H. Berger u.a. (Hrsg.), Politische Gewalt und Machtausübung

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Titel
Politische Gewalt und Machtausübung. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen


Herausgeber
Berger, Heinrich; Dejnega, Melanie; Fritz, Regina; Prenninger, Alexander
Erschienen
Anzahl Seiten
773 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Gröller, Wien

Das 20. Jahrhundert war – unabhängig davon, ob man es als ein „langes“ oder „kurzes“ ansieht – in Europa unter anderem von zahlreichen politischen Macht- und Systemwechseln geprägt, deren bloß versuchter oder auch gelungener Vollzug bzw. die sich daran anschließende Etablierung einer neuen politischen Ordnung, in etlichen Fällen nicht gewaltfrei verlief. Den dahinter liegenden Absichten und Strategien widmeten sich in der Folge Generationen von WissenschafterInnen verschiedener Disziplinen. Ein diesbezüglich herausragender Exponent war und ist Gerhard Botz, der nicht nur gründlich in der Sache (in seinem Fall bezüglich der politischen Gewalt und Machtausübung in Österreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts), sondern auch innovativ bei der zur Anwendung gelangten Methodik (Stichwort „Schattenvermesser“1) agierte. Anlässlich seines 70. Geburtstages wurde nun für Gerhard Botz die vorliegende Festschrift erstellt, die dem Œvre des Geehrten gerecht zu werden vermag, beinhaltet sie doch nicht nur Beiträge von unterschiedlichen ForscherInnengenerationen – sowohl von renommierten KollegInnen als auch von VertreterInnen des wissenschaftlichen Nachwuchses – sondern auch aus unterschiedlichen Disziplinen. Trotz dieser Pluralität ist auch bei dieser Festschrift ein neuerdings erkennbarer Trend innerhalb dieses Genres feststellbar, nämlich dass die Auswahl der gesammelten Aufsätze nicht nur aufgrund eines persönlichen Bezugs der VerfasserInnen zur/zum Geehrten als quasi kleinster gemeinsamer Nenner erfolgt ist, sondern auch eine thematische Engführung hinsichtlich deren/dessen fachlicher Profession angestrebt wurde. Ein Vorhaben, welches man unlängst schon bei der Festschrift für Ernst Hanisch als erfolgreich umgesetzt beobachten konnte.2

Angesichts der Vielzahl der in mehrere Kapitel gegliederten Beiträge und des notwendig begrenzten Umfangs dieser Rezension erlaube ich mir eine subjektive Auswahl vorzunehmen (ein Beitrag pro Abschnitt), die jedoch keine Rückschlüsse über die allgemeine Qualität der Beiträge, sondern allenfalls auf die persönlichen Interessen des Rezensenten zulässt.

Stellvertretend für den einleitenden Abschnitt wähle ich den Artikel „1941. Es gibt nur das Leben“ von Helene Maimann. Darin präsentiert die Autorin Auszüge aus Lebenserinnerungen von unterschiedlichsten Personen aus verschiedenen Ländern, deren verbindendes Element das Entstehungsjahr der jeweils ausgewählten Textpassage ist: 1941 – zugleich das Geburtsjahr des Jubilars. Maimann führt im Anschluss an die Quelle zwar einige biographische Informationen zu den zitierten Personen an und kontextualisiert die Zitate, ansonsten sind die einzelnen Elemente jedoch recht lose aneinandermontiert, wodurch sie aber eine plurale Sicht und Multiperspektivität zulassen.

Im ersten Kapitel „Staatsgewalt und staatliche Gewalt – Beispiele aus dem 20. Jahrhundert“ widmet sich Peter Becker in seinem Beitrag „... dem Bürger die Verfolgung seiner Anliegen erleichtern“ den unterschiedlichen Bemühungen im 20. Jahrhundert in Österreich die Verwaltung zu reformieren, wobei der Autor dabei den zuständigen Behörden einen „Wandel von einem obrigkeitlichen […] hin zu einem dienstleistungsorientierten Aufgaben- und Selbstverständnis“ (S. 129) bescheinigt, die zunehmend bürgernäher wurden, jedoch zu dem Preis, dass dem Bürger, nun als „Kunde“ bezeichnet, „die Möglichkeit einer politischen Kritik an der Definition von Interventionen und Leistungen genommen [wird].“ (S. 137)

Das zweite Kapitel „Nationalsozialismus als Bewegung und Regime“ beinhaltet unter anderem Sir Ian Kershaws Aufsatz „Wie populär war Hitler?“, in dem der renommierte Hitler-Biograph über den „Umweg“ indirekter Andeutungen den Popularitätsgrad Hitlers zu bemessen versucht. Kershaw stellt dar, dass sich zum einen nach 1933 zum Beispiel die katholische Subkultur oder die organisierte Linke nicht völlig in eine NS-Volksgemeinschaft integriert haben, zum anderen die Popularitätswerte von Politikern im Allgemeinen Schwankungen unterworfen sind, im Falle Hitlers zum Beispiel im Zuge seines Kirchenkampfes oder seiner Sozialpolitik, ehe ab dem Jahr 1943 seine Popularität stetig sinkt und die Kritik am Führer – zum Teil auch öffentlich – wächst.

