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Titel
Spiritual Elders. Charisma and Tradition in Russian Orthodoxy


Autor(en)
Paert, Irina
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexa von Winning, Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Eberhard Karls Universität Tübingen

Irina Paert befasst sich mit einem Phänomen, das die Spiritualität der russischen Orthodoxie so sehr verkörpert wie wenige andere: Ihr Gegenstand sind die spirituellen Ältesten, in der älteren deutschen Forschung bekannt als „Starzen“ (russ. ‚starzy’). Paert gelingt es, die Geschichte des russisch-orthodoxen Ältestentums vom 18. bis ins 20. Jahrhundert versiert und vielschichtig nachzuzeichnen, ohne dabei in essentialistische Überlegungen zur Andersartigkeit dieser genuin ostchristlichen Tradition zu verfallen. Sie betont die Mehrdeutigkeit und Wandelbarkeit der Rollen, die Älteste im Verlauf der Zeit einnahmen: Starzy waren Personen von außergewöhnlicher spiritueller Kraft, die anderen Gläubigen geistliche Anleitung boten, indem sie als „teacher, spiritual director, counselor, and prophet“ wirkten (S. 219) und vom Jesusgebet bis zu asketischen Lebensweisen ganz verschiedene religiöse Praktiken lehrten.

Die Träger dieser spirituellen Kraft stammten aus allen Schichten der Gesellschaft, auch Frauen und Angehörige des bäuerlichen Standes konnten die Anerkennung als Älteste/r erreichen. Die Ältesten bildeten zwar nie eine zahlenmäßig starke Gruppe, ihre weit reichende Popularität begründete jedoch einen hohen gesellschaftlichen Einfluss. Die Verehrung, die den Starzy von den Gläubigen entgegen gebracht wurde, war entscheidend für ihren Status: Ihre Reputation wurde „from below“ (S. 4) begründet. Dies und die Rekrutierung aus der gesamten Gesellschaft habe die Ältesten zu wichtigen Mittlern zwischen offizieller Kirche und Laien gemacht.

Paerts Geschichte des Ältestenwesens beginnt in der Wüste Ägyptens und Syriens, wo frühchristliche Mönche im 3. und 4. Jahrhundert Formen von Asketismus und spiritueller Führung praktizierten, die ab dem 18. Jahrhundert von Protagonisten des russisch-orthodoxen Klosterwesens aufgegriffen wurden (Kapitel 1 und 2). Die zentrale Figur war dabei Paissi Welitschkowski (1722-1794), dessen Kloster in Moldawien sich zu einem Zentrum asketischer spiritueller Praktiken entwickelte. Von Süden aus kam das Ältestenwesen im späten 18. Jahrhundert nach Russland und belebte die bestehende Klosterlandschaft, die sich seit der Säkularisierung Katharinas II. von 1764 in einem desolaten Zustand befand. Angesichts der Misere des offiziellen Glaubenslebens stieg das Interesse an der byzantinischen Tradition hesychastischer (kontemplativer) Spiritualität – was allerdings zunächst weder von kirchlichen noch von staatlichen Autoritäten wohlwollend betrachtet wurde.

In den folgenden Kapiteln verfolgt Paert die Entwicklung des Ältestenwesens im Zarenreich des 19. Jahrhunderts und zeigt, wie es zu einem „distinctive characteristic of modern Russian Orthodoxy“ wurde (S. 5). Unter Alexander I. und Nikolai I. schwand die Skepsis der weltlichen Autoritäten gegenüber mystischen oder asketischen Formen der Spiritualität, so dass sich das Ältestenwesen in einigen Klöstern fest etablieren konnte: Es vollzog sich eine gewisse Institutionalisierung und Routinisierung, wenn auch in zahlenmäßig weiterhin sehr engen Grenzen (Kapitel 3). Dabei griffen die Ältesten byzantinische Traditionen erfolgreich auf und passten sie an die Moderne an, entwickelten aber auch eigene Formen der geistlichen Anleitung, die sich nicht auf Paissi Welitschkowski bezogen. Berühmte Vertreter wie Serafim von Sarow pflegten beispielsweise einen persönlicheren, fast intimen theologischen Stil: Sie schrieben keine Abhandlungen, sondern nutzten mündliche und briefliche Kommunikation als Instrument der spirituellen Anleitung.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts breitete sich das Ältestenwesen über die Klostermauern hinweg aus. Das Rollenvorbild des Ältesten wurde in anderen Gruppen der Orthodoxie übernommen. Bischöfe und Theologen stilisierten sich als spirituelle Väter, und Gemeindepriester versuchten, sich mithilfe spiritueller Anleitung stärker den Seelen ihrer Gläubigen zuzuwenden. Asketische Praktiken verbreiteten sich unter Laien und die politischen Eliten sahen die Ältesten gerne als alternative Autoritäten, deren Einfluss in unruhigen Zeiten Stabilität bewirken sollte (Kapitel 4 und 5). Das signifikanteste Beispiel dafür ist sicher die Kanonisierung Serafim von Sarows und dahinter stehende Versuche, staatliche Macht zu sakralisieren. Die Gründe für diese Ausbreitung des Ältestenwesens und seiner Modelle und Verhaltensmuster sieht Paert in gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen. Zum einen seien abgeschiedene Klöster dank der verbesserten Druck- und Verkehrsmittel zugänglicher geworden; Pilgerfahrten und Pressewesen ermöglichten es immer mehr Laien, eigenständig Älteste und andere spirituelle Formen jenseits der Amtskirche aufzusuchen. Zugleich hätten die Herausforderungen der Modernisierung die Nachfrage nach spiritueller Führung in die Höhe getrieben: „Industrialization, urbanization, commercialization of agriculture, and migration to the cities led to displacement, insecurity, and the erosion of communal relations. As a result, individuals could no longer rely on the traditional mechanisms that had regulated their lives in the past; yet they did not become rational and self-reliant at once. Elders responded to individual insecurities, anxieties, and alienation“ (S. 124).

