Titel
1970s. A New Global History from Civil Rights to Economic Inequality


Autor(en)
Borstelmann, Thomas
Reihe
America in the World
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 401 S.
Preis
€ 24,20
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Schild, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Historiker/innen und Laien gleichermaßen assoziieren die Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts jeweils mit bestimmten großen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ereignissen oder Entwicklungen. So steht der Begriff der „Roaring Twenties“ in den USA für ein unbeschwertes Lebensgefühl, das mit der Weltwirtschaftskrise ein abruptes Ende fand. Die 1930er-Jahre waren die Zeit des New Deal, die 1960er-Jahre das liberale Jahrzehnt, die 1980er-Jahre waren eine konservative Phase, in der viele sozialpolitische Reformen der 1930er- und 1960er-Jahre wieder zurückgenommen wurden.

Zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren liegen die 1970er-Jahre, die in der Öffentlichkeit und in der Geschichtswissenschaft bisher eine überwiegend negative Einschätzung erfahren haben. Es dominieren Begriffe wie „Ölpreisschock“, „Watergate“, „Malaise“, „Stagflation“ sowie die Erinnerung an das unrühmliche Ende des Vietnamkrieges, die Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran und den Störfall im Kernkraftwerk „Three Mile Island“. In einem Doonsbury Cartoon wurden die 1970er-Jahre einmal als „kidney stone of a decade“ bezeichnet. Gegen dieses Bild eines Jahrzehnts von der Qualität eines Nierensteins schreibt der Verfasser an. Ob er damit einen Beitrag zum besseren Verständnis der 1970er-Jahre leisten und die Reputation dieses Jahrzehnts insgesamt verbessern kann, wird an dieser Stelle jedoch bezweifelt.

Für Borstelmann sind die 1970er-Jahre vornehmlich eine Zeit des Übergangs, in der sich in den USA neue Vorstellungen von Freiheit und Verantwortung etabliert haben, die bis heute andauern. Der Staat zog sich aus immer mehr Bereichen des öffentlichen Lebens zurück und überließ dem Markt die Regulierung. Gleichzeitig erfuhren zuvor benachteiligte Gruppen wie Homosexuelle zunehmende gesellschaftliche Anerkennung. Hinter all dem stehe ein Wandel in der Auffassung, was „öffentlich“ und was „privat“ sei, so der Verfasser. Ehemals zentrale öffentliche Angelegenheiten wie Besteuerung, Militärdienst, soziale Sicherung und Regulierung der Wirtschaft wurden zunehmend privatisiert. Mit der Abschaffung der Wehrpflicht nach dem Ende des Vietnamkrieges wurden Soldaten nicht länger durch staatliche Bestimmungen rekrutiert, sondern das Militär wurde Teil des Arbeitsmarktes. Gleichzeitig wurden andere Bereiche, die bisher strikt der Verantwortung des Einzelnen unterlagen, zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen. Dazu zählen nach Meinung des Autors Fragen der Religion und der Sexualmoral.

Das Buch geht in sechs Kapiteln unzähligen innen- und außenpolitischen Entwicklungen in den USA und in ausgewählten Staaten nach. Es geht um Wirtschaft, Kultur, Religion, Rauchen, Abtreibung, Umweltschutz, die Deregulierung des Luftverkehrs und vieles mehr. Die Analysen, die der Verfasser jeweils unterbreitet, bieten eine Fülle von Informationen und neuen Einsichten. Das Bild, das er dabei ausbreitet, ist so bunt, komplex und widersprüchlich wie die 1970er-Jahre selbst. So habe das Jahrzehnt gleichzeitig zu mehr Gleichheit und zu weniger Gleichheit geführt: „[G]reater formal equality and inclusiveness in American society since the 1970s did not eliminate racial prejudice or racial gaps in wealth and education.“ (S. 284)

Warum kam es in den 1970er-Jahren zum Rückzug des Staates aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen? Zum Fall der Deregulierung des Luftverkehrs schreibt Borstelmann, dass es sich nicht um eine konservative Verschwörung („right-wing plot“) gehandelt habe. Stattdessen hätten sich die Vorstellungen der Konservativen nach einer Öffnung der Märkte mit denen der Liberalen nach einer Stärkung der Interessen der Verbraucher gedeckt. Für andere Reformen der späten 1970er-Jahre wie „Proposition 13“ trifft dies nicht zu. Proposition 13, eine Begrenzung der Steuersätze auf Immobilien, deutet einen Bruch innerhalb der Gesellschaft zwischen den Reichen und dem Rest der Bevölkerung an.

Auch der New Deal der 1930er-Jahre hat zu Änderungen der amerikanischen Politik, Wirtschaft und Kultur geführt, für die die Weltwirtschaftskrise und Reformmaßnahmen Präsident Franklin D. Roosevelts ursächlich waren. In den 1980er-Jahren waren dies die konservativen Reformen Ronald Reagans, die mit der Unzufriedenheit der weißen Mittelschicht über die frühere vermeintlich zu umfassende Sozialgesetzgebung zu erklären sind. Einen solch zentralen Aspekt, der die vielfältigen Ereignisse der 1970er-Jahre im Innersten zusammenhält und erklärt, kann Borstelmann nicht identifizieren. Der Rückzug des Staates und die wachsende Bedeutung des Marktes waren Phänomene, denen andere Ereignisse zu Grunde lagen. Um diese zu erklären, wird man sich wohl auch weiterhin mit den traditionellen Erklärungen der 1970er-Jahre als eines Jahrzehnts der Fehlschläge befassen müssen. Waren die gesellschaftlichen Entwicklungen der 1970er-Jahre nicht eine bloße Funktion des Scheiterns von drei Präsidenten in den Jahren 1968 bis 1980, den Unruhen in den Innenstädten und der Niederlage in Vietnam?

Borstelmann nennt sein Buch im Untertitel „A New Global History“, obwohl sich das Buch fast nur mit Entwicklungen in den USA befasst. Einzig die Kapitel 4 und 5 stellen knappe vergleichende Betrachtungen zu Europa, Israel, China, der UdSSR und einigen weiteren Staaten an. Borstelmanns These ist, dass Amerikas wachsendes Vertrauen in die Kräfte des Marktes in den 1970er-Jahren von anderen Staaten übernommen und geteilt wurden. Staaten, die sich dem widersetzten, wie die UdSSR, büßten in diesen Jahren ihren Weltmachtstatus ein.

Der vielleicht interessanteste Aspekt des Buches betrifft das Verhältnis Jimmy Carters zu Ronald Reagan. An manchen Stellen erscheint es, dass der Verfasser Carter als Kulmination der Entwicklungen der 1970er-Jahre ansieht. Er lobt Carter als Anhänger der Vorstellung, dass Außenpolitik der Durchsetzung von Menschenrechten dienen soll. „Carter did make the issue [of human rights] central to the Executive branch’s approach to foreign relations for the first time.“ (S. 184) An anderer Stelle gewinnt man den Eindruck, dass erst mit dem Amtsantritt Reagans, der sich in vielen Bereichen bewusst von Carter abzugrenzen suchte, die Kriterien erfüllt waren (Einkommensteuersenkungen), die die 1970er-Jahre zu einer Phase des Übergangs vom Staat zum Markt gemacht haben.

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