Titel
Lokalistische Stadtforschung, kulturalisierte Städte. Zur Kritik einer „Eigenlogik der Städte“


Herausgeber
Kemper, Jan; Vogelpohl, Anne
Reihe
Raumproduktionen: Theorie und gesellschaftliche Praxis 13
Erschienen
Anzahl Seiten
234 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Jens Wietschorke, Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien

Im November 2010 wurde an der Technischen Universität Berlin eine Tagung veranstaltet, die der Diskussion des neuen stadtsoziologischen Konzepts der „Eigenlogik der Städte“ gewidmet war.1 Dieser Arbeitsbegriff ist vor einigen Jahren von einer Darmstädter Forschergruppe um Martina Löw und Helmuth Berking entwickelt worden, um der von ihnen als „subsumtionslogisch“ bezeichneten klassischen Stadtsoziologie eine verstärkte Reflexion der Spezifik bestimmter Städte entgegenzusetzen. „Eigenlogik“ meint dabei – so Martina Löw in ihrer 2008 erschienenen grundlegenden Monographie – „die verborgenen Strukturen der Städte als vor Ort eingespielte, zumeist stillschweigend wirksame Prozesse der Sinnkonstitution“.2 Aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven befassten sich in Berlin 14 Referentinnen und Referenten mit dieser These und ihren theoretischen wie forschungspraktischen Implikationen. Seit November 2011 liegen sämtliche Beiträge dieser Tagung in gedruckter Form vor, und zwar in einem kompakten Band, der bereits in seinem Untertitel anzeigt, dass hier eine dezidiert kritische Bestandsaufnahme entstanden ist. Dieses Buch kann als der erste systematische Versuch gelten, die Problemzonen des Eigenlogik-Konzepts aufzudecken. Damit liefert es zugleich einen gewichtigen Beitrag zu der umfassenden Frage nach der Gegenstandskonstitution der sozial- und kulturwissenschaftlichen Stadtforschung: Lässt sich – kurz gesagt – „Stadt“ als ein konsistenter Forschungsgegenstand konzipieren oder stellt sie lediglich einen Ort dar, an dem sich übergreifende gesellschaftliche Strukturen und Prozesse in lokaler Konkretion und Verdichtung untersuchen lassen? Damit aber nimmt die hier dokumentierte Diskussion nicht nur einen Arbeitsbegriff unter anderen ins Visier, sondern sie rührt gleichsam an die Substanz stadtsoziologischer Theoriebildung. Auf einige Gründe für diese Ausweitung der Debatte ins Grundsätzliche wird noch zurückzukommen sein.

Zunächst aber zu den Kritikpunkten, die in den einzelnen Beiträgen des Bandes zusammengetragen werden: Deren argumentatives Niveau ist durchgehend sehr hoch, die Texte liefern fundierte Bausteine zur Auseinandersetzung um das Konzept der städtischen Eigenlogik. Der Reigen wird eröffnet von einer ausführlichen Einleitung der beiden HerausgeberInnen Jan Kemper und Anne Vogelpohl, in der nicht nur die Grundzüge der „eigenlogischen“ Perspektive vorgestellt, sondern die auch die „Evidenzproduktion“ und damit die Legitimationsstrategien dieses Forschungsprogramms kritisch unter die Lupe genommen werden. Hier lautet die harte Diagnose, dass im Eigenlogik-Konzept „der Forschungsgegenstand ‚Stadt‘ von gesellschaftstheoretisch hergestellten Zusammenhängen isoliert, ‚nach innen‘ homogenisiert und ohne Sozialgeschichte konzipiert wird“ (S. 30). Damit wird dieser Perspektive zugleich ein fundamentaler „Kulturalismus“ vorgeworfen: „Politische, ökonomische und soziale Faktoren werden offensichtlich nur dergestalt in die Betrachtung aufgenommen, dass sie als Ausdruck einer ‚kulturellen Eigenart‘ bzw. eines ‚Charakters‘ der jeweiligen Stadt erscheinen können.“ (S. 32) Kemper und Vogelpohl sehen in dieser Argumentationsfigur letztlich auch einen „ideelle[n] Reflex auf gegenwärtige Dezentralisierungs- und Selbstverantwortungskonzepte“ (S. 36) und legen nahe, dass hinter der Fokussierung auf städtische Eigenlogiken auch ein Impuls zu einer Entpolitisierung der Stadtpolitik sichtbar wird.

