Geschichtswissenschaft und Germanistik in Hamburg

Nicolaysen, Rainer; Schildt, Axel (Hrsg.): 100 Jahre Geschichtswissenschaft in Hamburg. . Berlin 2010 : Dietrich Reimer Verlag, ISBN 978-3-496028383 341 S. € 49,00

Richter, Myriam; Nottscheid, Mirko (Hrsg.): 100 Jahre Germanistik in Hamburg. Traditionen und Perspektiven. Berlin 2011 : Dietrich Reimer Verlag, ISBN 978-3496028376 485 S. € 49,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Levke Harders, Abteilung Geschichte, Universität Bielefeld

Im Dezember 2010 feierte die Universität Hamburg das hundertjährige Bestehen der Fächer Geschichte und Germanistik. Nach den weiterhin einschlägigen Bänden über die Hamburger Universität während des Nationalsozialismus, die vor über 20 Jahren erschienen sind 1, stellen die beiden nun vorgelegten Anthologien die Fachgeschichte der Germanistik und der Geschichtswissenschaft als longue durée vom ausgehenden 19. bis in das frühe 21. Jahrhundert dar. In der Hansestadt boten noch vor der Universitätsgründung 1919 unterschiedliche Bildungs- und Forschungseinrichtungen ein so genanntes Allgemeines Vorlesungswesen an. 1907 wurde das Historische Seminar, drei Jahre später das Deutsche Seminar gegründet. Beide Sammelbände widmen sich den institutionellen Entwicklungen und inhaltlichen Veränderungen in den Fächern; ebenso porträtieren sie bedeutende Hamburger Gelehrte.

Die einführenden zwei Beiträge des Bandes „100 Jahre Germanistik in Hamburg“ von Rainer Nicolaysen und Myriam Richter skizzieren kenntnis- und quellenreich das wissenschaftliche Feld in Hamburg. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Interessen der Stadt entwickelten sich spezifische Forschungs- und Lehrschwerpunkte, die 1919 in die erste demokratische Universitätsgründung Deutschlands mündeten. Doch trotz der vielen liberalen Intellektuellen, die die Einrichtung zunächst prägten, setzten sich vermehrt antirepublikanische Tendenzen durch, sodass 1933 die nationalsozialistische Hochschulpolitik von vielen Lehrenden und Studierenden begrüßt wurde. Nach dem politischen Umbau, der Verfolgung und Vertreibung von Universitätsangehörigen folgten während des Zweiten Weltkriegs Einschränkungen des Lehr- und Forschungsbetriebs. Die Universität wurde am 3. Mai 1945 geschlossen, in Zusammenarbeit mit den britischen Besatzungsbehörden konnte der Lehrbetrieb gleichwohl noch im selben Jahr wieder aufgenommen werden; ein Großteil der zunächst suspendierten Professoren kehrte in den Folgejahren an ihre Institute zurück. Der Ausbau des bundesrepublikanischen Bildungswesens machte die Universität Hamburg in den 1970er-Jahren zu einer „Reformuniversität“, so Nicolaysen (S. 32).

Der umfangreiche Band zur Geschichte der Germanistik wurde durch eine zweisemestrige Ringvorlesung vorbereitet, die Myriam Richter, Mirko Nottscheid und Hans-Harald Müller realisiert haben; alle trugen in den letzten Jahren zur Erforschung der (Hamburger) Germanistik und ihres sozial-kulturellen Umfeldes maßgeblich bei.2 Im vorliegenden Band werden chronologisch institutionelle wie inhaltliche Veränderungen anhand von zentralen Akteurinnen und Akteuren geschildert. Die Hamburger Schwerpunktsetzung auf das Niederdeutsche und die Institutionalisierung des Faches nimmt Ingrid Schröder in ihrem Beitrag über Conrad Borchling, den ersten Ordinarius des Deutschen Seminars, in den Blick. Seine Arbeit wurde fortgesetzt und ausgebaut von Agathe Lasch, der ersten Germanistikprofessorin Deutschlands, deren berufliche Laufbahn Christine M. Kaiser nachvollzieht. Seiner 1942 ermordeten Mentorin folgte 1934 der Nationalsozialist Hans Teske nach, der die Mundartforschung völkisch-national ausrichtete (Myriam Richter).

