der DDR, so Wettigs Credo, war für die sowjetische Politik der „friedlichen Koexistenz“ (ein auf Lenin zurückgehendes, in der Zeit der „Entspannung“ offen propagiertes Konzept) unverzichtbar, deren ideologischer Kern immer die Fortsetzung des Klassenkampfs vorsah.

Wettigs gut lesbare, vornehmlich aus östlichen Quellen gearbeitete Studie über das Jahrfünft sowjetischer Deutschlandpolitik von Stalins Tod bis zu Nikita Chruschtschows Berlin-Ultimatum 1958 schließt an seine Überlegungen zu den Stalin-Noten an und besticht durch eine klare These: Die sowjetische Forderung nach einem System kollektiver Sicherheit in Europa zielte allein darauf, die von den USA dominierte NATO zu schwächen, der Sowjetunion die Dominanz in Europa zu sichern und die Abwehrbereitschaft des Westens zu zerstören. Auch wenn es galt, das „Mobilisierungspotential des ungelösten Deutschland-Problems“ auszunutzen (S. 155), musste die riskante Wiedervereinigungspropaganda allmählich in den Hintergrund treten.

Auch wenn sich Stalins kurzzeitiger Nachfolger Lawrenti Beria im Sommer 1953 mit seinen Deutschland-Plänen im Kreml durchgesetzt hätte, wäre es, so Wettig, im Ergebnis wohl kaum zu einer deutschen Vereinigung „auf freiheitlicher Grundlage“ (S. 6) gekommen. Denn Chruschtschow sei es um ein wiedervereintes Deutschland gegangen, dessen Staats- und Gesellschaftssystem dem der DDR zu gleichen gehabt hätte. Angesichts der fortschreitenden Westintegration der Bundesrepublik verfolgte der Kreml dann mit Nachdruck die Festigung der Zweistaatlichkeit. Dabei erschien ausgerechnet der Erste Sekretär des ZK der SED Walter Ulbricht zunehmend als „Garant der Stabilität“, der den Sowjets trotz seines politischen Versagens im Vorfeld und während des Volksaufstands in der DDR am 17. Juni 1953 weiterhin von großem Nutzen sein sollte. Ulbrichts planmäßiger „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ hatte die Existenz der DDR gefährdet. Nun stand der Welt vor Augen, dass die DDR ohne die fortgesetzte Präsenz der sowjetischen Truppen keine Zukunft hatte.

Begleitet von Bemühungen, das internationale Ansehen der DDR zu verbessern, wurde die Bundesrepublik Mitte der 1950er-Jahre zum bevorzugten Ziel sowjetischer Propagandaoffensiven. Nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Bonn im Jahre 1955 ging es Moskau vor allem um Kontakte zu den sozialdemokratischen und bürgerlichen Opponenten Konrad Adenauers – im Rahmen einer „Friedenskampagne“, die auf „moralische Eroberungen im Westen“ setzte (S. 9), die „Neutralisten“ stärkte und die USA aus Europa zu drängen suchte. So versprach man sich viel von der Kampagne „Kampf dem Atomtod“. Doch als sich die SPD und die Gewerkschaften im Mai 1958 der Sicherheitspolitik der Regierung in Bonn annäherten, waren die kommunistischen Kader nicht mehr in der Lage, im Sinne Moskaus tätig zu werden, denn sie vermochten, so Ulbricht, „selbständig nichts zu erreichen“ (S. 115). Hier hätte Wettig die Gelegenheit nutzen können, Möglichkeiten und Grenzen der sowjetischen Einflussnahme auf die westdeutsche Innenpolitik in jener Zeit etwas grundsätzlicher auszuleuchten.

