T. Ertl (Hrsg.): Der Ötzi pflückt das Edelweiß

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Titel
Der Ötzi pflückt das Edelweiß. Bausteine Tiroler Identität


Herausgeber
Ertl, Thomas
Erschienen
Innsbruck 2011: Tyrolia Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Edith Hessenberger, Institut für Geschichte und Ethnologie, Universität Innsbruck

Hinter dem sehr überzeichnenden Titel des Sammelbandes verbirgt sich eine vielseitige und fundierte Zusammenschau differenzierter Aspekte der Tiroler Identität. Im Zentrum der Ausführungen stehen dabei verbreitete Tiroler Klischees, die Selbstinszenierung in Tourismus und Medien, und nicht zuletzt das Tiroler Selbstverständnis im Spiegel der Politik. Wichtige historische Ereignisse und Persönlichkeiten des Landes werden dabei nicht nur beschrieben, sondern in Hinblick auf ihre Bedeutung für die heutige Tiroler Identität kritisch hinterfragt.

Einleitend setzt sich der Archäologe Walter Leitner in seinem Beitrag „Ötzi – der Mann im Eis“ (S. 14–25) mit den Ereignissen um den Fund der Gletschermumie und seine Bedeutung für die Forschung auseinander. Der populärwissenschaftliche Aufsatz fasst interdisziplinäre Forschungsergebnisse leicht verständlich zusammen und zeigt die Relevanz des Fundes als Werbeträger für Tirol auf. Im Beitrag „Oswald von Wolkenstein – Kämpfer, Sänger, Held und Tourismusikone“ (S. 26–39) wirft der Historiker Mark Mersiowsky einen kritischen Blick auf die aktuelle touristische Inszenierung des Ritters und Dichters Oswald, der in Südtirol zu einer der wichtigsten Marketing-Figuren avancierte. Gleichzeitig liefert der Autor eine fundierte Zusammenschau der wichtigsten bekannten Fakten und Quellen zur Person – nicht ohne diese in Erklärungen zu den Hintergründen der damaligen Zeit einzubetten.

Vergleichsweise trocken erscheint eingangs der Artikel des Historikers Klaus Brandstätter „Kein reicher Land. Das Goldene Dachl und die Schätze aus den Bergen“ (S. 40–53), wenn die Bauhistorie des Goldenen Dachls im Detail erläutert wird. Die Zusammenhänge und Bedeutung des Salz- und Silberbergbaus für Tirol in Mittelalter und Früher Neuzeit illustriert der Autor allerdings eingehend und liefert damit einen guten Überblick über die wirtschaftliche Situation dieser Zeit.

Der Herausgeber des Bandes, der Historiker Thomas Ertl leistet mit seinem Beitrag „‘s Anderl von Rinn. Landesbewusstsein und Judenfeindschaft“ (S. 54–68) einen besonders wertvollen Beitrag zur Betrachtung der Tiroler Geschichte und ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis heute. Indem er die historischen Ritualmordanklagen gegenüber der jüdischen Bevölkerung thematisiert, und in der Folge die Zusammenhänge zwischen Landesbewusstsein und Judenfeindschaft aufzeigt, analysiert Ertl auch Tiefpunkte der Regionalgeschichte als Bausteine Tiroler Identität.

Die Historikerin Margareth Lanzinger dekonstruiert in ihrem Aufsatz „Symbolfiguren einer postulierten ‚Landesidentität‘. Katharina Lanz und Andreas Hofer“ (S. 69–83) die historischen Rollen zweier HauptdarstellerInnen in den sogenannten Tiroler Freiheitskämpfen und stellt diese Zuschreibungen sowie späteren Geschichtsinterpretationen gegenüber. Ebenso bemüht sich auch der Journalist und Historiker Michael Forcher in seinem Artikel „Das ‚Heilige Land‘ und seine Schützen“ (S. 84–100) um die Dekonstruktion eines Mythos, was ihm aufgrund mangelnder kritischer Distanz allerdings nur unzureichend gelingt: Sein Text, der regionale Spezifika der Volksreligiosität anführt, leistet dem eingangs zitierten Mythos eher noch Vorschub und erinnert eher an ein politisches Statement gegenüber den Schützenvereinen und ihrer Bedeutung heute, als an eine wissenschaftliche Aufarbeitung.