Den Ausbau zur neueren deutschen Literaturwissenschaft und -geschichte, der die Germanistik in den 1920er- und 1930er-Jahren kennzeichnete, wird am Beispiel der Hamburger Fachvertreter ausführlich diskutiert. Hans-Harald Müller informiert über Robert Petsch, der die neuere Literatur- und eine frühe Medienwissenschaft vertrat, sowie über das freistudentische Engagement des (sozialdemokratischen) Walter A. Berendsohn. Anhand von Heinrich-Meyer Benfey, der allgemeine Literaturwissenschaft unterrichtete, und Paul T. Hoffmann, der die Hamburger Theatersammlung gründete, erörtern Dirk Hempel und Michaela Giesing die ökonomisch wie akademisch problematische Situation von Nicht-Ordinarien. In der Nachkriegszeit richteten Ulrich Pretzel und Hans Pyritz als Repräsentanten der „Berliner Schule“ die Hamburger Germanistik philologisch aus. Myriam Richter und Mirko Nottscheid analysieren die personellen, methodischen und inhaltlichen Kontinuitäten, mit denen Pretzel und Pyritz das Literaturwissenschaftliche wie das Germanische Seminar in der Hansestadt programmatisch umgestalteten.

Neben diesen biografischen Porträts gehen mehrere Beiträge auf zentrale Perioden der fachlichen Entwicklung ein: Myriam Richter und Hans-Harald Müller widmen sich der NS-Zeit, Anton F. Guhl der Entnazifizierung und Jörg Schönert den Veränderungen der vergangenen vier Jahrzehnte. Mirko Nottscheid geht erstmals auf die Situation von Lektorinnen und Lektoren ein, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen Sprachunterricht erteilten. Entsprechend der Hamburger Schwerpunktsetzung unterrichteten sie neben skandinavischen Sprachen und Niederdeutsch beispielsweise Vortragskunst, Afrikaans und Friesisch, denn „[d]er rasante Institutionalisierungsprozess der Germanistik […] führte an den Universitäten bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer Ausdifferenzierung von Lehr- und Forschungsaufgaben, die von den eigentlichen Fachvertretern kaum mehr zu bewältigen waren“ (S. 331). Zu erwähnen sind ferner die thematisch ausgerichteten Artikel über die Hamburger Goetheforschung von Bernd Hamacher, über die Editionswissenschaft von Rüdiger Nutt-Kofoth sowie über die „Deutsche Gesellschaft“ in Hamburg von Mirko Nottscheid und Myriam Richter.

2007 feierte die Hamburger Geschichtswissenschaft ihr hundertjähriges Bestehen mit verschiedenen Veranstaltungen 3, unter anderem mit dem Festvortrag von Volker Berghahn, der den Band „100 Jahre Geschichtswissenschaft in Hamburg“ mit einem Überblick über „das erste Jahrhundert“ eröffnet (S. 15ff.). Ähnlich wie die Germanistik im 19. Jahrhundert übernahm die Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert eine wichtige Funktion in Diskursen um die deutsche Nation. Das Hamburger Seminar zeichnete sich von Beginn an durch spezifische, mit der Geschichte der Stadt und der Universität verbundene Orientierungen aus.

Nach einem Exkurs über eine Intellectual History der Geschichtswissenschaft von Gangolf Hübinger schildert Franklin Kopitzsch den Beginn historischer Forschung und Lehre im Hamburg des 19. Jahrhunderts sowie deren Institutionalisierung nach der Jahrhundertwende. Als Professoren wurden 1907 Erich Marcks, ein Jahr später Adalbert Wahl berufen, anschließend Max Lenz und Friedrich Keutgen sowie 1914 Richard Salomon. Mit Letzterem wurde am Hamburger Kolonialinstitut die osteuropäische Geschichte begründet, woraus 1919 das osteuropäische Seminar der Universität entstand. Die 1930er- und 1940er-Jahre waren im Hamburger Seminar personell unruhig, da Lehrende emeritiert und – aus ganz unterschiedlichen Gründen – entlassen wurden, Nachwuchs im Krieg verstarb, Vertretungsprofessoren und neue (Extra-)Ordinarien kamen (siehe das übersichtliche Schema auf S. 158). Entsprechend umfangreich ist das überlieferte Material zur Berufungspraxis dieser Zeit, die Hans-Werner Goetz umfassend diskutiert. Die völkisch-nationale Ausrichtung der Hamburger Geschichtswissenschaft wurde forciert von Adolf Rein, der seine „Idee der politischen Universität“ als Rektor zu realisieren versuchte. Arnt Goede weist in seinem Beitrag nach, dass Rein trotz seiner nationalsozialistischen Überzeugungen in der Nachkriegszeit als Wissenschaftsorganisator über seine Netzwerke, unter anderem im Rahmen der Evangelischen Akademien, weitreichenden Einfluss ausüben konnte.

