J. Hoffmann: Nordische Philologie an der Berliner Universität

Titel
Nordische Philologie an der Berliner Universität zwischen 1810 und 1945. Wissenschaft – Disziplin – Fach


Autor(en)
Hoffmann, Jutta
Reihe
Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte 12
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
VIII, 328 S.
Preis
€ 60,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marco Nase, Centre for Baltic and Eastern European Studies, Södertörns högskola

Die vorliegende Arbeit, eine von Wolfgang Höppner angeregte und nach dessen frühem Tod bei Bernd Henningsen abgeschlossene Dissertation, darf durchaus als Beitrag zu einem Selbstverortungsprozess verstanden werden, an dem sich die Nordistik besonders seit 1990 versucht. Ohne auf diesen Kontext einzugehen, aber sich dessen doch scheinbar bewusst, befasst sich Jutta Hoffmann mit der Entwicklung der Nordischen Philologie in Berlin, wo dieses Fach bereits früh institutionalisiert und auch mit hoher Konstanz vertreten war. Dabei wählt die Autorin neben einem sehr weit gespannten Zeitraum vom Beginn des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts auch eine spannende Perspektive, die die chronologische zugunsten einer thematischen Herangehensweise aufbricht. So widmet sie sich separat den Fragen nach der wissenschaftlichen Vorgehensweise, dem disziplinären Gegenstand und der fachlichen Institutionalisierung. Dass sie dabei die nicht zur Gänze üblichen Begriffe Arbeitsweise (Wissenschaft), Arbeitsgegenstand (Disziplin) und Arbeitsort (Fach) wählt, ist dem Verständnis dank ihrer Einführung, in der sie Fragestellung und Begriffe klar umreißt, nicht abträglich. Im Gegenteil räumt dieser Zugang dem wissenschaftlichen Gegenstand einen deutlich breiteren Platz ein und hebt sich damit wohltuend von biografischen oder institutionsgeschichtlichen Ansätzen ab.

Hoffmann kann im Folgenden drei Phasen in der Fachgeschichte der Berliner Nordistik ausmachen: Die Entwurfsphase, die sie am Beginn des 19. Jahrhunderts verortet, ist dabei geprägt von den frühen Tendenzen einer wissenschaftlichen Ausdifferenzierung. Diese hatte ihren Ursprung in einer aufgeklärt-romantischen Tradition, in der weniger der spezialisierte Fachwissenschaftler als der breit gebildete Universalgelehrte das Bild bestimmte, der sein Publikum stärker in einer breiten Öffentlichkeit sah als in seinem akademischen Kollegen. So beginnt Hoffmann ihre Darstellung mit August Wilhelm Schlegels philosophischer Annäherung an die nordische Geschichte und Literatur als Startpunkt einer Entwicklung, die sich von einem eher zufälligen Interesse an nordischen Themen und einer weitgehend freien und wandelbaren Auswahl von Zugang und Material hin zu einer stärkeren Verbindlichkeit und Verfachlichung bewegte. So konnten in dieser Anfangsphase neben Schlegels Zugriff eben auch ein eher pragmatischer Ansatz eines Friedrich Rühs oder ein ästhetisierender eines Friedrich Heinrich von der Hagen als plausibel gelten, während gleichzeitig die Materialauswahl noch sehr unbestimmt war. Gleichzeitig legte diese Phase die Basis für einen späteren, fokussierteren Zugriff. Denn einerseits wurde der nordistische Gegenstand durch diese noch sehr breit angelegten Studien und Übersetzungen bereitgestellt und als Objekt einer wissenschaftlichen Beschäftigung plausibel gemacht, andererseits schälten sich mit der nordischen Geschichte und Mythologie auch bereits zwei Themenfelder heraus, die als Zugänge und Auswahlkriterien den späteren Umgang mit dem Thema bestimmten.

