Titel
Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte


Herausgeber
Rupnow, Dirk; Lipphardt, Veronika; Thiel, Jens; Wessely, Christina
Reihe
Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft 1897
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
466 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paul Ziche, Universiteit Utrecht

Dass eine Analyse von Wissenschaft immer auch über die Gefährdungsformen und relevanten Grenzziehungen, die explizit oder implizit in den Wissenschaftsbegriff eingehen, Aufschluss geben muss, ist seit längerem wissenschaftsphilosophisch und wissenschaftshistorisch akzeptiert. Dass hierin ein ausgesprochen sensibles Problemfeld eröffnet wird, ist eine jüngere Einsicht: Wenn das Setzen von Abgrenzungsstandards zur wissenschaftlichen Praxis selbst gehört, diese aber historischen Entwicklungen unterworfen ist, so verändern sich diese Grenzziehungen selbst, ohne dass eindeutig auszumachen wäre, ob und gegebenenfalls aus welcher Richtung unabhängige Standards in Demarkationsfragen gegeben werden könnten. Die Symmetrieforderung der Wissenschaftssoziologie – also die Forderung, „dass ‚wahre‘ und ‚falsche‘ Theorien theoretisch gleich, also symmetrisch zu behandeln seien“ (S. 8) – wird auch im vorliegenden Band wiederholt als theoretische Grundlage einer Analyse von Pseudowissenschaftlichkeit angeführt.

Gefährdungen von Wissenschaft können prima facie von sehr unterschiedlicher Art sein, und bereits der Titel dieses Sammelbandes zu „Pseudowissenschaft“ eröffnet ein weites Spektrum, indem er die „Pseudowissenschaft“ direkt neben die „Nichtwissenschaftlichkeit“ stellt. Wie in den Beiträgen des Bandes selbst deutlich wird, kann hiermit keine Identifikation abgestrebt sein. Nicht jede nicht-wissenschaftliche Aussage – aufgrund welcher Standards auch immer – ist zugleich auch pseudowissenschaftlich. Wesentlich für Pseudowissenschaft ist die Prätention des Wissenschaftlichen: Pseudowissenschaft geriert sich typischerweise immer wieder als Wissenschaft, jeweils aufgrund der herrschenden Standards von Wissenschaftlichkeit, und zwingt genau dadurch zu einer Veränderung oder genaueren Explikation dieser Standards. Den Rückverweis der Pseudowissenschaft auf die Wissenschaft benennt in aller Deutlichkeit Michal Hagner in seinem einleitenden Beitrag, allerdings nicht ohne den Kontrast und damit die Unterscheidbarkeit zwischen dieser pseudowissenschaftlichen Wissenschaftssuggestion und der echten Wissenschaft hervorzuheben: „Pseudowissenschaftler, so könnte man sagen, imitieren eine bestimmte trivialisierte Form der Epistemologie der Wissenschaften, nicht aber deren Praxis. Sie geben sich nicht mit der mühseligen Kleinarbeit der Forschung ab, bei der zahlreiche Rädchen ineinandergreifen müssen“ (S. 42). Die Rhetorik des Pseudowissenschaftlichkeitsvorwurf thematisiert auch der Beitrag von Ina Heumann über „Wissenschaftliche Phantasmagorien“.

Historisch liegen die Schwerpunkte der versammelten Beiträge eindeutig im 19. und 20. Jahrhundert, hier insbesondere bei der Medizin im Nationalsozialismus, und in Gegenwartsdebatten. Die terminologiegeschichtlichen Bemerkungen des Beitrags von Ute Frietsch weisen jedoch weit darüber hinaus und zeigen, dass der Vorwurf der Pseudowissenschaftlichkeit bereits in der frühen Neuzeit pejorativ angewendet werden konnte. Dem steht Michael Hagners Feststellung gegenüber, dass die erste „systematische“ Verwendung des Begriffs „pseudoscience“ bei T.H. Huxley, also in den weltanschaulich-wissenschaftlichen Debatten des 19. Jahrhunderts zu finden sei (S. 44).

In der Forschung zum Problemkreis der Pseudowissenschaft kanonisch gewordene Themen wie Astrologie oder Mesmerismus werden nur gestreift; dafür wird in Beiträgen über Fachgebiete, die prima facie zum Kreis der etablierten und der Pseudowissenschaftlichkeit unverdächtigen Gebiete gehören, jedenfalls implizit die Frage aufgeworfen, wie Übergangsphänomene zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft historiographisch und theoretisch zu fassen sind. Im Zentrum steht hier die moderne Physik. Geht es im Fall der Quantenmechanik (Christian Forstner) vornehmlich um das Feld der – in der Quantenmechanik zum integralen Bestandteil physikalischer Theoriebildung werdenden – Interpretation physikalischer Theorien, auf dem sich ein Pseudowissenschaftlichkeitsvorwurf direkt an ein etabliertes Wissenschaftsgebiet anschließen konnte, steht im Fall der Stringtheorie (Richard Dawid) der Wissenschaftscharakter einer aktuellen, die Grenze physikalischen Wissens mitbestimmenden Wissenschaft zur Diskussion. Allerdings: Die Stringtheorie liefere gerade „kein Beispiel für die Anwendung des Begriffs ‚Pseudowissenschaft‘“ (S. 395) und ermöglicht gerade deshalb einen Vergleich des Vorwurfs der Pseudowissenschaftlichkeit mit den Stabilisierungs- oder Destabilisierungsphänomenen, die innovative Theorien innerhalb oder am Rande bestens etablierter Wissenschaftsgebiete kennzeichnen. Im ganzen Band ist immer wieder eine Tendenz zu entdecken, davon auszugehen, dass doch recht klare Grenzen zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu ziehen sind. Philip Kitchers engagierte Gebrauchsanweisung „Darwins Herausforderer. Über Intelligent Design oder: Woran man Pseudowissenschaftler erkennt“ bietet hierfür ein Beispiel. Der Schlusskommentar von Mitchell Ash stellt diese Tendenz ausdrücklich kritisch zur Diskussion. Die Einleitung der Herausgeber selbst oszilliert zwischen einem Bekenntnis zur formenden Rolle von Demarkationsversuchen einerseits – in der Geschichte der Wissenschaften wird direkt „auch immer eine Geschichte des Kampfes gegen das Unwissenschaftliche“ (S. 7) gesehen –, und einer sehr viel offeneren Verhältnisbestimmung andererseits, in der „das Neben, Gegen oder Als-ob der Wissenschaften“ (S. 8) thematisiert wird. Aus letzterer Fragehaltung heraus soll dann „die konsequente Historisierung und Problematisierung dieser Kategorien und Demarkationsversuche“ (S. 9) erfolgen.