Die sowjetische Propaganda bewegte sich auch außenpolitisch auf einem schmalen Grat. Bei der gescheiterten Außenministerkonferenz in Genf im Herbst 1955 wollte Außenminister Wjatscheslaw Molotow, zuvor konfrontiert mit dem Eden-Plan, dem Westen ursprünglich den Abzug aller Besatzungstruppen aus Deutschland anbieten, verbunden mit der Forderung, auf die Pariser Verträge und damit den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO zu verzichten. Freie Wahlen sollten den Weg zur deutschen Einheit weisen. Doch Chruschtschow schien das Risiko zu groß, dass der Westen auf diese „taktische Finte“ tatsächlich eingehen könnte, und das „Bluff-Angebot“ (S. 49) blieb aus.

Warum unternahm Chruschtschow nach dem Scheitern der Blockade zehn Jahre später mit dem Berlin-Ultimatum erneut einen hoch riskanten Versuch, West-Berlins Verbindungen mit der Bundesrepublik und dem Westen zu kappen? Nach dem sehr bescheidenen Erfolg aller Bemühungen, durch Einflussnahme auf die kritischen gesellschaftlichen Kräfte die Integration der Bundesrepublik in das westliche Verteidigungsbündnis zu verhindern, hatte der Kreml die Souveränität und Autorität der DDR zu stärken gesucht. Dazu gehörte es, West-Berlin, die Exklave im sowjetischen Machtbereich und zugleich Achillesferse des Westens, wirksam unter Druck zu setzen – mit Wettigs Worten: „Wenn das Zuckerbrot nicht wirke, müsse eben die Peitsche her.“ (S. 155)

Chruschtschow schien davon überzeugt, dass der Westen wegen der Lage in Berlin keinen Krieg riskieren würde. Seine Ambitionen skizziert Wettig wie folgt: „Wie er nach außen hin nicht erklärte, rechnete er gemäß seinem finalen Weltbild damit, dass sich die Einwohner der Freien Stadt früher oder später für den […] Sozialismus und damit für den Anschluss an die künftig prosperierende DDR entscheiden würden.“ (S. 157) Das „finale Weltbild“ belegt Wettig mit einem Verweis auf das im ungarischen Staatsarchiv aufgefundene Protokoll eines Gesprächs Chruschtschows mit dem amerikanischen Botschafter im Februar 1961.

Die zweite Berlin-Krise wurde erst mit dem Mauerbau beendet. Chruschtschows Ziel war es, die Westmächte aus Berlin zu vertreiben, die Rolle der NATO in Europa und ihren Zusammenhalt zu schwächen und die durch Massenflucht schwer getroffene DDR zu konsolidieren. Doch sein Kalkül ging nicht auf. Die Abschottung, zu der Ulbricht die Sowjets offenbar längere Zeit getrieben hatte, schuf schließlich eine Zementierung des Status quo, der bis zum welthistorischen Herbst 1989 unverrückbar schien.

Wettigs Beweisführung hinsichtlich der sowjetischen Absichten ist schlüssig. Seine Argumentation erfolgt kenntnisreich und ist sehr sorgfältig aus den Quellen gearbeitet. Aber vielleicht fehlt es etwas am „Grau“ bei der Deutung des erarbeiteten Archivmaterials vor allem aus dem russischen Außenministerium, dessen Stellenwert, wie der Autor eingangs einräumt, aufgrund der Umstände des Aktenzugangs nicht immer zweifelsfrei ermittelt werden kann. Gab es tatsächlich keine Stimmen in der Führung der KPdSU, die bereit waren, die DDR zugunsten einer nachhaltigen Entspannungspolitik in Europa zu opfern? Und hatten alle sowjetischen Offensiven prinzipiell „eher propagandistischen als diplomatischen Charakter“ (S. 33)?

Es könnte interessant sein, die Deutungen der russischen Wissenschaftlerin Faina Novik im Lichte von Gerhard Wettigs Ergebnissen zu diskutieren. Ursprünglich war eine gemeinsame Publikation im Rahmen der Veröffentlichungen der Gemeinsamen Kommission zur Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen vorgesehen, zu der es leider aus weder von Wettig noch von Novik zu verantwortenden Gründen nicht kommen konnte. Nun soll der Band in wenigen Jahren erscheinen.

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