Von einer echten nordischen Philologie lässt sich erst in der zweiten von Jutta Hoffmann herausgestellten Phase reden, die sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts verortet. Mit den Philologen Karl Lachmann und Karl Müllenhoff gewann die Nordistik als Fach erste Konturen innerhalb einer sich herausbildenden Germanistik, die ihren Weg zu einer eigenständigen philologischen Methodologie fand. So lösten historisch-kritische Spezialstudien zu den sprachlichen, literarischen und zeitlich-räumlichen Bedingungen der nordischen Literatur die umfassenden Gesamtschauen ab. Im Vordergrund stand nun nicht mehr eine zeitlich entrückte Weltgeschichte, sondern eine diachrone Literaturgeschichte. Entsprechend schärfte sich auch der Fokus, als immer mehr altisländische und altnorwegische Texte den Korpus der Nordistik bildeten, allen voran die „Edda“, an der als Schlüsseltext die zentralen Sachbereiche und Methoden der nordischen Philologie entwickelt und eingeübt wurden. In enger Anlehnung an die Germanistik als Über- und Referenzdisziplin entwickelte sich die Nordistik besonders unter Karl Lachmann von einem optionalen Interessengebiet zu einem planmäßigen und verbindlichen philologischen Forschungszweig.

Auf die Etablierung des Gegenstandes folgte ein deutlicher Ausbau am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der vor allem mit der Person Julius Hofforys verbunden ist. Sein Versuch, neben den traditionellen philologischen auch naturwissenschaftliche Hilfsmittel und Erkenntniswege in die Forschung einzubringen, öffnete den Blick auch auf die Gegenwartssprachen und -literaturen des Nordens. Mit Hoffory begann in Berlin die fachliche Einrichtung einer eigenständigen Nordistik, als ihm 1883 eine Privatdozentur für Nordische Sprachen und Phonetik eingeräumt wurde, die in den folgenden Jahrzehnten schrittweise zu einer ordentlichen und planmäßigen Professur ausgebaut wurde, ohne dabei jedoch ihre Anbindung an die Germanistik zu verlieren. Diese fachliche Konstanz wurde noch verstärkt durch die Sprachlektorate, die ab Anfang des 20. Jahrhunderts zuerst für das Gesamtnordische, ab den 1920er-Jahren dann auch für die Einzelsprachen eingerichtet wurden. Jutta Hoffmann weist zurecht auf den großen Gestaltungsspielraum dieser Personengruppe hin, die häufig auch als Stellvertreter der Professoren fungierten, und in anderen Studien leider viel zu häufig unter den Tisch fallen.1

Mit dem Jahr 1945 als Ende des gewählten Untersuchungszeitraums stellte sich für die Nordistik durch ihre Bedeutung für die nationalsozialistische Ideologie eine Sinnfrage, war sie doch durch ihre angepasste Haltung, die die Autorin als „zwiespältiges Funktionieren“ (S. 196) bezeichnet, schwer in ihrer Legitimität getroffen. Jutta Hoffmann macht den daraus gefolgerten Rückzug der Nordistik auf eine politisch neutralisierte, „reine“ Philologie plausibel, der für die westdeutsche Nordistik bis heute nachwirkt, wenngleich man sich wundern darf, ob hier nicht viele Fragen des Zusammenspiels zwischen Wissenschaft und politischem System durch den streng disziplinären Ansatz unbeachtet bleiben. Hier wäre etwa zu fragen, ob das methodische Versagen der Nordistik nicht viel eher in einer starken Essentialisierung des Untersuchungsgegenstandes und in der Hereinnahme wissenschaftsexterner Interessen begründet lag, die Selbstbeschränkung auf die Philologie mithin also das Kind mit dem Bade ausschüttet.2 Die Antwort auf diese Frage hätte für den Selbstverortungsprozess der Nordistik, zu dem auch Diskussionen über eine stärker regionalwissenschaftliche Ausrichtung gehören, eine hohe Bedeutung.

Alles in allem hat Jutta Hoffmann mit ihrer Dissertation jedoch eine kenntnisreiche und gut dokumentierte Studie vorgelegt, der dringend andere folgen sollten, um zu ergründen, inwieweit ihre scharfen Beobachtungen auch auf andere nordistische Zentren übertragbar sind.

Anmerkungen:
1 Auf dieses Desiderat verweist auch Andreas Åkerlund, Mellan akademi och kulturpolitik. Lektorat i svenska språket vid tyska universitet 1906-1945 (= Studia Historica Uppsaliensis 240), Uppsala 2010, dessen umfangreiche Studie nicht mehr in die Arbeit Hoffmanns einfließen konnte.
2 Hier wäre auch auf das sogenannte „Greifswalder Modell“ zu verweisen. Dass eine zu ihrem eigenen Nachteil politisierte Regionalwissenschaft auch in einem demokratischen Kontext möglich ist, zeigt etwa David C. Engerman, Know your Enemy. The Rise and Fall of America’s Soviet Experts, Oxford 2009.

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