Im anschließenden Kapitel „Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven auf den Nationalsozialismus“ präsentiert die leider vor der Veröffentlichung verstorbene Edith Saurer in ihrem Beitrag „Er hat ‚Ja’ gesagt. Kardinal Theodor Innitzer und Bernhardine Alma im Beichtstuhl“ eine besondere Quelle: das Tagebuch der Bernhardine Alma, welches neben den „üblichen“ Einträgen auch detaillierte Aufzeichnungen über ihre Beichtgespräche enthält. Anhand dieser veranschaulicht Saurer auf der einen Seite die Verankerung Almas im katholischen Glauben, auf der anderen Seite aber deren Enttäuschung, als Kardinal Innitzer ihr gegenüber im Beichtstuhl seine Empfehlung bei der Volksabstimmung am 10. April 1938 mit „Ja“, also für den Anschluss Österreichs an NS-Deutschland, zu stimmen, wiederholte; eine Aufforderung, der sie nicht nachkam.

Das vierte Kapitel, „Nachwirkungen des NS-Regimes und des Zweiten Weltkriegs“, beinhaltet unter anderem Oliver Rathkolbs Aufsatz „Die ‚longue durée’ autoritärer Einstellungen der österreichischen Gesellschaft 1978 und 2004/2008“, in dem der Autor anhand von Umfragen aus den besagten Jahren bestimmte Einstellungstendenzen überwiegend der österreichischen, aber partiell auch der tschechischen, ungarischen und polnischen Bevölkerung herausarbeitet und unter anderem die Hypothese aufwirft, dass, „[j]e kritischer die Auseinandersetzung mit autoritären nationalen Vergangenheiten [ist], desto geringer […] autoritäre Einstellungen ausgeprägt [sind]“ und dass „[…] tendenziell eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht, dass Personen mit aggressiv autoritären Einstellungen gleichzeitig auch unkritische bis verherrlichende Geschichtsbilder über autoritäre bis faschistische historische Entwicklungen […] vertreten.“ (S. 416)

Während im fünften Abschnitt, „Mündliche Geschichte und die Grenzen des Sagbaren in der Geschichtswissenschaft“, die Entwicklung und die Perspektiven des „Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands“ von Wolfgang Neugebauer und Christine Schindler in ihrem Beitrag „Zur Bedeutung von ZeitzeugInnen für die Aufarbeitung und Vermittlung von Widerstand und Verfolgung“ erörtert werden, widmet sich der folgende Teil dem Thema „Das Ende der großen Narrative: Gedächtnis und Erinnerung als zentrale Begriffe in der Zeitgeschichtsforschung“. Darin erörtert beispielsweise Heidemarie Uhl in ihrem Aufsatz „Generation of memory“ das wissenschaftliche Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Gedächtnis bzw. Erinnerung.

Es folgt „Der Historiker in der Öffentlichkeit: politische Interventionen und Kontroversen“, in dem sich unter anderem Lucile Dreidemy in ihrem Beitrag „Botz verstehen! Verdienst und Grenzen von Provokation und Empathie im Kontext öffentlicher Geschichtspolitik“ dem Jubilar bzw. dessen legendärer Streitkultur (im konstruktiven Sinne) anhand konkreter Beispiele nähert. Beschlossen wird die Festschrift mit einem als „Nachwort“ betitelten Abschnitt, der neben einer Laudatio auf Gerhard Botz auch einen Bildessay und dessen Bibliographie enthält.

Wie schon eingangs bemerkt besticht dieser Sammelband durch die bei aller Heterogenität der AutorInnen dennoch gelungene thematisch klar nachvollziehbare Ausrichtung, die der Vorgabe der HerausgeberInnen, einen „inhaltlich konsistente[n] Sammelband zu den Forschungsschwerpunkten des Jubilars“ (S. 9) zu publizieren, durchaus gerecht wird. Ein äußerst interessantes Forschungsfeld wird hier interdisziplinär vielschichtig beleuchtet. Es bleibt abzuwarten, ob bzw. zu hoffen, dass kommende Festschriften diesem Trend weiter folgen werden, wobei dieser Band hier als gelungene Referenz gelten kann.

Anmerkungen:
1 Bei seinen Forschungen zum Ablauf des so genannten „Justizpalastbrandes“ von 1927 gelang Botz mithilfe der Vermessung von Schatten auf historischen Fotografien und nachgestellten Vergleichsaufnahmen eine präzise Rekonstruktion der Chronologie der Ereignisse.
2 Vgl. Reinhard Krammer / Christoph Kühberger / Franz Schausberger (Hrsg.), Der forschende Blick. Beiträge zur Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert. Festschrift für Ernst Hanisch zum 70. Geburtstag, Wien 2010.

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