Mit dem Beitrag „Die ‚Wally‘ und ‚ihr Geier‘“ (S. 101–112) analysiert die Historikerin Ellinor Forster die Situation und Rolle der Frau in Tirol während der letzten 150 Jahre am Beispiel der „Geierwally“. Die umfassende Zusammenschau dokumentiert die Entwicklung der Kunstfigur, sowie ihre sich stets verändernde Rezeption während des 20. Jahrhunderts – nicht ohne Seitenblicke auf die jeweilige Rolle der Frau in der Gesellschaft. Der oft vergessene Aspekt der Missionstätigkeit von Tirolern wird von der Historikerin Maria Heidegger in „Josef Freinademetz. Ein heiliger Tiroler im Kaiserreich China“ (S. 113–127) in die Betrachtungen einbezogen. Am Beispiel der Biographie eines Südtiroler Missionars wird unter anderem die Rezeption seiner Berichte an die Heimat thematisiert.

In dem Artikel „Eine Topographie des Erinnerns. Südtirol im 20. Jahrhundert“ (S. 128–149) beleuchten die beiden Journalisten Astrid Kofler und Hans Karl Peterlini verschiedene Schauplätze der Südtiroler Geschichte und veranschaulichen diese in sehr literarischem Stil am Beispiel einzelner Schicksale. Der Ethnologe Paul Rösch unternimmt in „Authentizität im Tiroler Tourismus“ (S. 150–161) einen umfassenden Rückblick auf die Entwicklung des Tourismus bzw. seine Bedeutung für das Selbstbild und die Identität der TirolerInnen. Am Beispiel Tirols werden die Mechanismen von Inszenierung, Erwartungshaltung und Re-Interpretation des Selbst aufgezeigt. Mit dem Edelweiß steht eine Blume im Zentrum der Betrachtungen des Historikers Hans Heiss, der in „Blume des Alpen-Mythos. Das Edelweiß“ (S. 162–175) die sich stets verändernden politischen Bezüge und Neuinterpretationen dieser Blume während der letzten 150 Jahre auf spannende Art und Weise aufzeigt.

Die Historikerin Eva Pfanzelter-Sausgruber versucht sich im Beitrag „Eduard Wallnöfer und Silvius Magnago. Der Bauer, der Advocat und die Kunst des Machbaren“ (S. 176–191) an einem sehr interessanten Zugang zur Tiroler Geschichte, wenn sie diese am Beispiel der Biographien zweier langjähriger Landeshauptmänner umreißt.

Mit „Der Berg ruft. Die Berghelden Trenker, Buhl und Messner“ (S. 192–204) gelingt der Historikerin Birgit Ertl-Gratzel ein guter Überblick über die Entwicklung des Alpinismus im 20. Jahrhunderts, verdeutlicht anhand dreier Bergsteigerprofile und -biographien. Thematisch schließt hier der Beitrag der Ethnologin Nikola Langreiter „‘Hurra die Gams!‘ Die Kitzbüheler Streif als mythischer Ort“ (S. 205–216) an, in dem das Hahnenkammrennen in Kitzbühel und der Mythos um den Berg, das Rennen und den Heldenstatus der Sieger dieses Rennens analysiert werden. Die Autorin zeigt dabei auf, wie sakrale Elemente und Neuinterpretationen wirtschaftlichen Interessen dienen, und das Hahnenkammrennen sowie seine Abfahrer maßgeblich an der Konstruktion der Marke Tirol beteiligt waren.

