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Titel
Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg - Mythos und Wahrheit


Autor(en)
Weber, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
585 Seiten
Preis
€ 24,99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Wencke Meteling, Seminar für Neuere Geschichte, Philipps-Universität Marburg

1932, als Adolf Hitler seine mythische Selbstdarstellung als Frontsoldat des Ersten Weltkrieges vor Gericht ausfocht, schrieb ihm ein ehemaliger Kamerad vom Regimentsstab des List-Regiments einen Brief: „Nun es ist einmal Ansicht sämtlicher Grabensoldaten, dass die vom Regimentsstab schon zu den Etappenschweinen gehören.“ (S. 144.) Damit gab er der Kritik anderer Soldaten an Hitlers Selbstinszenierung Recht. „Adolf wir können es nicht aus der Welt schaffen, dass wir eben Regimentsstabler waren.“ (Ebd.) Aus nahe liegenden Gründen ließen die Propagandastrategen in der NSDAP diesen Brief in den Untiefen des Parteiarchivs verschwinden. Mit großer Akribie hat Thomas Weber von der Universität Aberdeen neue Dokumente wie diese zu Hitler und dem List-Regiment im und nach dem Ersten Weltkrieg aufgespürt, um Hitlers Kriegsmythos zu widerlegen und ihn als das zu entlarven, was er war: ein Regimentsmeldegänger, der unter vorteilhaften Bedingungen Dienst hinter den vorderen Linien verrichtete und den Offizieren vom Regimentsstab näher stand als den Frontsoldaten.1 Seinen guten Beziehungen zu den Offizieren, nicht seinen Leistungen an der Front, hatte Hitler auch seine beiden Auszeichnungen zu verdanken.

Zwischen Hitlers Kriegsdienst als Regimentsordonnanz und den Fronterfahrungen der Infanteristen lagen Welten, und es ist das Verdienst der Studie, diesen Erfahrungskontrast offen zu legen (S. 126-145), die Spannungen zwischen ,vorn‘ und ,hinten‘ herauszuarbeiten und die von Hitler und der NS-Propaganda geschaffenen zählebigen Annahmen über sein Frontsoldatentum und das List-Regiment zu korrigieren. Die 300-seitige Rekonstruktion des Kriegseinsatzes des Königlich Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 16 (R.I.R. 16) ist packend geschrieben und ein lesenswerter Beitrag zur Erfahrungsgeschichte eines bayerischen Regiments an der Westfront. Auf der Grundlage von Regimentsakten, Akten der Militärgerichtsbarkeit und Selbstzeugnissen analysiert Weber die personelle Zusammensetzung des List-Regiments, das Zusammen- und Gegeneinanderwirken seiner Teileinheiten, die Beziehungen zwischen den Rängen und zu den Gegnern, erörtert Reichweite und Grenzen der Kameradschaft und zeichnet den dramatischen Stimmungsverfall unter den Infanteristen in der zweiten Kriegshälfte nach, als sich Selbstverstümmelungs- und Desertionsversuche häuften und selbst offene Gehorsamsverweigerungen gegenüber Vorgesetzten mitunter ungeahndet blieben. All dem stellt Weber pointiert Hitlers Zufriedenheit im Kreis des Regimentsstabs gegenüber, liefert Charakterporträts der Personen seiner nächsten Umgebung und beschreibt Hitler als einen gegenüber Vorgesetzten diensteifrigen und unterwürfigen, ansonsten eigenbrötlerischen, weltanschaulich noch nicht entschiedenen Gefreiten. Mit Hitlers räumlicher und emotionaler Isolierung von den Leiden der Frontsoldaten und jenen der Heimat liefert das Buch ein Zusatzargument, weshalb Hitler beide Welten nie verstand. Bar jeglicher familiärer und freundschaftlicher Kontakte in die Heimat (einen Heimaturlaub nutzte er dazu, Berliner Museen zu erkunden), pflegte er auch nach dem Krieg eine umso größere Anhänglichkeit an den Regimentsstab, seine Ersatzfamilie.

Es hätte nahe gelegen, diesen ersten Teil am Kenntnisstand der neueren Weltkriegsforschung, Militärgeschichte und gut etablierten britischen Regimentsforschung auszurichten. Stattdessen arbeitet Weber sich an einer Leitfrage ab, die er aus Hitlers Kriegsmythos und der Hitlerbiographik ableitet, inwieweit nämlich der Diktator ein Produkt des List-Regiments war und ob diese oder jene Schlachtepisode zu „einer Verrohung und politischen Radikalisierung der Männer des R.I.R. 16 führte“ (S. 72, 95, 148-150, 160f.), nur um diese Spielart der Brutalisierungsthese – vor dem Hintergrund der Weltkriegsforschung wenig überraschend – wieder und wieder zu verneinen. Diese Taktik ist müßig, denn am Ende gelangt Weber meist zu differenzierten Einschätzungen. Wo er die neuere Weltkriegsforschung widerlegen will, geht er fehl, so beim Abgrenzungsversuch von der einschlägigen Interpretation der „deutschen Kriegsgreuel“ 1914 (S. 54-61).2