Neben diesen chronologischen Beiträgen widmen sich verschiedene Aufsätze fachlichen Schwerpunkten der Hamburger Geschichtswissenschaft. Während Frank Golczewski die Entwicklung der Osteuropaforschung bis heute beschreibt, geht Arno Herzig gesondert auf die Ostforschung (vor und) nach dem Zweiten Weltkrieg ein, in Hamburg unter anderen vertreten durch Hermann Aubin und seinen Assistenten Gotthold Rhode. Eine Hamburger Besonderheit war die außereuropäische Geschichte, deren Entwicklung Andreas Eckert beschreibt: von der völkischen Kolonialgeschichtsschreibung, vertreten durch Adolf Rein, über die Überseegeschichte der Nachkriegszeit, wie sie Egmont Zechlin popularisierte, bis hin zum Ausbau der Regionalwissenschaften in den 1970er-Jahren. Darüber hinaus gibt es in Hamburg seit Langem kirchenhistorische Forschungen, wie Rainer Hering darlegt. Stefanie Schüler-Springorum analysiert kenntnisreich den mühsamen Ausbau deutsch-jüdischer Historiografie in Hamburg, der in der Nachkriegszeit mit den Gründungen des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden und der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus seinen Ausgang nahm, wobei die Konkurrenz beider Einrichtung eine engere Zusammenarbeit lange Zeit erschwerte. Letztere Institution (heute: Forschungsstelle für Zeitgeschichte) hat zum „Aufstieg der Zeitgeschichte zur geschichtswissenschaftlichen Teildisziplin“ beigetragen, so Axel Schildt in seinem Beitrag (S. 271). Zeithistorische Forschung und Lehre in- und außerhalb der Universität wirkte unter anderem durch ihre Verknüpfung mit Lokal- und Regionalgeschichte innovativ auf die Fachentwicklung.

Rainer Nicolaysen gelingt mit seiner auf dem Nachlass beruhenden Darstellung von Fritz Fischers beruflicher Laufbahn und den kontrovers diskutierten Thesen seines 1961 publizierten Buches „Griff nach der Weltmacht“ eine facettenreiche Verknüpfung von biografischen Faktoren, von akademischen Netzwerken sowie von lokalen und nationalen Diskursen, die Fischer zu einem „Rebell wider Willen“ machten (S. 197ff.). Abschließend untersucht Barbara Vogel den Aus- und Umbau der Geschichtswissenschaft seit den 1970er-Jahren, wobei sie die wichtige Rolle des so genannten akademischen Mittelbaus für die Studienreformen, die Veränderung der Lehre und für inhaltliche und personelle Erweiterungen betont.

Wie ein Großteil disziplin- und universitätshistorischer Forschungen konzentrieren sich beide Sammelbände auf institutionelle und konzeptionelle Entwicklungen, verkörpert durch die Fachvertreterinnen und -vertreter vor Ort. Dieser analytische Zugriff geht mit bestimmten Exklusionen einher: Erstens finden Studierende selten Erwähnung, das heißt die große Zahl derjenigen, die in den letzten 100 Jahren ihr erworbenes Wissen über Sprache, Literatur und Geschichte in Schulen, Verlagen, Kultur- und Forschungseinrichtungen weitergegeben haben. Im Band zur Geschichtswissenschaft findet zweitens das Lehrpersonal, das nicht über (Extra-)Ordinariate verfügte, kaum Beachtung; insbesondere Historikerinnen scheint es in Hamburg bis in die zweite Jahrhunderthälfte nicht gegeben zu haben. Drittens werden der sozio-politische Kontext sowie die Bedeutung gesellschaftlicher Debatten für disziplinäre Veränderungen zumeist nur angerissen. Trotz dieser Lücken klassischer Disziplingeschichtsschreibung zeichnen sich die vorliegenden Aufsätze sowohl durch spannende neue Perspektiven und Quellenfunde als auch durch ihren Blick auf das Umfeld der Fächer aus. Vor allem die Aufsätze, die sich mit den Entwicklungen nach 1945 beschäftigen, betreten ‚disziplinhistorisches Neuland‘, da sich bisher die Historiografie beider Fächer vornehmlich den Epochen vor 1945 widmete. Für beide Bände sind die inhaltliche Stringenz, der hilfreiche Namensindex (für die Germanistik sogar mit kurzen biografischen Angaben) und nicht zuletzt das vorzügliche Lektorat besonders hervorzuheben.

Anmerkungen:
1 Eckart Krause / Ludwig Huber / Holger Fischer (Hrsg.), Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933-1945, 3 Bände, Hamburg, Berlin 1991.
2 Siehe dazu u.a.: <http://www.hans-harald-mueller.de/mitarbeiter.html#> (12.04.2012).
3 Siehe dazu Claudia Schnurmann (Hrsg.), Clio in Hamburg. Historisches Seminar. Universität Hamburg 1907-2007, Berlin 2010.

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