J. Leonhard u.a. (Hrsg.): What Makes the Nobility Noble?

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Titel
What Makes the Nobility Noble?. Comparative Perspectives from the Sixteenth to the Twentieth Century


Herausgeber
Leonhard, Jörn; Wieland, Christian
Reihe
Schriftenreihe der FRIAS School of History 2
Erschienen
Göttingen 2011: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
396 S.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elizabeth Harding, Abt. 4: Forschungsplanung und Forschungsprojekte, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Was macht den Adel adlig? Dieser Frage widmet sich der Sammelband, der aus einer 2009 am Freiburg Institute for Advanced Studies veranstalteten Tagung hervorgegangen ist, und sucht sie mit Blick auf die spezifischen Handlungsweisen der so bezeichneten Gruppe(n) zu beantworten. Damit wird einem neuen Trend in der Adelshistoriographie gefolgt, demzufolge „Adel“ nicht als eine historisch unveränderliche, einigen wenigen privilegierten Personen innewohnende Disposition zu behandeln ist. Diese Wende verdanken wir nicht zuletzt der ertragreichen Forschung zur Geschichte der Aristokratie in nach-ständischer Zeit, die den Adel nicht mehr primär als einen qua Geburt ererbten oder durch Verdienst erworbenen Status, sondern als eine relevante, aber in höchstem Maße wandelbare Sozialform ins Zentrum gerückt hat. Indem sich die Forschung für die Mechanismen interessiert, mit denen Adligkeit generiert wurde, wird dabei zudem verstärkt der Blick auf die Frage gelenkt, wer und was zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten überhaupt als adlig galt.

Aktuellen Trends entspricht neben der gewählten Herangehensweise auch die Anlage des Bandes selbst: Im Anschluss an die in die Thematik einführende Einleitung der Herausgeber folgen drei Themenkomplexe („Recht“, „Politik“ und „Ästhetik“), die jeweils durch einen zusammenfassenden Kommentar beschlossen werden. Eine Gesamtwürdigung von Ronald G. Asch, der als Adelsexperte weitere Perspektiven aufzeigt, rundet den Band ab. An mehreren Stellen werden so Verbindungen zwischen den Beiträgen hergestellt und damit auf konstruktive Weise der häufig mangelnden Kohärenz von Sammelbänden begegnet. Die moderne Ausrichtung des Bandes zeigt sich schließlich auch in dem sichtlichen Bemühen der beteiligten Wissenschaftler/innen, etablierte Epochen- und Landesgrenzen zu überschreiten und sich – in rund der Hälfte der Fälle – durch die Wahl der englischen Sprache einem breiteren Rezipientenkreis zu öffnen.

In den einführenden Bemerkungen der Herausgeber wird zunächst das Forschungsprogramm erläutert. Vornehmliches Ziel des Bandes soll es demnach sein, in einer Langzeitperspektive nach der Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit des (früh-)neuzeitlichen Adels zu fragen. Die Herausgeber schlagen als methodischen Clou vor, diese am Beispiel des „adligen Eigensinns“ (bzw. „distinctiveness“) herauszuarbeiten – also an einem Konzept, das in letzter Zeit mehrfach im Zusammenhang mit der Adelsforschung diskutiert wurde. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die Grundannahme, dass die Aristokratie in ihrem Handeln zwar grundsätzlich auf das adlige Kollektiv ausgerichtet gewesen sei, dabei aber immer auch Autonomie beansprucht und sich gerade durch diese Zwiespältigkeit besondere Geltung verschafft habe. Aus einer Langzeitperspektive betrachtet könne die Beschäftigung mit dieser Ambiguität bzw. Ambivalenz zugleich dazu beitragen, ein traditionelles Forschungsnarrativ zu korrigieren, nämlich die Vorstellung, dass der Adel ein Verlierer der Moderne gewesen sei.

Nicht alle Beiträge lassen sich in gleicher Weise auf das von den Herausgebern skizzierte Programm ein. Einige Autoren interessieren sich (klassisch) sozial- oder verfassungsgeschichtlich für die Reaktionen unterschiedlicher Adelsgruppen auf gesellschaftliche Umbrüche, andere für die Praktiken adliger Standesdemonstration. Drei in den 15 Beiträgen wiederkehrende Leitmotive seien hier kurz angedeutet.

Ein Leitmotiv betrifft die Frage nach der Behauptungsfähigkeit des Adels im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen. Mehrere Autor/innen richten ihren Fokus auf adlige Gewalt (Fehde- und Duellwesen) und erhellen, wie der Adel sie in bestimmten Zusammenhängen gezielt einsetzte oder davon Abstand nahm, um trotz veränderter Großwetterlage seinen Vorrang zu verteidigen. Als ähnlich erfolgreich wird das Anpassungsvermögen des Adels nach 1800 gewertet. Peter Mandel etwa zeigt für die britische Adelselite, wie sie im 20. Jahrhundert als Hüterin der Gartenkunst neu in Erscheinung trat. Monika Wienfort untersucht Praktiken adliger Vergemeinschaftung (unter anderem Familienvereine) und differenziert die traditionelle Vorstellung, wonach die Grenzen des Adels in dieser Zeit durchlässiger geworden seien; zu ähnlichen Ergebnissen kommt am Beispiel der niederländischen Aristokratie auch Yme Kuiper. Die Grenzen adliger Anpassungsfähigkeit werden hingegen am Beispiel des frühneuzeitlichen Ständewesens in Robert Frosts Studie zur Geschichte des Sejms angesprochen.

