A. Wilhelmi (Hrsg.): Bildungskonzepte und Bildungsinitiativen

Titel
Bildungskonzepte und Bildungsinitiativen in Nordosteuropa (19. Jahrhundert).


Herausgeber
Wilhelmi, Anja
Reihe
Veröffentlichungen des Nordostinstituts 13
Erschienen
Wiesbaden 2011: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Krüger, Historisches Institut, Nordische Geschichte, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Der vorliegende Band ist in der vom Nordost-Institut Lüneburg herausgegebenen Reihe „Veröffentlichungen des Nordostinstituts“ als Band 13 erschienen. Er reiht sich ein in die Publikation von Ergebnissen des Forschungsprojekts „Nordosteuropa im Wirkungsbereich Deutschlands und Russlands im 18.-20. Jahrhundert: Begriffe, Prozesse, Diskurse“. Der umfangreiche Sammelband enthält die Ergebnisse einer im Jahre 2007 in Lüneburg durchgeführten Tagung, an der Historiker und Bildungshistoriker, Bildungstheoretiker und Philosophen teilnahmen. Insgesamt handelt es sich um 23 Beiträge über theoretische Konzepte und praktische Umsetzungsformen in den untersuchten Bildungssystemen Nordosteuropas.

Was aber ist Bildung? Im deutschen Sprachraum, in dem die semantischen Ursprünge des Begriffs „Bildung“ liegen, ist dieser Begriff nicht eindeutig definiert. Der Sinngehalt variiert, die Grenzen und der Stellenwert zu ähnlich gelagerten Begriffen und Wortschöpfungen sind äußerst unscharf. Ein nicht zu vernachlässigender Punkt in einem, über den deutschsprachigen Raum hinausgehenden Diskurs ist die Frage, wie „Bildung“ in anderen Sprachen verstanden wird, und ob überhaupt äquivalente Begriffe existieren. Das überaus vielschichtige Verständnis von Bildung und die sich daraus ergebene unterschiedliche Verwendung des Bildungsbegriffs werden in einzelnen Studien für den nordosteuropäischen Raum, der hier mit den europäischen Gebieten Russlands sowie den baltischen, polnischen und finnischen Provinzen und Herrschaftsgebieten umschrieben ist, beleuchtet. Klassische Bildungsinstitute wie Universitäten und Schulen werden untersucht. Mit einbezogen sind aber auch die häusliche Bildung, und, etwas unterrepräsentiert, kirchliche Bildungseinrichtungen. Eingebunden in einen regionalen Kontext werden die Einzelstudien auf eine überregionale Vergleichsebene gestellt.

Der vorliegende Band ist in drei größere Teile gegliedert, von denen jeweils der zweite und dritte in eine weitere Ebene unterteilt sind. Im einführenden ersten Teil beschäftigt sich der Bildungstheoretiker Detlef Gaus mit den Dimensionen und Funktionen des Bildungsbegriffs im deutschsprachigen Raum im 19. Jahrhundert. Ihm an die Seite gestellt ist ein Beitrag von Jan Kusber, in dem in Form eines Überblicks verschiedene Bildungskonzepte und Bildungsinstitutionen in Nordosteuropa im 19. Jahrhundert vorgestellt werden.

Hierauf folgt der zweite Hauptteil, der mit „Einzeluntersuchungen“ überschrieben ist. Diesem gegenübergestellt ist der dritte Hauptteil, „Einzeluntersuchungen zu Aspekten der Frauenbildung“. Die Einzeluntersuchungen sind nach dem jeweils gleichen Muster angeordnet. Zunächst steht das russische Reich im Fokus der Betrachtungen, dann werden nacheinander die verschiedenen Provinzen und sonstigen Herrschaftsgebiete Russlands im nordosteuropäischen Raum behandelt.

Die „Einzeluntersuchungen“ beginnen mit einem Aufsatz von Andrej Andreev. Er stellt Universitätskonzepte vor dem jeweiligen politischen und sozialen Hintergrund im russischen Zarenreich im 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts vor. Trude Maurer behandelt in ihrem Beitrag das Verhältnis zwischen Universität und Stadt in Russland. Sie fragt nach der Bedeutung von Bildungszentren für das umgebene städtische Umfeld. Etwas aus dem Rahmen fällt die Studie von Hartmut Rüdiger Peter. Er untersucht den Zustrom russischer Studenten an deutsche Universitäten im Vorfeld des Ersten Weltkrieges am Beispiel der mitteldeutschen Universitäten Halle und Leipzig. Peter definiert Emigration als eine Strategie der Studenten, um die national-konfessionell diskriminierende Zugangspolitik an den russischen Hochschulen zu umgehen.

Am Beginn der Einzeluntersuchungen der Provinzen des russischen Reichs steht ein Beitrag von Vija Daukšte. Sie vermittelt einen Einblick in die zeitgenössischen Diskurse über die Volksschulbildung in Livland und Estland. Ihre Forschungen werden ergänzt durch die Studie von Gvido Straube, der die Diskussionen über die Volksschulbildung in den kirchlichen Institutionen Livlands und Estlands vorstellt. Ebenfalls in den baltischen Provinzen verortet ist die Arbeit von Michael Garleff. Sein Augenmerk liegt jedoch auf der höheren Bildung der deutschbaltischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert.