Das sechste und letzte Kapitel ist dem Ältestenwesen von der Revolution 1917 bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts gewidmet. Die bolschewistische Revolution führte paradoxerweise zunächst zu einer weiteren Stärkung des Ältestenwesens, da die Autorität der orthodoxen Kirche geschwächt und zugleich die Notwendigkeit eines Graswurzel-Glaubens, wie es das Ältestenwesen mit seinen persönlichen Bindungen zwischen Ältestem oder Ältester und Gläubigen ermöglichte, drastisch stieg. Erst die Terrorwellen der 1930er-Jahre führten zu einer substantiellen Schwächung, die bis in die 1980er-Jahre nicht kompensiert wurde. Die gesellschaftlichen Umbrüche der Perestrojka stimulierten das religiöse Leben wieder, wodurch auch einige Älteste zu neuem Ruhm fanden.

Die besondere spirituelle Kraft der Ältesten interpretiert Paert als charismatische Autorität. Sie habe nicht unbedingt in einem scharfen Gegensatz zur formalen Autorität der Russisch Orthodoxen Kirche und ihrer Amtsträger gestanden, „tensions between charisma and institution“ (S. 102) seien aber stets vorhanden gewesen. Dieses ambivalente Verhältnis zur offiziellen Kirchenhierarchie ist der Schwerpunkt der Analyse: Paert arbeitet überzeugend heraus, dass die Amtskirche einerseits danach strebte, die Ältesten und ihre Bindekraft für sich zu nutzen, dass sie ihre unabhängige Autorität andererseits stets auch als Herausforderung gesehen habe. Ähnlich ambivalent war auch das Verhältnis der Ältesten zur Kirche: Manche waren zugleich ordinierte Priester, so dass pastorale und charismatische Autorität zusammen fielen; andere wiederum pflegten enge Verbindungen zu den Altgläubigen oder sektiererischen Abspaltungen.

Insgesamt schreibt Paert den Ältesten eine doppelte Brückenfunktion zu: „Thus, the elders not only bridged a gap between the Church’s ‚high culture‘ and the religion of the Russian peasant, but also traversed the camps of the Synodal church and that of its apostates“ (S. 13). Auf diese Weise greift sie das Bemühen der Religionsforschung auf, hergebrachte Dichotomien zwischen offizieller Kirche und Laienglauben, zwischen „Elite“ und „Volk“ zu überwinden und macht es für die eigene Analyse fruchtbar.

Paert schafft es, die Ältesten sehr überzeugend im Gesamtspektrum der Orthodoxie zu positionieren: Sie entwirft gekonnt das differenzierte Bild einer orthodoxen Glaubenslandschaft, die sich nicht allein um die Amtskirche drehte, sondern in der Elemente wie Älteste und Klöster zusätzliche Zentren bildeten, zwischen denen sich die Gläubigen selbstständig orientierten.

Unglücklicherweise bleibt die Aktivität der Gläubigen aber sehr blass, obwohl erst ihre Verehrung die Ältesten zu bedeutenden Figuren machte und sie somit eigentlich eine Schlüsselfunktion haben. Der gesellschaftliche Einfluss der Ältesten, ihre Interaktion mit und ihre Wirkung bei den Laien kommen gegenüber dem Verhältnis zwischen Ältesten und kirchlichen Autoritäten deutlich zu kurz. Das ist schade und vernachlässigt ein weiteres wichtiges Anliegen der jüngeren Religionsforschung: das Interesse an der „gelebten Religion“ (‚lived religion’), das heißt an den subjektiven Glaubenserfahrungen und -praktiken der Gläubigen.1

Darüber hinaus hätte die Frage nach dem Verhältnis von Moderne und Religion mit mehr Tiefgang analysiert werden können. Das Zusammenspiel dieser beiden Kräfte erschöpfte sich nicht in der simplen Gleichung, dass die Moderne für Entfremdung und Unsicherheit sorgte, welche die Religion dann lindern half. Moderne und Religion prägten und veränderten einander gegenseitig. Die Entwicklung neuer Praktiken spiritueller Anleitung (wie das erwähnte individuelle Korrespondieren mit den Anhängern) könnte beispielsweise eine Antwort auf moderne Konzeptionen vom Selbst sein.

Nichtsdestotrotz bleibt ein positiver Gesamteindruck bestehen: Paert hat sich mit viel Kompetenz und Umsicht einem zentralen Phänomen der Orthodoxie gewidmet und es über einen beeindruckend langen Zeitraum untersucht. Herausgekommen ist ein Buch, das zu lesen sich lohnt und Freude bereitet.

Anmerkungen:
1 Christine D. Worobec, Lived Orthodoxy in Imperial Russia, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 7 (2006), S. 329-350; Robert Orsi, Everyday Miracles. The Study of Lived Religion, in: David D. Hall (Hrsg.), Lived religion in America. Toward a history of practice, Princeton 1997, S. 3-21.

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