Im Rahmen dieser Grundsatzkritik argumentieren denn auch die meisten Beiträge des Bandes. Nikolai Roskamm erkennt in dem Motiv städtischer „Dichte“ eine homogenisierende Denkfigur, die helfen soll, „Stadt“ als soziologischen Gegenstand zu etablieren. Norbert Gestring problematisiert das Verhältnis von Raum und Handeln, das dem Eigenlogik-Ansatz zugrunde liegt. Er kommt zu dem Schluss, dass dieser Ansatz keinem klaren Handlungsbegriff folgt und auch nicht plausibel machen kann, inwiefern die Stadt als räumliche Einheit das Handeln von Menschen prägt. Diese Frage wird von dem Geographen Peter Dirksmeier weiter verfolgt, der in einer etwas überspannten Kritik Verbindungslinien zur Klassischen Geographie mit ihren raumdeterministischen Implikationen zieht. Der Eigenlogik-Ansatz „wiederholt das idiographische Denken der Klassischen Geographie und überträgt dies auf die aktuelle sozialwissenschaftliche Stadtforschung, nicht ohne dieselben Probleme in ihre Forschungsarchitektur zu übernehmen“ (S. 92). Ganz so einfach dürfte sich die „Eigenlogik der Städte“ dann doch nicht erledigen lassen – verglichen mit der Vorstellung einer naturräumlichen Prägung von Gesellschaft à la Ratzel gehen die Darmstädter Eigenlogiker ungleich differenzierter vor. Dirksmeier schließt seinen Beitrag mit einem Plädoyer für mehr Austausch zwischen den Disziplinen, um von „Fehlern und Erkenntnissen der andern stärker lernen“ zu können (S. 100).

In weiteren Beiträgen wird konstatiert, dass die VertreterInnen des Eigenlogik-Ansatzes ihre Erkenntnisse vor allem aus der Generalisierung bestimmter Teilaspekte von Stadtkultur gewinnen. So argumentiert Sirko Möge, dass durch die Konzentration vieler empirischer Untersuchungen auf bestimmte Raumausschnitte das Bild der Stadt und ihrer „Eigenlogik“ auf dominante Stadterzählungen zurückgeworfen wird. Daher bleiben „die Resultate der Eigenlogik-Forschung an einen limitierten Raum- und Milieubezug gebunden […], in dem besonders performative und spektakuläre Praxen der städtischen Raumaneignung untersucht werden“ (S. 228). Robert Lorenz zeigt am Beispiel von Görlitz, wie sehr offiziöse Stadtrepräsentation und die Stadtwahrnehmung der BewohnerInnen auseinanderklaffen können – von diesem Befund ausgehend, plädiert Lorenz eindringlich für eine empirische Fundierung der Stadtforschung, um nachvollziehen zu können, wie Stadt tatsächlich kontrovers ausgehandelt wird. Aus vornehmlich philosophischer Sicht plädiert auch Stefan Höhne für eine Anerkennung der „empirischen Mannigfaltigkeiten“ (S. 70), die eine Stadt ausmachen, und die er der „affirmativen Idee einer ganzen Stadt als Akteur“ entgegenhält (S. 66). Der Geograph Boris Michel schließlich behandelt den vor allem von Martina Löw betonten Gegensatz zwischen der in den 1970er-Jahren aufgekommenen „neuen“ Stadtsoziologie und der „Soziologie der Städte“, um zu zeigen, „dass dieser Ansatz eine problematische Ausblendung von Konflikten und Ungleichheiten forciert, die dem Anspruch einer Sensibilität für Differenz diametral entgegenläuft“ (S. 134). Damit stellt er die Frage nach dem Ort des Politischen „im Sinne von Handlungsfähigkeiten und Entscheidungen“ (S. 133) in der eigenlogischen Forschung – eine Frage, die auch von Derya Özkan mit Nachdruck aufgeworfen wird. Özkan kritisiert den Eigenlogik-Ansatz als selbstreferentiell und betont den affirmativen, den status quo betonenden Zug einer Stadtforschung, die auf die Statik eines sich selbst reproduzierenden Stadtcharakters ziele. Die Frage „Is another City possible?“ (S. 176) könne von diesen Prämissen aus nicht mehr gestellt werden.

