B. Greiner u.a. (Hrsg.): Macht und Geist im Kalten Krieg

Cover
Titel
Macht und Geist im Kalten Krieg.


Herausgeber
Greiner, Bernd; Müller, Tim B.; Weber, Claudia
Reihe
Studien zum Kalten Krieg 5
Erschienen
Anzahl Seiten
544 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Deuerlein, SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Wie bereits seine Vorgänger zu „Heißen Kriegen“, „Krisen“, „Angst“ und „Ökonomie“ im Kalten Krieg basiert auch der fünfte Band der Reihe „Studien zum Kalten Krieg“ auf einer am Hamburger Institut für Sozialforschung veranstalteten Tagung.1 Unter dem Titel „Macht und Geist“ wenden sich die Autoren (bis auf eine Autorin sind es ausschließlich Männer) dem Verhältnis von Politik und Wissenschaft zu; sie leisten damit einen Beitrag zur Ideengeschichte des Kalten Kriegs. Neben Arbeiten zur gut untersuchten amerikanischen Forschungs- und Beraterlandschaft wurden bewusst auch solche zur sowjetischen Seite aufgenommen. Der asymmetrische Forschungsstand bildet sich jedoch auch in diesem Band ab.

Die Aufsätze zu den Vereinigten Staaten behandeln teilweise schon „klassische“ Themen wie nuklearstrategische Debatten (Ron Robin), die RAND Corporation (Philip Rocco), amerikanische Propaganda (Kenneth Osgood) und die UNESCO (Perrin Selcer). Sie zeigen, dass sich die mentalen und institutionellen Wurzeln der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik in die Zeit des New Deal und des Zweiten Weltkriegs zurückverfolgen lassen (Rebecca Lowen, David C. Engerman). Dabei bestätigen die Aufsätze die von Bernd Greiner vorangestellte These, dass dieses Verhältnis komplexer war als lange angenommen. Es kam nicht allein zu einer „Militarisierung“ und „Politisierung“, sondern vielfach zur „Selbstmobilisierung“ akademischer und gesellschaftlicher Akteure. Für zahlreiche Wissenschaftler war der Beginn des Kalten Kriegs der „Beginn wunderbarer Zeiten“ (Lowen, S. 39).

In der UdSSR konnte nach Stalins Tod wieder der wissenschaftliche Austausch mit dem Westen gesucht werden (Peter C. Caldwell, Alexei Kojewnikow). Wladislaw M. Subok behandelt mit den sowjetischen Westexperten eine Gruppe, die durch die „Wiederbelebung der Expertenkultur“ (S. 116) in den 1960er-Jahren an Bedeutung gewann. Durch ihre Kenntnisse und Kontakte ins Ausland spielten diese Akteure später bei Gorbačevs Reformen eine wichtige Rolle. Auch für Dissidenten und Künstler gab es seit der Chruščev-Ära die Möglichkeit, von der zunehmenden internationalen Einbindung der Sowjetunion zu profitieren. Die sowjetische Intelligenzija besaß oft ein großes „Bewusstsein für die potentielle Nützlichkeit des internationalen Kontextes“ (Stephen V. Bittner, S. 522) und richtete ihre Botschaften an die westliche Öffentlichkeit, um deren Reaktion als politisches Instrument im Inland zu nutzen.

25 Beiträge mit verschiedensten Themen und Perspektiven für einen Sammelband zu ordnen ist eine Herausforderung. Die Herausgeber haben dankenswerterweise thematisch statt chronologisch oder geographisch gegliedert. Die Struktur des Bandes kann jedoch nicht völlig überzeugen. Die von Doug Rossinow untersuchten „rechten Dissidenten“ in den USA beispielsweise forderten eher eine Ausweitung des Kalten Kriegs und wirken damit im Kapitel „Wege aus der Gefahr?“ etwas deplatziert.