Wenn es zum Wesen von Pseudowissenschaft gehört, sich auf die Wissenschaft selbst zu berufen, so minimiert die Pseudowissenschaft selbst ihr gefährdendes Potential auf eine interessante Weise: Pseudowissenschaft tritt bemüht traditionell als Wissenschaft auf, mit dem Gestus einer Erweiterung des bestehenden Wissenschaftskonzepts. Gerade die Pseudowissenschaft hält am Wissenschaftsbegriff selbst fest und bedient sich wissenschaftsaffiner Praktiken. Die Ausgrenzung muss umgekehrt von einem sich damit abgrenzend profilierenden Wissenschaftsverständnis kommen. Ein Block von Texten zum 19. und frühen 20. Jahrhundert (Beiträge von Helmut Zander, Johanna Bohley, Robert Matthias Erdbeer, Heiko Stoff) exemplifizieren und diskutieren derartige Einbeziehungs- und Ausgrenzungsprozesse. Dem steht ein anderer Themenkomplex gegenüber, in dem auch die Frage der Gefährdung des Wissenschaftsverständnisses in anderer Weise zu stellen ist: Drei Beiträge widmen sich eingehend wissenschaftlichem und medizinischem Verhalten und vor allem Fehlverhalten im Dritten Reich (Veronika Lipphardt, Sabine Schleiermacher/Udo Schagen, Dirk Rupnow). Eine grundlegende Frage wird jedoch kaum gestellt: Geht es in beiden Themenkomplexen – neue, alternative, das bestehende Wissenschaftsspektrum gezielt erweiternde Projekte wie der Welteislehre (Wessely) oder des Spiritismus (Bohley) auf der einen, Rassenbiologie (Lipphardt) und NS-Medizin (Schleiermacher/Schlagen) auf der anderen Seite – wirklich um vergleichbare Formen von Nicht- oder Pseudowissenschaftlichkeit? Inwieweit hängen die Analyse epistemischen Fehlverhaltens und die Zurückweisung bestimmter Formen wissenschaftlicher Arbeit aufgrund von ethischen oder politischen Kategorien zusammen? Die Kategorie des Pseudowissenschaftlichen wird in den Reinigungs- und Selbstreinigungsprozessen des Wissenschaftssystems nach 1945, auch in den Blockabgrenzungen des Kalten Kriegs (Jens Thiel/Peter Th. Walter), immer wieder verwendet, aber in vielen Fällen losgekoppelt von der innerwissenschaftlichen Qualität der betrachteten Aktivitäten, wenn etwa der Sachverhalt politischer Instrumentalisierung bereits als hinreichendes Argument für Pseudowissenschaftlichkeit verwendet wird.

Im Nebeneinander der Beiträge stellt der Sammelband damit eine ganze Reihe wichtiger Fragen: Welche konzeptionell interessanten Gefährdungsformen von Wissenschaft gibt es eigentlich? Wie hängen epistemisches und ethisches Fehlverhalten zusammen, und wie affizieren diese Formen von Verhalten das Wissenschaftskonzept? Wie verhält sich das oft retrospektiv oder synchron abgrenzend gebrauchte Prädikat der Pseudowissenschaft zur notwendigen Ungesichertheit von Wissenschaft an den Grenzen des jeweils Erreichten? Wie ist die normale, zum Kernbestand des Wissenschaftskonzeptes gehörende Offenheit an diesen Grenzen in Beziehung zu setzen zum inkludierenden bzw. ausschließenden Gebrauch der Kategorie „Pseudowissenschaft“? An diesem Punkt ist der Band auffallend ambivalent: Die Ungesichertheit von Kenntniserweiterung wird immer wieder von derjenigen der Pseudowissenschaft unterschieden, einleitend wird jedoch auch ein konstruktives Potential von Pseudowissenschaft angedeutet (S. 11), das unter Umständen mit dieser Ungesichertheit in Verbindung gebracht werden kann.

Nicht alle dieser Fragen werden in gleicher Weise einer Beantwortung zugeführt. Aus ihnen ergeben sich aber zwei wichtige Einsichten, die zugleich Forschungsdesiderate formulieren: Das Phänomen der Pseudowissenschaftlichkeit fordert eine Typologie von Formen der Nichtwissenschaftlichkeit, und: gerade die Symmetrieforderung führt zu einer bemerkenswerten Asymmetrie. Es sind nämlich gerade die retrospektiv als etabliert erscheinenden Wissenschaften, in denen das gefährdende Potential der dann als pseudowissenschaftlich gekennzeichneten Theorieformen aufscheint; die etablierten Wissenschaften suchen nach Abgrenzungen und zeigen sich damit als unsicher hinsichtlich des Gewissheitscharakters von Wissenschaft, während Pseudowissenschaft ein überraschend ungebrochenes Wissenschaftsideal annimmt.