Mit dem Beitrag des Publizisten Wolfgang Maier erfährt der Sammelband einen harschen Stilbruch. Maier beleuchtet unter dem Titel „Sesshafte Knödel und Tutres, Couscous und Polenta der Fahrenden“ (S. 217–229) kulinarische Aspekte der Tiroler Identität und schreckt hierbei auch vor der Wiedergabe von Kochrezepten nicht zurück. Mithilfe weniger historischer Überlieferungen, zahlreicher ironischer Andeutungen und lyrischer Ausführungen bemüht er sich, die ethnische Vielfalt Tirols von der frühesten Geschichte bis heute aufzuzeigen.

Birgit Ertl-Gratzl thematisiert in ihrem zweiten Aufsatz „Bisch a Tiroler, bisch a Mensch… Der Dialekt entscheidet“ (S. 230–244) die Rolle des Dialektes bzw. die sprachliche Entwicklung und Vielfalt Tirols. Dabei greift sie selbst jedoch zuweilen unkritisch auf Klischees zurück, wenn sie beispielsweise „dem Tiroler“ attestiert, dass Offenheit nicht zu seinen vorrangigen Eigenschaften zähle (S. 239). Unkommentierte humoristische Gedichte unterstreichen den essayistischen, aber nicht unbedingt wissenschaftlichen Stil dieses Beitrags.

Der Musikwissenschaftler Thomas Nußbaumer beleuchtet mit seinem Beitrag „Auf der Suche nach dem Echten. Die Tiroler Volksmusik“ (S. 245–259) die Geschichte der Tiroler Volksmusik und ihre Bedeutung für das heutige (touristische) Tirol – nicht ohne die Volksmusikforschung eingehend zu kritisieren. Im Zentrum seiner Darstellung steht dabei „das Spannungsverhältnis von volkskultureller Tradition und folkloristischer Kommerzialisierung“ (S. 246), das viele Bereiche der Selbstinszenierung der TirolerInnen prägt und damit eine zentrale Fragestellung in Bezug auf die Tiroler Identität aufzeigt. Einen weiteren Aspekt der Tiroler Identität thematisiert der Historiker Oliver Kühschelm in seinem Aufsatz „Swarovski – Vom Tiroler Edelweiß zum globalen Schwan“ (S. 260–275) mit der Analyse der Bedeutung des Swarovski-Konzerns für die Tiroler Bevölkerung. Er thematisiert den Stellenwert des Unternehmens für das Selbstbild der TirolerInnen, illustriert regionalspezifische Mythen mit denen der Konzern arbeitet, aber auch die anbiedernde Haltung von Seiten etablierter Politik.

Im abschließenden Beitrag „Europa der Regionen. Gesamttirol als Zukunftsmodell?“ (S. 276–290) geht Birgit Ertl-Gratzel auf die Rolle der Europaregion Tirol – Südtirol – Trentino und ihre Bedeutung in der EU und für die Bevölkerung ein. Kritisch beleuchtet sie die politischen Beweggründe, die die Bemühungen um diese Region flankierten, fasst schließlich die Spezifika der Tiroler Identität zusammen, und verleiht damit dem Sammelband gleichsam einen zusammenfassenden, runden Abschluss.

Ein Resümee der 19 Beiträge im Band kann nicht anders, als die Vielseitigkeit der Betrachtungen, die Interdisziplinarität der AutorInnen und die überwiegend hohe Qualität der Beiträge zu loben. Die populärwissenschaftliche Verpackung der Beiträge birgt allerdings den Nachteil, dass die mehrheitlich im Grunde wissenschaftlichen Aufsätze ohne Zitationen vorliegen, und sich die Angaben zur weiterführenden Literatur auf durchschnittlich nur fünf Werke beschränken. Abgesehen von diesem Manko handelt es sich bei „Der Ötzi pflückt das Edelweiß“ aber um ein Werk qualitativ hochstehender Populärwissenschaft.

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