Zwischen einzelnen Beiträgen gibt es zudem Verbindungen, die quer zur Kapiteleinteilung verlaufen: Michael A. Bernstein behandelt den Ursprung der Spieltheorie in den amerikanischen Wirtschaftswissenschaften. Paul Erickson stellt dar, dass es sich dabei eher um einen gemeinsamen Rahmen für den intellektuellen Austausch handelte, weniger um ein Konzept mit festen Kriterien. Die Spieltheorie konnte nicht nur von Nuklearstrategen genutzt werden, sondern auch von Vertretern der „Friedenswissenschaft“. Michael D. Gordin untersucht Charles E. Osgoods Konzept „GRIT“ („Graduated and Reciprocated Initiatives in Tension Reduction“), das die Rüstungsspirale durch unilaterale Versöhnungsschritte in eine „Spirale des Vertrauens“ (S. 502) verwandeln sollte. Der Psychologe Osgood hatte Zweifel am Rationalitätsverständnis seiner Kollegen und wollte Emotionen stärker berücksichtigen. Nichtsdestotrotz wurde sein Konzept experimentellen Tests anhand des empirischen Standards der Zeit unterzogen: dem aus der Spieltheorie entwickelten Gefangenendilemma.

„Rationalität“ kristallisiert sich damit als ein Grundbegriff der Ideengeschichte des Kalten Kriegs heraus. Bemühungen um die Rationalisierung des eigentlich „Undenkbaren“ und Versuche, durch mathematische Formeln soziale Zusammenhänge zu „objektivieren“, sollten Sicherheit und Berechenbarkeit suggerieren. Holger Nehring historisiert die westdeutsche Friedensforschung der 1970er- und 1980er-Jahre; er zeigt, dass ihre Vertreter trotz Kritik an der „technokratischen Rationalität“ der Nuklearstrategen mit ihren Bemühungen um die „Rationalisierung des Friedens“ weiter in die Denksysteme des Kalten Kriegs und das Paradigma der „Verwissenschaftlichung des Politischen“ eingebunden waren. Auch Verbindungen über die Blockgrenzen hinweg fallen ins Auge: Andreas Wirschings Beitrag zur Bildungsdebatte verdeutlicht, wie stark beide Seiten in den 1960er-Jahren ihre Hoffnungen auf Technologien setzten, die bessere Lebensumstände und eine politisch-gesellschaftliche Annäherung versprachen.

Die Beiträge von Mario Keßler (zur Futurologie Ossip K. Flechtheims) und Slawa Gerowitsch verweisen auf ein anderes blockübergreifendes Phänomen: die Kybernetik. Von sowjetischen Experten als Mittel umfassender Reformen imaginiert, wurde sie von Bürokraten eher gefürchtet, weil sie deren Misswirtschaft offenzulegen drohte. Ihnen erschienen Computer wie ein Wundermittel zur Effizienzsteigerung ohne Reformen. Da sie gleichzeitig jede Vernetzung verhinderten, führte der Anstieg der Datenmenge jedoch eher zur Verstopfung sowjetischer Entscheidungswege. Diese erfolglosen Bemühungen trugen wiederum zur beschleunigten Entwicklung in den USA bei; denn der Kalte Krieg war auch ein „Wettlauf um die bessere Informationsstruktur“ (S. 395). Dort verbanden sich mit Technologie und besonders Kybernetik für eine kurze Zeit zugleich Hoffnungen auf größere Freiheit und Selbstbestimmung (Fred Turner).

Hier wird eine Schwäche des Bandes deutlich: Die meisten Beiträge lassen offen, ob es sich um zufällige Ähnlichkeiten handelt oder um die Folgen bewusster Rezeptionsprozesse. Interaktion und Verflechtung zwischen Ost und West (oder gar Nord und Süd) werden selten thematisiert. Nur drei Aufsätze (Wirsching, Nehring, Kessler) befassen sich mit europäischen Experten; Akteure der „Dritten Welt“ tauchen meist nur als Objekte von Forschungen und Modernisierungsbestrebungen auf, chinesische überhaupt nicht. Zu einem umfassenden Verständnis der „Dynamik transnationaler Wissensverflechtung“ (Greiner, S. 14) und einer wirklich globalen Geschichte intellektueller Netzwerke ist die Forschung leider noch nicht gelangt.