Aus dem Krieg ging Hitler orientierungslos hervor. Mit der Auflösung des List-Regiments löste sich auch seine Welt auf. Hin- und hergerissen zwischen sozialistischen und rechtsnationalistischen Verheißungen, diente Hitler zunächst als gewählter Soldatenrat der bayerischen Räterepublik, ehe er nach deren Scheitern die Seite wechselte und als V-Mann einer Untersuchungskommission zur Räterepublik mehrere Revolutionskameraden ans Messer lieferte. Erst jetzt, argumentiert Weber überzeugend, agierte Hitler als radikaler Antisemit und glühender Antibolschewist, der seine eigene Revolutionslegende schuf. In der Deutschen Arbeiterpartie fand Hitler im September 1919 eine neue Heimat und scharte dort mehrere Mitglieder des alten Regimentsstabs um sich, darunter den ehemaligen Stabsfeldwebel Max Amann. Das Gros der List-Veteranen blieb der Partei auch in den Folgejahren fern. Dank minutiöser Recherche gelingt es Weber, die Lebensverläufe Hitlers und diverser List-Veteranen nach dem Krieg aufzudecken, darunter auch 49 jüdische Offiziere und Soldaten, deren Status als alte Kameraden aus Hitlers Regiment sie im „Dritten Reich“ keineswegs vor Verfolgung schützte. Einfühlsam schildert Weber ihr Schicksal. Sehr aufschlussreich ist auch die Darlegung der Strategien, mit denen Hitler und NS-Propagandastrategen in den 1920er- und 1930er-Jahren an Hitlers Kriegsmythos strickten und mögliche Kontrahenten zum Schweigen brachten.

So sehr man der Einschätzung zustimmen kann, dass nicht die Kriegserfahrungen als solche den politischen Auftrieb der radikalen Rechten in Bayern und den Erfolg der Nationalsozialisten erklären können, sondern das Trauma der Räterepublik und der Antibolschewismus eine wichtige Rolle spielten, so sehr scheinen Zweifel an der These angebracht, Bayern und Deutschland hätten nach Kriegsende „in eine gute Zukunft“ geblickt (S. 319). Die vielfältigen Verwerfungen der Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft, die Martin Geyer am Beispiel Münchens und Richard Bessel für Deutschland aufgezeigt haben 3, lässt Weber außen vor. Er erklärt den Aufstieg des Nationalsozialismus mit der Kameradschaftsideologie, Hitlers Kriegsmythos, dem Antibolschewismus sowie der politischen und wirtschaftlichen Krise Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre (S. 328, 379). Das ist nicht falsch, greift aber entschieden zu kurz. Der Hang zu steilen Thesen sei Weber unbenommen, nicht jedoch die vielen Scheingefechte gegen angeblich „gängige“ Forschungsthesen. Darüber hinaus ist es methodisch problematisch, ausgehend vom südbayerischen, ländlich-katholischen Rekrutierungsbezirk des List-Regiments, dessen Besonderheiten sich Weber durchaus bewusst ist, weitreichende Thesen zur bayerischen und gesamtdeutschen Gesellschaft und ihrer vermeintlich eher mäßigen Zustimmung zu Hitler, zur NS-Ideologie und zum Regime abzuleiten (S. 397ff.). Auch eignet sich ausgerechnet der im ländlichen Südbayern relativ gering ausgeprägte (Rassen-)Antisemitismus, den Weber gut belegt, nicht als Argument für obige Thesen, zumal er selbst treffend feststellt: „An die Macht kam Hitler nicht wegen, sondern trotz seines plumpen und extremen Antisemitismus.“ (S. 360)

Mit Hitlers Kriegsmythos und dessen politischer Instrumentalisierung beim Aufstieg zur Macht und während des „Dritten Reichs“ greift die Studie ein wichtiges Forschungsthema auf. Die rechercheintensive, sorgfältige Widerlegung erfundener und nachträglich manipulierter Elemente dieses Mythos war überfällig und verdient große Anerkennung. Triumphalismus gegenüber der bisherigen Hitlerbiographik (S. 9-19) und anderen Historikern ist aber unangebracht. Die Bedeutung von Hitlers Kriegsmythos bleibt zu untersuchen: seine gesellschaftliche Anschlussfähigkeit, seine Verzahnung mit „(Front-)Kameradschaft“ und „Volksgemeinschaft“ als zentralen Ordnungskategorien der Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft, seine Verankerung in der nationalsozialistischen Politik und Propaganda. Warum war der – regiments-, kameradschafts-, opfer- und frontbezogene – Kriegsmythos so bedeutsam für Hitlers (Selbst-)Stilisierung? Weshalb, sofern es stimmt, fanden „Kameradschaft, Opferbereitschaft und die Volksgemeinschaft […] unabhängig von der politischen Überzeugung Anklang“ (S. 385)? Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges, des Traumas des ausgebliebenen „Endkampfs“ 1918/1919, der „Dolchstoßlegende“ und der umkämpften Weltkriegsdeutungen ließe sich heuristisch aus dem Vollen schöpfen. Künftige Studien sollten dem Zusammenhang zwischen der „NS-Volksgemeinschaft“ als Verheißung und der „Frontkameradschaft“ als ideologischem Erbe des Ersten Weltkrieges genauer nachgehen4 und Hitlers Kriegsmythos breiter kontextualisieren. Und sie sollten ihn in Bezug setzen zum Hitler-Mythos, den Ian Kershaw vor geraumer Zeit analysiert hat.5

Anmerkungen:
1 Die Studie ist ursprünglich 2010 bei Oxford University Press erschienen: Thomas Weber, Hitler’s First War: Adolf Hitler, the Men of the List Regiment, and the First World War, Oxford 2010.
2 John Horne / Alan Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2004.
3 Martin Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914-1924, Göttingen 1998; Richard Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993.
4 Siehe etwa Thomas Kühne, Belonging and Genocide. Hitler's Community, 1918-1945, New Haven 2010.
5 Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart 1999 [Oxford 1989].

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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