Der Vergleich unterschiedlicher Adelslandschaften kann als zweites Leitmotiv betrachtet werden. Die in der Einleitung aufgeworfene Frage nach Gemeinsamkeiten greift Tatjana Tönsmeyer auf und untersucht, wie der englische und böhmische Landadel des 19. Jahrhunderts auf dörflicher Ebene in der Selbstverwaltung ähnliche Entfaltungsmöglichkeiten fanden. Andreas Pečar wagt den Versuch, die frühneuzeitliche Baukunst des Adels exemplarisch in unterschiedlichen Ländern zu vergleichen und kommt zu dem Schluss, dass trotz der erheblichen Rechts- und Standesunterschiede ein gemeinsames Merkmal aller architektonischen Darstellungsweisen die Betonung der familiären Anciennität und Autonomie gewesen sei – eine These, die durch die Lektüre des Beitrags von Hubertus Kohle zur französischen Portraitmalerei am Beispiel Gaspard de Gueidans an Plausibilität gewinnt.

Schließlich ist noch das (unscharfe) Konzept des adligen „Eigensinns“ (bzw. „distinctiveness“) zu erwähnen. Viele Autor/innen gehen primär auf die allgemeinen Verhaltensweisen und (ständischen) Begünstigungen des Adels ein. In einer knappen Darstellung vertritt Klaus Pietschmann die These, dass adliges Musizieren zur Identität des höfischen Adels gehört habe. Methodisch anspruchsvoller argumentiert Claudius Sittig, der sich mit der „eigensinnigen“ literarischen Praxis des höfischen Adels beschäftigt und dafür plädiert, adliges Schaffen nicht als ein „Leistungsdefizit“ zu bezeichnen, sondern nach Mechanismen der Kanonisierung zu fragen. André Krischer untersucht die Gerichtsverfahren im House of Lords, die den Angeklagten genügend Raum geboten hätten, um ihre Standesansprüche zu demonstrieren und so Anerkennung zu finden. Nicht alle Autor/innen operieren mit dem Begriff des Eigensinns; die gewählten Themen und Fragestellungen machen jedoch deutlich, dass sie sich letztlich für (nicht mehr und nicht weniger als) die Verhaltens- und Distinktionsweisen des Adels als (Standes-)Gemeinschaft interessieren. Eigensinn erscheint so allgemein als Synonym für „adlige Identität“ oder „Adligkeit“, wie man etwa in einem Kommentar von Daniel Schönpflug lesen kann. Auch Edoardo Costadura, der das Selbstbild zweier adliger Schriftsteller im 19. und 20. Jahrhunderts als Ausdruck einer sozialen Verunsicherung deutet, setzt Eigensinn mit dem „Ethos“ des Adels gleich.

Darüber hinaus findet sich jedoch in einigen Aufsätzen ein weiterer Zugang, der als adligen Eigensinn eher das Ungewöhnliche, Irritierende und von üblichen adligen Verhaltensmustern Abweichende zu fassen sucht. Ronald G. Asch spricht etwa in seinem Gesamtresümee von adligem Eigensinn als der Fähigkeit, einerseits allgemeine Umgangsformen beherrschen und andererseits dabei ein gewisses Maß an „don’t care a damn-man-ship“ demonstrieren zu können (S. 329). Eine empirische Umsetzung dieser Zugangsweise bildet die Studie von Jonathan Dewald zur sehr schillernden Biographie von Henri de Rohan (1579-1638), dessen Verhalten hinsichtlich seiner Konfessions-, Erinnerungs- und Herrschaftspolitik deutlich von jener der adligen Zeitgenossen abwich. Adliger Eigensinn steht hier für ein Verhalten, das bereits zeitgenössisch als adlig, aber zugleich auch als ungewöhnlich eingeschätzt wurde.

Was macht den Adel adlig, und welchen Beitrag leistet der vorliegende Band zur Beantwortung der von ihm gestellten Frage? Ein wichtiges Ergebnis ist, dass in der (Adels-)Forschung etablierte Zäsuren durch eine Langzeitbetrachtung in Frage gestellt werden können. Darüber hinaus eröffnet das Buch aus einem praxeologischen Blickwinkel viele unterschiedliche Perspektiven auf das adlige „Obenbleiben“. In der Gesamtschau wünscht man sich jedoch bisweilen ein stärkeres methodisches Problembewusstsein. Denn Studien, die ausklammern, wo zeitgenössisch die Grenze zwischen Adligkeit und Nicht-Adligkeit verlief, nehmen gewissermaßen bereits mit der Wahl des Gegenstands die Antwort darauf, was den Adel adlig macht, vorweg: Adlig macht dann letztlich alles, was man der gewählten Sozialformation (nachträglich) zuschreibt. Dieses methodische Problem wäre sicherlich eine intensivere Reflexion wert, und so bleibt zu hoffen, dass mit dem Buch und seinen vielen lesenswerten Beiträgen die Diskussion um die Frage, was den Adel adlig machte, einen weiteren Impuls erhält.