Dabei lässt sich beobachten, dass sich schon europäische Perspektiven auf Wissenschaft deutlich von amerikanischen unterschieden.2 Gleichzeitig waren Interaktionsmuster komplex und vielfältig: John Krige zeigt, dass Wissen nicht nur eine indirekte Machtressource war, sondern auch ein „global einsetzbares Instrument“, mit dem die Vereinigten Staaten ‚Hegemonie durch Kooperation‘ ausüben und „die wissenschaftlichen und technologischen Praktiken, Institutionen und Werte anderer Länder prägen konnten“ (S. 70). Sönke Kunkel hält dagegen, dass im Falle Nigerias lokale Erwartungen und Voraussetzungen zu einer „verhandelten Moderne“ führten (S. 355; ähnlich Constantin Katsakioris zur sowjetischen Bildungsförderung für afrikanische und asiatische Länder). Allerdings bleibt der Konflikt bei Kunkel weiter recht einseitig. Dass die „romance of economic development“3 stark auf das sowjetische Vorbild ausgerichtet war, wird nicht erwähnt. Dabei war dieser Konflikt um die „Seele der Menschheit“4 nicht nur eine zentrale Motivation der Supermächte, sondern auch ein Faktor, der Akteuren der „Dritten Welt“ ihre spezifische „Macht der Schwachen“ verlieh.5

Positiv stechen jene Beiträge hervor, die eine Verflechtung von Wissensproduktion nicht nur mit der Politik, sondern auch mit den Zeitumständen betonen. Hunter Heyck bettet die Modernisierungstheorie in den Kontext des sozialwissenschaftlichen Denkens über Moderne und sozialen Wandel ein. Die Umsetzung dieses Schlüsselkonzepts untersucht Moritz Feichtinger: Counterinsurgency und Umsiedlungskampagnen waren nicht nur Strategien der Kriegsführung, sondern auch „Laboratorien der Modernisierung und des social engineering“ (S. 371). Rüdiger Grafs Beitrag zum „Petroknowledge“ behandelt mit den 1970er-Jahren eine von Strukturwandel, Energiekrise und Dekolonisierung geprägte Phase. Westliche Experten definierten bei ihren Versuchen, die wahrgenommenen Transformationen begrifflich zu fassen, auch „Macht“ und „Sicherheit“ neu. Als „Nord-Süd-Konflikt“ verstandene Ressourcenprobleme hielten sie zunehmend für wichtiger als den Konflikt mit der Sowjetunion.

Insgesamt ist auch der fünfte Band der „Studien zum Kalten Krieg“ wieder ein lesenswertes Buch geworden, das Material für die Lehre, Detailstudien zu einzelnen Themen und Anregungen für die weitere Forschung bietet. Neben einer Ausweitung des Blicks auf Interaktionen, Aneignungen und Verflechtungen sollten Unterschiede einzelner Disziplinen und Zeiträume künftig trennschärfer berücksichtigt werden. Dann würde der bisher noch recht verschwommene kausale Zusammenhang zwischen Ideen und konkreter Politik etwas deutlicher werden. Fiel die „Bilanz der praktischen Anwendung von Wissen“ tatsächlich „verheerend“ aus (Greiner, S. 22), oder war die Wirkung von Experten nicht eher indirekt? Denn ihre Konzepte prägten das Denken von Politikern und Öffentlichkeit in einer Weise, die zum Teil bis heute fortwirkt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Claudia Kemper, Tagungsbericht: Intellectual History of the Cold War. 7. Konferenz der Tagungsreihe: Between "Total War" and „Small Wars“: Studies in the Societal History of the Cold War. 31.08.2010-03.09.2010, Hamburg, in: H-Soz-u-Kult, 28.10.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3332> (17.3.2012).
2 Siehe dazu jüngst etwa Christian Kehrt, Tagungsbericht: Science and Politics at War. New Relations in the Postwar Era. 13.12.2011-14.12.2011, Aarhus, in: H-Soz-u-Kult, 10.02.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4050> (17.3.2012).
3 David C. Engerman, The Romance of Economic Development and New Histories of the Cold War, in: Diplomatic History 28 (2004), S. 23-54.
4 Melvyn P. Leffler, For the Soul of Mankind. The United States, the Soviet Union, and the Cold War, New York 2007.
5 Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Dierk Walter (Hrsg.), Heiße Kriege im Kalten Krieg, Hamburg 2006.