In seiner instruktiven Lektüre eines vielzitierten Aufsatzes von Martyn Lee aus dem Jahr 1997 zeigt dann Thomas Bürk, inwiefern die deutsche Rezeption diesen aus dem Kontext der britischen Cultural Studies stammenden Beitrag entpolitisiert habe – laut Bürk symptomatisch für die hiesigen Kulturwissenschaften, die grosso modo Gefahr laufen, „das Soziale im Symbolischen zu (ver-)schlucken“ (Doris Bachmann-Medick, zitiert nach S. 153). Ganz nebenbei enthält Thomas Bürks Beitrag damit aber auch den wichtigen Hinweis darauf, dass die These vom „Habitus der Stadt“, die ein Modell für das Eigenlogik-Konzept darstellt, aus dem dezidiert kulturwissenschaftlichen Zusammenhang der Cultural Studies stammt – und eben nicht aus den Sozialwissenschaften, in deren Rahmen der vorliegende Band argumentiert. Von hier aus erklären sich einige der Missverständnisse, auf denen die scharf geführte Debatte um die Eigenlogik der Städte beruht. Denn die meisten AutorInnen des hier zu besprechenden Bandes lassen außer Acht, dass sich dieses Konzept in seiner Genealogie einem dezidiert kulturwissenschaftlichen oder doch zumindest kultursoziologischen Interesse an der Stadt verdankt. So greifen Martina Löw und Helmuth Berking nicht zuletzt auf Argumentationen Rolf Lindners zurück, der seit 1996 – parallel zu Martyn Lee – Ansätze zur Analyse eines „Habitus der Stadt“ entwickelt und dabei an Bourdieus Kultursoziologie angeschlossen hat. Lindner interessiert sich für die historische „longue durée“ kultureller Prägungen in spezifischen Städten – und damit für die von Bourdieu aufgeworfene Frage nach der „Konstanz der Dispositionen, des Geschmacks, der Präferenzen“, die sich im städtischen Imaginären niedergeschlagen haben.3 Bei Martina Löw ist aus diesem Forschungsprogramm eine „Soziologie der Städte“ geworden, deren Neubegründungsanspruch bei den VertreterInnen der klassischen Stadtsoziologie verständlicherweise auf wenig Verständnis stößt. Hartmut Häußermann hat dieses Problem in seinem klaren und klärenden Beitrag zum vorliegenden Sammelband treffend benannt: „Bei der Untersuchung von stadtspezifischen Traditionen, lokaler Mentalitäten und politischer Kulturen handelt es sich meiner Ansicht nach entweder um lokale Geschichtsschreibung, um Kulturforschung, Ethnologie oder um die Beschreibung von eher marginalen Aspekten der Stadtentwicklung. Und das soll nun der Hauptgegenstand einer neu konzipierten soziologischen Stadtforschung werden?“ (S. 170) Kurzum: Die genuin kulturwissenschaftliche Frage nach den Eigenschaften und Besonderheiten bestimmter Städte hat sehr wohl ihre Berechtigung, nur taugt sie nicht zur Etablierung einer alternativen Stadtsoziologie.

Mit der Tagungsorganisation und der Zusammenstellung des entsprechenden Tagungsbandes ist es Jan Kemper und Anne Vogelpohl gelungen, einen wichtigen Impuls für die weitere Diskussion über städtische „Eigenlogiken“ zu setzen. An einigen Beiträgen dieses Bandes wird man in den nächsten Jahren nicht vorbeisehen können, wenn man sich für die Weiterentwicklung dieses Ansatzes interessiert. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, dass – bei aller berechtigten Kritik – hinter den Konstruktionen der „Soziologie der Städte“ zuweilen auch das spezifische Erkenntnisinteresse kulturwissenschaftlicher Stadtforschung erkannt und akzeptiert worden wäre. Denn der Blick auf historische Prägungen des Ortes, seine narrative Textur und seine kulturellen Dispositionen kann – sofern simple Determinismen, Generalisierungen und Entpolitisierungen vermieden werden – durchaus eine erhellende Ergänzung zur strukturell und sozialräumlich argumentierenden Stadtsoziologie bilden. Wie beide Zugangsweisen zusammengedacht werden können, diese Frage stellt sicherlich eine Herausforderung für die Stadtforschung der kommenden Jahre dar.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu Jan Kemper/Anne Vogelpohl, Tagungsbericht Der ‚eigenlogische‘ Forschungsansatz in der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung: Rekonstruktion – Kritik – Alternativen. 26.11.2010-27.11.2010, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 13.12.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3450> (30.03.2012).
2 Martina Löw, Soziologie der Städte, Frankfurt am Main 2008, S. 19.
3 Bourdieu, zit. nach Rolf Lindner, Der Habitus der Stadt. Ein kulturgeographischer Versuch, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 147 (2003), 2, S. 46-53, hier S. 48.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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