Das finnische Großfürstentum wird von Jan Hecker-Stampehl berührt. Er analysiert die Schriften des finnischen Universalgelehrten und Philosophen Johan Vilhelm Snellmann (1806-1881) über die Rolle der Universität und den Charakter des akademischen Studiums.

Darius Staliūnas untersucht Litauen und Belarus unter dem Aspekt der Grundschulbildung vor dem Hintergrund der sich ab 1863 verstärkenden Russifizierungspolitik. Thematisch ähnlich gelagert ist der Beitrag von Ewa Skorupa, die Zensur und andere staatliche Eingriffe am Beispiel des Schulwesens in Kongresspolen betrachtet. Ebenfalls den polnischen Raum betreffen die Arbeiten von Arkadiusz Janicki und Leszek Zasztowt. Janicki behandelt polnische Initiativen und Bildungsinitiativen im Gebiet der westlichen Gouvernements und im Königreich Polen im 19. Jahrhundert. Zasztowt richtet sein Augenmerk auf illegale Schulen im Lehrbezirk Wilna in den 1870er-Jahren.

Untersuchungen zur jüdischen Bevölkerungsgruppe sind ebenfalls vertreten, mit zwei Beiträgen jedoch etwas unterrepräsentiert. Desanka Schwara stellt auf allgemeiner Basis verschiedene Ideen und Bildungskonzepte im nordosteuropäischen Raum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor, die in Konkurrenz zu dem traditionell jüdischen, auf einem religiösen Wertesystem basierenden Bildungssystem standen, was unter anderem zu einem religiös-orthodoxen Aufschwung führte. Eglė Bendikaitė befasst sich dagegen mit dem jüdischen Erziehungswesen in Litauen und der zionistischen Schule.

Am Beginn des letzten Teils steht ein Beitrag von Natal’ja Puškareva über die häusliche Erziehung adliger Mädchen in Russland am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Ansätzen der institutionellen Mädchenbildung widmen sich die beiden folgenden Studien. Beate Fieseler behandelt das sogenannte mittlere Mädchenbildungswesen im russischen Reich im 19. Jahrhundert, während Yvonne Piesker sich mit der höheren Mädchen- und Frauenbildung in Russland auseinandersetzt.

Auch hierauf folgen wieder Studien zu verschieden Provinzen des russischen Reichs. Anja Wilhelmi beschäftigt sich mit den Bildungspraktiken und den Diskursen über die Mädchenbildung in der deutschbaltischen Bevölkerungsgruppe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Lea Leppik untersucht Bildungsmöglichkeiten von Frauen im russischen Reich am Beispiel der Universität Dorpat. Ebenfalls eine Form der institutionellen Bildungsvermittlung behandelt Sirje Tamul. Sie untersucht am Beispiel Estlands die ersten Handarbeits- und Haushaltungsschulen im Zeitraum zwischen der Einrichtung entsprechender Schulen im 19. Jahrhundert bis zum Jahre 1917. Den Blick nach Finnland auf die dortige Frauen- und Mädchenbildung richtet Ralf Müller. Den Schluss bildet ein Beitrag von Dietlind Huechtker. Sie untersucht Diskurse über die Mädchenbildung vor dem Hintergrund von Gesellschaftsreformen in den polnischen Gebieten.

Wie die Herausgeberin Anja Wilhelmi im Vorwort betont, wird Bildungsgeschichte häufig einseitig mit „Männerbildung“ gleichgesetzt, was bedeutet, dass Aspekte der Frauenbildung oftmals ausgeblendet werden. Insofern entschloss man sich bei der Konzeption der Tagung, einer „allgemeinen“ Bildungsgeschichte Aspekte der Frauenbildung gegenüberzustellen. Das ist zu begrüßen. Allerdings macht es aus Sicht des Rezensenten wenig Sinn, die Beiträge über die Frauenbildung gesondert zusammenfassen. Bei einem nach geografischen Gesichtspunkten aufgebauten Band wäre es günstiger gewesen, die Beiträge zur „allgemeinen“ Bildung und Frauenbildung, nach den behandelten Gebieten und Provinzen des russischen Reichs angeordnet, nebeneinander zustellen. Gerade wenn Institutionen wie zum Beispiel Universitäten in einer Region untersucht werden, scheint es reizvoll, die Beiträge zur „allgemeinen“ und Frauenbildung gegenüberzustellen, um gezielt Gemeinsamkeiten und Unterschiede vor dem gleichen regionalen Kontext herausarbeiten zu können.

Problematisch ist auch die durchgängige Verwendung des verallgemeinernden Begriffs „Provinz“, um die von Russland beherrschten Gebiete zu umschreiben. Finnland beispielsweise war keine Provinz, sondern seit 1809 ein Großfürstentum, das in Personalunion mit dem Zarenreich verbunden war. Insgesamt handelt es sich aber um einen inhaltlich und optisch ansprechenden, gut lesbaren Band, dessen Studien mit dazu beitragen, einen räumlich weit im Nordosten gelegenen und oft nur am Rande wahrgenommenen Teil Europas mit in die Diskussion über eine europäische Bildungsgeschichte zu integrieren.

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